Das von den Freiburger Musikwissenschaftlern Christian Berger und Stefan Häussler vorgelegte Kompendium zur Musik des Mittelalters will einen Überblick über eine der grundlegenden musikalischen Epochen des europäischen Abendlandes geben und das notwendige Studienwissen forschungs- und quellenbasiert in kompakter und übersichtlicher Form vermitteln. Konkret fokussieren die Autoren auf die Zeit von 900 bis 1400, in der aus der Synthese von antiker Musiktheorie und frühchristlicher Vokaltradition ein neues geistliches und weltliches Musikrepertoire erwächst. Dieses erscheint erstmals in der Geschichte, sieht man von vereinzelten antiken Musiknotaten ab, in zahlreichen musikalischen Aufzeichnungen greifbar.

Als Hürde und zugleich Herausforderung für den Zugang zur mittelalterlichen Musik erweisen sich allerdings die äußerst komplexen und vielfältigen Notationsformen, die unserem heute geläufigen System nicht entsprechen und erhöhte Anforderungen an die Deutung wie auch musikalisch-praktische Umsetzung und Gestaltung stellen. Auch die kosmologisch-heilsgeschichtliche Ausrichtung der mittelalterlichen Musik setzt eine eingehende Beschäftigung mit den theoretischen Grundlagen voraus, die weit in die antike Philosophie und Mathematik zurückreichen.

Der Schwerpunkt des in zwölf Kapitel gegliederten Studienbuchs liegt auf der geistlichen Musik bis 1300 und spannt in den letzten zwei Kapiteln den Bogen hin zur weltlichen Vokalmusik des 14. Jahrhunderts. Geographisch konzentriert sich die Darstellung auf die Zentren der Musikpflege im westlichen Europa, im Speziellen Frankreich mit seinen Kathedralschulen von Metz, Laon, Chartres und Paris.

Jedes Kapitel enthält zu Beginn einen kommentierenden »Überblick« und eine Zeitleiste zu den wichtigsten musikalischen Entwicklungen und Neuerungen. Begriffe am Rand dienen der raschen Orientierung im Text. Hinzu kommen Definitionen musikalischer Termini (»Stichwort«) sowie Auszüge aus mittelalterlichen Quellen mit Übersetzung (»Quelle«). Zur Veranschaulichung dienen zahlreiche Notenbeispiele aus Originalhandschriften mit Transkriptionen in heutige Notenschrift. Am Schluss steht ein Fragenkatalog (»Wissens-Check«) zur Rekapitulation des Erlernten, der unterschiedlich detailliert gestaltet ist: in den Kapiteln 7–12 kurz und prägnant, in den Kapiteln 2–6 zuweilen sehr umfangreich. Kommentierte Literatur- und Quellenempfehlungen sowie am Schluss des Buches eine nach Quellen, Editionen und Literatur gegliederte Gesamtbibliographie nebst Register mit Personen- und Sachbegriffen erleichtern den Zugriff auf das Material.

Kapitel 1 führt zunächst in die theoretischen Grundlagen der mittelalterlichen Musik ein und formuliert Anliegen, Problemstellungen und Themen der musikwissenschaftlichen Forschung. Die universale Musikanschauung des Mittelalters wird insbesondere auf Boethius’ kosmologisch-neuplatonisches Konzept der »Musica mundana – Musica humana – Musica instrumentalis« zurückgeführt sowie auf das Quadrivium der antiken Septem artes liberales, das die Musik als Teilgebiet der Mathematik definiert. Es folgt eine Beschreibung der Notationsformen von der spätantiken Dasia-Notation über die adiastematischen und diastematischen Neumen des Frühmittelalters hin zum präziseren Liniennotensystem des 11. Jahrhunderts (c. 2).

Kapitel 3 behandelt die aus der klösterlichen Lebensform erwachsenen Gesangstraditionen des Mittelalters. Insbesondere stellen die Autoren die Genese und Entwicklung der melismatisch-melodischen Gestaltung heraus, die vom Paradigma einer rein syllabischen Vertonung des Textes abweicht und so erweiterte Möglichkeiten des musikalischen Ausdrucks eröffnete. Anschaulich wird dargelegt, wie antike Verskunst und frühchristliche Psalmentraditionen zu einer Einheit verschmelzen und neue, inspirierende Gestaltungs- und Ausdrucksformen hervorbringen, wie die nichtbiblischen Hymnen, die carmina (strophisches Lied mit christlichem Text), Tropen und Sequenzen.

