Die in der Geschichtswissenschaft schon seit Längerem übliche multidisziplinäre Interpretation von Quellen hat die zahlreichen hagiografischen Schriften des Mittelalters davor bewahrt, in der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Das Gleiche gilt für die als »Selbstzeugnisse« oder als pro domo-Überlieferung bezeichneten Biografien, unter denen die Abtsviten monastischer Provenienz hervorstechen. Wenn deshalb mit dem vorliegenden Band die Lebensbeschreibungen der bedeutendsten Äbte des Klosters Cluny in deutscher Sprache zugänglich gemacht werden, so könnten damit auch einer intensiveren Erforschung der Reformgeschichte des Hochmittelalters neue Wege geöffnet werden, denn nicht nur bei Studierenden dürfte — bei ehrlicher Betrachtung — ein Mangel an vertieften Lateinkenntnissen zu beklagen sein. Die historiografisch wie auch literarisch interessanten Texte der Heiligenviten verlieren auf Deutsch mit ihren Berichten über charismatische Äbte, über Mirakel und Visionen etwas von ihrer Fremdheit.

Theodor Klüppel, der Übersetzer und Herausgeber dieses Bandes, ist durch seine Untersuchungen zur hagiografischen Überlieferung des Bodenseeraums bekannt geworden. Mit der Konzentration auf die Lebensbeschreibungen der cluniacensischen Äbte Odo (927–942), Maiolus (954–994), Odilo (994–1049), Hugo (1049–1109) und Petrus Venerabilis (1109–1122) greift der Herausgeber auf die schon in der cluniacensischen Selbstdarstellung übliche Auswahl der als heilig betrachteten Gründerfiguren (prima fundamenta iacere) der Abtei zurück. Noch in der »Bibliotheca Cluniacensis« von 1614, der ersten gedruckten Sammlung wichtiger cluniacensischer Quellen des Mittelalters, zeigt das Frontispiz neben den Patronen Petrus und Paulus diese fünf genannten Äbte.

Jeder dieser Äbte wurde in der Historiografie mit mehreren Viten geehrt. Für die Übersetzung ausgewählt wurde immer die erste, noch zeitnahe Überlieferung. Textgrundlage bilden die jeweils neuesten Editionen, aus denen auch der Großteil der Kommentare übernommen wurde. Es handelt sich um die folgenden Viten:

- Johannes Italus: Vita S. Odonis (BHL 6292–6297) (Text nach: Migne, PL 133, Sp. 43–86);

- Syrus: Vita S. Maioli (BHL 5179) (Text nach: Iogna-Prat, Agni immaculati, 1988, S. 163–285);

- Iotsaldus: Vita S. Odilonis (BHL 6281) (Text nach: Staub, Iotsald, Vita des Abtes Odilo [MGH SS rer. Germ., 68] 1999);

- Gilo: Vita S. Hugonis (BHL 4007) (Text nach: Cowdrey, Memorials of Abbot Hugh, in: Studi Gregoriani 11 [1978], S. 45–109);

- Rudolf von Cluny: Vita domni Petri Cluniacensis (BHL 6787) (Text nach: Migne PL 189, Sp. 15–28).

Für Maiolus und Odilo sind die Texte jeweils, entsprechend der lateinischen Vorlage, zu einem ganzen hagiografischen Dossier erweitert.

Einleitend werden die Auswahl der Viten und ihre Bedeutung für die cluniacensische Geschichtsschreibung erläutert (S. VII–XXIII). Die Hervorhebung monastischer Ideale, der ständige Bezug auf die Benediktsregel und eine Bevorzugung für Wunder und Visionen bei nur seltener Schilderung »großer« historischer Ereignisse charakterisieren die in erster Linie als hagiografisches Zeugnis konzipierten Texte.

Jede Vita wird ihrerseits mit einer kurzen Einleitung vorgestellt. Der deutsche Text ist leicht und flüssig lesbar. Das in der Einleitung geäußerte Ziel, »möglichst nah am lateinischen Text zu bleiben und gleichermaßen dem heutigen Sprachempfinden gerecht zu werden« (S. XVIII), ist erreicht. In einzelnen Passagen versucht die Übersetzung durchaus aber auch, die oft würdevolle Diktion der Quellen abzubilden. Anmerkungen aus den lateinischen Editionen werden selektiv übernommen, eigene hinzugefügt, vor allem bei Bibelzitaten im Text; aber auch komplexe Zusammenhänge werden teilweise so erläutert.

Insgesamt erscheint dieses Angebot uneinheitlich, durchgehende Interpretationshilfen oder Erläuterungen werden nicht geboten — aber das ist auch nicht das vorrangige Ziel einer Übersetzung. Zum Teil sind die Anmerkungen überprüft und gegebenenfalls korrigiert oder präzisiert worden; z. B.: S. 72, Anm. 123: Iac. 2, 17, statt Iac. XX, 17; allerdings blieben auch Fehler erhalten: S. 166, beim Hieronymus-Zitat in Anm. 202 muss es Sp. 33 (statt, wie fälschlich übernommen, Sp. 23) heißen.

Die ausführlichen Register (Namen und Orte, S. 373–385) weisen nicht nur Belege aus den Viten nach, sondern berücksichtigen auch die Kommentare und Einleitungen. Kleinere Fehler und Ungenauigkeiten fallen nicht ins Gewicht: Die Titel im Inhaltsverzeichnis stimmen nicht mit den Kapitelüberschriften im Band überein. Der »Großprior Vivius« (S. 90) heißt richtig Vivianus. Hilfsmittel sind nicht immer ausführlich nachgewiesen, z. B. Schaller-Könsgen, Initia carminum (S. 69, 187).

Trotz der wenigen Vorbehalte ist der Band ohne Einschränkung zu empfehlen als bequemer Zugang zu Texten, die monastische Ideale und Vorstellungen von Heiligkeit im Umkreis der cluniacensischen Reform abbilden. Die Wundergeschichten und Visionsberichte eröffnen zusätzlich im Sinne einer mittelalterlichen Alltagsgeschichte den Blick auf volkskundliche sowie kultur- und mentalitätsgeschichtliche Aspekte. Erste Hinweise für weitergehende Interpretationen finden sich in den Anmerkungen, die zitierte Literatur bietet ein knappes, aber hinreichendes Grundgerüst für weitere Studien.

Leider wird der exorbitant hohe Preis des Buches nicht zu einer (wünschenswerten) Verbreitung beitragen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Franz Neiske, Rezension von/compte rendu de: Die Geschichte von Cluny in den fünf großen Abtbiographien. Übersetzt und mit einer Einleitung versehen von Theodor Klüppel, Stuttgart (Hiersemann) 2018, XXII–385 S. (Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, 15), ISBN 978-3-7772-1819-9, EUR 224,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66338