Das 800-Jahr-Jubiläum des IV. Laterankonzils bewirkte eine stattliche Zahl von Tagungen und daraus resultierender Publikationen, die sich wegen der begrenzten Zahl der Fachleute zum Thema manchmal überschnitten1. Der vorliegende Sammelband, Ergebnis einer in Erlangen im Juli 2015 veranstalteten Tagung, fragt implizit nach dem Verhältnis zwischen Papst und Konzil, schließt aber die breite Wirkung in den verschiedensten Bereichen wie Kunst und Literatur ein. Es sollte also nicht nur das Konzil im engeren Sinn, sondern vor allem den breiten Kontext des Ereignisses würdigen. In der Einleitung (S. 7–25) fassen die beiden Herausgeber und die Herausgeberin problemorientiert den gesicherten Erkenntnisstand zu dem im November 2015 abgehaltenen kirchlichen Großereignis zusammen und rechtfertigen den Blick über die Grenzen zu Nachbardisziplinen wie der Literatur- und der Kunstwissenschaft. Im Folgenden seien die Beiträge in gebotener Kürze zusammengefasst: Christoph H. F. Meyer, »Das Vierte Laterankonzil als Einschnitt der kirchlichen Rechtsgeschichte« (S. 29–92), der nicht nur umfangmäßig herausragende Beitrag, unterstreicht die fundamentale Bedeutung der Kanones für die weitere Entwicklung des kanonischen Rechts und für die Gesetzgebungskompetenz des Papstes. In vier Abschnitten wird die rechtshistorische Bedeutung des Lateranense ausgeleuchtet: seine historische Bedeutung aus der Sicht der kirchlichen Verfassungs- und Rechtsgeschichte (überragend in quantitativer und qualitativer Hinsicht).
- Innocenz III. und sein Verhältnis zum Kirchenrecht: ein mutiger Erneuerer, der seinen theologischen Bildungshintergrund virtuos einsetzte.
- Die Konstitutionen des Konzils: Für ihre Entstehung ist der Informationsfluss von der Peripherie ins Zentrum und die Redaktionsarbeit an der Kurie vor dem Zusammentreten der Konzilsväter entscheidend. Maßgeblich ist der Wille des Papstes.
- Bekanntmachung der Konstitutionen und Ausgreifen des Kirchenrechts: Die Durchsetzung der Normen zog sich z. T. sehr lange hin; in den Konstitutionen ist eine erhebliche Sorge des Papstes um die Kenntnis seiner Vorschriften zu erkennen. Deren Grundmotiv ist neben dem Streben nach Vereinheitlichung und Zentralisierung der konstante Bezug zur salus animarum eines jeden Christen.
Jochen Johrendt, »Innocenz III. und das IV. Laterankonzil. Predigt, verweigerte Aussprache und fiktiver Dialog« (S. 93–106), analysiert ausgreifend die Eröffnungspredigt des Papstes, die ihn als alter Christus stilisiert, und zeigt auf, dass die Konzilsväter sehr viel weniger als Mitbestimmende denn als Zustimmende wirkten. Der Bericht des Gießener Anonymus unterstreicht, dass Innocenz III. bei einzelnen Themen – wie dem deutschen Thronstreit – die Aussprache verweigerte. Diese Haltung wird in einem fiktiven Dialog zwischen dem Papst und Roma, in einer vermutlich von Heinrich von Avranches am Hof Ottos IV. verfassten Disputatio überliefert, noch verdeutlicht.
Jörg Oberste, »Die Pastoralbeschlüsse des IV. Lateranums und die europäische Ketzerfrage« (S. 107–122), weist auf die zentrale und in der Forschung ausführlich erörterte Rolle der Ketzerbekämpfung hin, die zentraler Bestandteil der ersten drei dogmatischen Kanones ist. Aber auch die mehr seelsorglich orientierten Kanones wie die Verpflichtung zu Beichte und Kommunion, wie die Ausbildung der Priester und die Verbesserung der Predigt zielten auf die Festigung des Glaubens und die Abwehr der Häresie, wobei Innocenz III. hier fest in der Tradition der Pariser Pastoraltheologie verankert ist.
Matthias Maser, »Dissolve colligationes impietatis – Papst Innozenz III. und die Anfänge seiner Politik des negotium crucis auf der Iberischen Halbinsel (1198–1204)« (S. 123–149), fragt nach dem Verhältnis des Papstes zur Reconquista, wobei neben der militärischen Seite auch die spirituelle Dimension dieses Kreuzzugs thematisiert wird. Um zu einem Erfolg zu gelangen, bemühte sich Innocenz III. – auch in pastoraler Absicht – um eine Befriedung der zerstrittenen Monarchen und eine Wiederherstellung geordneter Eheverhältnisse zwischen Alfons IX. von León und Berenguela von Kastilien. Damit zeichnet sich die enge Verbindung zwischen Kreuzzug und Reform ab, die zu den zentralen Leitgedanken des IV. Lateranum gehörte.