In der Analyse des Melismas »Longe« aus dem Tractus »Deus deus meus« zeigt sich, wie verschiedene Versionen derselben Melodie (u. a. in St. Gallen, Stiftsbibliothek, Cod. 359; Laon, Stadtbibliothek, Cod. 239; Chartres, Stadtbibliothek 47) in moderne Umschrift übertragen werden können und welche interpretatorischen Spielräume sich daraus in der Umsetzung ergeben. Ein weiterer Abschnitt behandelt die Gesangstypen im Kontext der Heiligen Messe (Ordinarium und Proprium) sowie die Gesänge des Stundengebets (Horen), einschließlich regionaltypischer Choraltraditionen in Spanien, Süditalien (Benevent), Mailand, Ravenna, Gallien und den Britischen Inseln.

Kapitel 4 thematisiert Kulturräume, außereuropäische Kontaktzonen und daraus resultierende Formen der Mehrsprachigkeit im lateinisch geprägten christlichen Abendland sowie die Herausforderungen an liturgische Textübersetzungen aus dem Hebräischen, Aramäischen und Griechischen seit der Spätantike.

Kapitel 5 gibt einen vertieften Einblick in das mittelalterliche Tonsystem (modus, tonus), das auf dem antiken griechischen systema teleion beruht und durch Elemente wie Tonvorrat, Tonbezeichnung, Intervallabstände und Skalen bestimmt ist. Eingehend werden die mathematischen Grundlagen des Pythagoras, vermittelt durch Boethius' Schrift »De institutione musica« dargelegt, insbesondere die Proportionen der Intervalle. Weitere Schwerpunkte bilden das von Guido von Arezzo im 11. Jahrhundert entwickelte Hexachord-System, die Species-Lehre, in der die Hexachorde zur Bestimmung der mittelalterlichen Tonarten (modi) dienen, sowie die Bedeutung der Solmisationssilben für die gesangspraktische Gestaltung.

Kapitel 6 widmet sich der Theorie und Praxis des mehrstimmigen Singens, im Speziellen dem Vortrag des Chorals. Als Beispiel für das frühe Organum, die mehrstimmige Choralbearbeitung, dienen herausragende Zeugnisse aus dem Repertoire der Kathedralen von Winchester, Fleury und Chartres. Ein weiterer Fokus liegt auf dem neuen Organum um 1100, das hinsichtlich des Gesangsvortrags eine zunehmend dynamische Gestaltung der Stimmen in Gegenbewegung erkennen lässt, sowie auf dem aquitanischen Organum-Repertoire des 12. Jahrhunderts, das zunehmend frei miteinander kombinierbare, gleichberechtigte Stimmpartien aufweist.

Kapitel 7 erläutert die verschiedenen Gesangsbücher des Mittelalters für Messe und Stundengebet und deren Neuausgaben im 19. und 20. Jahrhundert. Kapitel 8 thematisiert die historische Rezeption des Gregorianischen Chorals, dessen Rekonstruktion bis heute, so die These, von Perspektiven und Forschungsprämissen des 19. Jahrhunderts geprägt ist. Hier stellen die Autoren beispielhaft die Erschließungs- und Rekonstruktionsmethoden der französischen Benediktiner von Solemnes heraus, die auf den Originalquellen sowie auf der umfangreichen, aber historisch-unkritischen »Editio Medicaea« von 1614/15 beruhen.

Von herausragender Bedeutung erweist sich das Repertoire polyphoner Musik des späten 12. und 13. Jahrhunderts aus der Kathedrale von Notre-Dame de Paris. Entlang des »Magnus liber organi« der Magister Leonin und Perotin führen die Kapitel 9 und 10 in die Analyse zwei-, drei und vierstimmiger Kompositionen ein, die in Stimmführung, Melodieverlauf, Rhythmus, Tonraum und Notationsweise stilbildend wirken. Vorbildlich in Kapitel 9 sind die Interpretationen der beiden wichtigsten Gattungen Organum (mehrstimmige Komposition über einen liturgischen Textabschnitt) und Conductus (Geleitgesang zu einer liturgischen Handlung). Aufschlussreich ist insbesondere das Beispiel des zweistimmigen Organums »Haec dies« aus dem Graduale Triplex (zwischen 1240 und 1269), anhand dessen der melodische Verlauf des Melismas und das zugrundeliegende modale Muster hervortreten. Auch für den zwei- bzw. dreistimmigen Conductus liefert das Kapitel zwei detailliert und sachkundig analysierte Beispiele (»Sol sub nube latuit« auf einen strophischen Text Walther de Châtillons; »Veri solis« aus Codex Florenz, Bibl. Med. Laur. Pluteo 29.1). Kapitel 10 zeichnet dann den Weg vom Choral zur Motette anhand verschiedener zwei- und dreistimmiger Fassungen des Alleluja »Pascha nostrum« nach. Deutlich wird, dass sich bestimmte Stücke des Choralrepertoires aufgrund ihres charakteristischen Modus sowie spezifischen Klangraums als Ausgangsmaterial für mehrstimmige Kompositionen besonders eigneten. Die Ausprägung der Gattung Motette scheint dabei im Hinblick auf den Choral nicht durchweg linear-chronologisch, sondern streckenweise parallel verlaufen zu sein.