Thomas Noll, »Das Apsismosaik von Innozenz III. in Alt St. Peter. Zur Selbstdarstellung des Papsttums im frühen dreizehnten Jahrhundert« (S. 153–192), interpretiert das nur in Abbildungen der frühen Neuzeit erschließbare Kunstwerk als Neuformulierung seines Machtanspruches. Der intensive Vergleich mit den Predigten zeigt ein deutliches Bild der intendierten programmatischen Aussage, nämlich die Zentralität Roms aufgrund des apostolischen Erbes von Petrus und Paulus zu behaupten. Dem Papst, der als Bräutigam der römischen Kirche dargestellt wird, kommt dabei eine herausragende Bedeutung als Stellvertreter Christi und als Garant der kirchlichen und weltlichen Macht zu.
Bruno Reudenbach, Jochen Hermann Vennebusch, »Zeigen und Beweisen. Beobachtungen zur Inszenierung von Evidenz in der Kunst des dreizehnten Jahrhunderts« (S. 205–214), führen wie auch die folgenden sprach- und literaturwissenschaftlichen Beiträge vom IV. Lateranum weg und beschäftigen sich – bisweilen am Rande des Verständlichen – mit neuen Sehkonzeptionen, die sich vor dem Hintergrund des »Medialisierungsschubs« des Konzils und der sich wandelnden »ästhetischen Verfahren« greifen ließen. Sie wollen dies am Triumphkreuz des Halberstädter Doms belegen, das zur Zeit des Konzils entstanden war. Die »unterschiedliche Medien kombinierende Heilsinszenierung« (S. 214) sei mit der in Kanon 1 formulierten Transsubstantiationslehre in Beziehung zu setzen.
Susanne Friede, »Die ›Geburt der Prosa‹. Überlegungen zur Entstehung französischer Texte in Prosa (1202–1215)« (S. 217–236), verbindet diese mit der ebenfalls in Prosa verfassten Textgattung der Predigt und setzt sich mit der Frage auseinander, welche Rolle einzelne Konzilskanones dabei spielten.
Tobias Bulang, »Kontext und Intertext – Inszenierte Ordale in mittelhochdeutschen Dichtungen« (S. 237–253), verbindet die Auseinandersetzung mit dem literarischen Motiv des Gottesurteils mit der grundlegenden Frage nach Möglichkeiten und Grenzen der Beeinflussung einer gelehrten theologischen oder kanonistischen Auseinandersetzung durch die Dichtung und in der Dichtung. Als Beispiel dient ihm das Gottesurteil der Isolde in Gottfrieds von Straßburg »Tristan«. Dieser Beitrag zeigt m. E. die Probleme des Verstehens mediävistischer Literaturwissenschaft für mediävistisch orientierte Historikerinnen und Historiker auf. »In einem zweiten Schritt betrachte ich die intertextuelle Episodenreihe von Gottesberufungen und metaphorischen Liebessakralisierungen im Tristan. Letztere stellt eine Form literarischer Reflexion der Liebeskonzeption dar und die den Gottesbezug wiederholenden Passagen sind auf Steigerung ebenso angelegt wie die intertextuellen Rückgriffe auf Überbietung« (S. 243). Diese und so manch andere Passage dieses Aufsatzes hat den Rezensenten überfordert.
Andreas Hammer, »Spuren des Konzils in der geistlichen Literatur: Das Mirakel vom Judenknaben und die Gründungslegenden der Neuen Orden« (S. 255–285). In der deutschsprachigen hagiographischen Literatur lassen sich bei der Darstellung von eucharistischen Wundern Spuren der Transsubstantiationslehre des IV. Lateranum ausmachen. Auch in der volkssprachlichen Verarbeitung der Gründungsgeschichten des Minoriten- und Predigerordens nimmt Innocenz III. einen prominenten Platz ein. Mit dem Konzil hat dies freilich nur im weitesten Sinn zu tun.
Christiane Witthöft, »Bekenntnis, Beichte und Selbstbezichtigung. Kanon 21 des IV. Laterankonzils und die mittelhochdeutsche Novellistik« (S. 287–315). Die zu Beginn des 13. Jahrhunderts entstehende Gattungstradition der mittelhochdeutschen Novellistik beschäftigte sich intensiv mit der Ohrenbeichte und parodierte diese manchmal im Hinblick auf ihre Schwächen bei der Findung der sprachlich formulierten Schuld, was Manipulationen offen stand. Unter der schwankhaften Oberfläche werden prinzipielle Fragen wie das Verhältnis von Handlung und ihrer Umsetzung in Sprache erörtert.
Für das Register ist man dankbar. Die Stichprobe der Seite 243 zeigt freilich, dass der Bearbeiter hier ein Blackout hatte, denn es fehlen alle Orts- und Personennamen. Auch das Auslassen des Lemma »Innocenz III.« ist erklärungsbedürftig. Man hätte hier viele Unterbegriffe einsetzen können.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Maleczek, Rezension von/compte rendu de: Michele C. Ferrari, Klaus Herbers, Christiane Witthöft (Hg.), unter Mitarbeit von Harriet Ziegler und Steve Riedl, Europa 1215. Politik, Kultur und Literatur zur Zeit des IV. Laterankonzils, Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2018, 319 S., 20 s/w, 10 farb. Abb. (Beihefte zum Archiv für Kulturgeschichte, 79), ISBN 978-3-412-50381-9, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66325