Kapitel 11 behandelt die isorhythmische Motette nach dem Vorbild Philippe de Vitrys, die im 14. Jahrhundert den innovativen Stil der Ars nova prägt. Kompositionstechnische Grundlage ist die neue Contrapunctus- und Klausellehre, die über die Mittel der Klangschrittlehre des 13. Jh. hinausweist, etwa im Gebrauch von Spannungsklängen und perfekten Schlussbildungen. Die rhythmische Differenzierung führt zu Neuerungen in der Notation, vor allem in der Einführung kleinerer Notenwerte. Übergeordnetes Ziel ist die sinnbildliche Verdeutlichung der Textaussage.

Kapitel 12 stellt abschließend die französische Chanson vor, die im 14. Jahrhundert durch Guillaume de Machaut ihre wesentliche Ausgestaltung erfährt. Äußerst übersichtlich und klar beschrieben sind die drei wesentlichen Gattungen des weltlichen Liedes in Refrainform, die sog. formes fixes, Ballade, Rondeau und Virelai. Anhand der ausgewählten Beispiele, dem Virelai »Aymi! dame de valour« sowie der Ballade »Esperance« von Guillaume Machaut, lassen sich Aufzeichnungsformen, Modus- und Hexachordlehre plausibel nachvollziehen.

Bergers und Häusslers Kompendium bietet ein wissenschaftlich fundiertes, auf eigenen Forschungen beruhendes Arbeitsbuch, das dem Leser auf der Basis reichhaltigen Materials eine komplexe und vielschichtige Epoche der abendländischen Musik zugänglich macht. Als besonders hilfreich für das Selbststudium dürfte sich der interpretatorische Zugriff auf die Quellen, die Editionen und die ausführlich kommentierte Forschungsliteratur erweisen. Die Diskussion konträrer Forschungsfragen sowie der Bezug zur Aufführungspraxis erweitern den Blick hin zu einem offen-dynamischen Verständnis von Musik in ihren vielfältigen kulturellen Zusammenhängen.

Einige Unklarheiten fallen in der Darstellung auf. Der Begriff »Mittelalter« ist in Kapitel 1 von der historischen Epocheneinteilung her aufgerollt (313/476–1492/1517). Die musikwissenschaftliche Periodisierung mit der stilistischen Abgrenzung zur Musik des 15. Jahrhunderts (Begriff »Renaissancemusik«) erschließt sich aus dem aufgezeigten Kontext allerdings nicht, und so leuchtet nicht auf den ersten Blick ein, warum das Buch mit der Zäsur 1400 endet. Einzelne Abschnitte weisen in ihrer Komplexität über das Grundwissen hinaus und verlangen bereits Vorkenntnisse hinsichtlich des musikalischen Verständnisses, sodass sich die Frage nach der engeren Zielgruppe stellt. So vermisst man z. B. in Kapitel 2 eine tabellarische Gegenüberstellung der wichtigsten Notationsformen mit Notenbeispielen, welche die wesentlichen Unterschiede und Entwicklungsstränge von der Spätantike zum Mittelalter anschaulich verdeutlicht.

Wünschenswert wären überdies präzise Erläuterungen zu einigen zentralen musikalischen Sachverhalten gewesen, etwa zum Terminus »Gregorianischer Choral/Gesang«, der unvermittelt in Kapitel 5 auftaucht, als Frage aber bereits in Kapitel 3 (S. 55) kontextualisiert wird, oder zur Bedeutung des »Graduale Romanum« im Zusammenhang mit der Einführung der römischen Liturgie (Kap. 3). In Kapitel 10 (»Choral-Organum-Motette«) fehlt im Vergleich zum üblichen Aufbau der einführende Überblick, zumal entsprechend der Überschrift bereits in diesem Abschnitt eine Definition der Gattung »Motette« erfolgen sollte. Ein Gesamthandschriftenverzeichnis sowie ein Glossar hätten den Nachschlage- und Überblickscharakter noch unterstreichen können.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Christian Berger, Stefan Häussler, Die Musik des Mittelalters. Musikgeschichte, Darmstadt (Wissenschaftliche Buchgesellschaft) 2019, 159 S., 85 Abb. (Musikwissen kompakt), ISBN 978-3-534-27096-5, EUR 20,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66314