Die vorliegende Darstellung ist die überarbeitete Fassung einer im März 2013 an der Universität Lumière Lyon II bei Nicole Bériou präsentierten Dissertation. Nach einem Überblick über die Geschichte und Konservierung der archivalischen Quellen der provenzalischen Regularkanonikerabtei und ihrer Priorate im Rhône-Raum geht der Autor in einem ersten Teil auf die Gründung der Abtei 1039 in Avignon ein (S. 41–81). Er diskutiert ihren Einfluss auf andere Regularkanonikergemeinschaften wie Marbach und Aureil sowie auf verschiedene Kathedralkapitel wie Maguelonne oder Albi.
Ausführlich legt er die Bedeutung der Schriften des hl. Augustinus – von seinen Predigten über das praeceptum bis zur ihm zugeschriebenen Consensoria monachorum – für die Ausbildung der Sanrufianer Spiritualität dar (S. 124–151) – bevor er auf die verschiedenen auf uns gekommenen Versionen der Consuetudines eingeht: von den frühen Texten wie im Parisinus 1877, in Lund, Marbach, Oulx und Sant Joan de les Abadesses (es fehlt der Text aus Estany), über Lietberts Liber Ordinis (BnF ms. 1233, Coimbra, ms. 74), zu den nach Mitte des 12. Jahrhunderts erlassenen Statuten und der Anfang des 13. Jahrhunderts in Coimbra entstandenen Gemma coronae claustralium et speculum prelatorum Ordinis Sancti Rufi (S. 151–169). Ein letztes Kapitel dieses ersten Teils widmet Y. Veyrenche der inneren und äußeren Struktur der sich ausbildenden Kongregation, von den Äbten über die Prioren bis zu den Kanonikern, Konversen (die allerdings nur in den von den Zisterziensern beeinflussten Texten in Coimbra erwähnt werden) und Familiaren (S. 179–230).
Im zweiten Teil steht nach einem Überblick über die kulturelle Leistung von Saint-Ruf – von den Bibliotheken in Tortosa und Coimbra bis zu den philosophischen Schriften des Poretaners Ademar von Saint-Ruf – (S. 234–257) die Einbindung der Abtei und ihrer Priorate in die Gesellschaft im Südosten und Süden Frankreichs im Mittelpunkt. Ausgehend von der von Bischof Odo von Valence 1158 geförderten Übersiedlung nach Valence und einer Beschreibung des neuen Sitzes der Abtei auf der Insel der Épervière vor Valence (S. 297–316) untersucht Y. Veyrenche im Folgenden die Standorte der Sanrufianer Priorate in den Diözesen des Rhônetals: von Vienne und Die, wo sie zahlreich vertreten waren, über Lyon, Belley und Viviers bis Grenoble, wo sie mit der Konkurrenz kleinerer Regularkanonikergemeinschaften wie Saint-Jeoire oder Saint-Martin de Miseré zu tun hatten, die der Autor als »micro-congregations« bezeichnet (S. 344–368). Denn nach der Übersiedlung von Avignon nach Valence war Saint-Ruf vor allem den Grafen von Albon verbunden, die einzelnen Priorate aber verdankten ihre wirtschaftlichen Grundlagen primär Schenkungen des niederen Adels oder des Bürgertums vor Ort. Dabei unterscheidet Y. Veyrenche zwischen Prioraten in ländlichen Gebieten, wie z. B. Eyguières und La Boisse, und solchen im städtischen Kontext, wie z. B. Notre-Dame de la Platière in Lyon. Die Zufälle der Überlieferung, durch die jeweils ein Chartular aus dem Spätmittelalter bzw. der frühen Neuzeit erhalten blieb, erlauben es, die Verhältnisse in Eyguières und Bonnevaux genauer zu untersuchen.
Der dritte Teil umfasst den Zeitraum zwischen 1200 und 1362, dem Beginn des Pontifikats Urbans V., eine Zeit, die nach der Übersiedlung des Papsttums nach Avignon zu häufigeren Kontakten mit der Kurie führte, zur Übertragung einiger bedeutender Priorate wie Aimargues und Bourg Saint-Andéol an Kardinäle zur Kommende und schließlich dem Anschluss der savoyardischen Abtei Entremont. Einzelne Sanrufianer Kanoniker erhielten Pfründen außerhalb der Kongregation, aber meistens in regulierten Kathedralkapiteln oder Regularstiften, die zur gleichen Observanz gehörten. Auf der Grundlage der Papstregister, vor allem der Register Johannes’ XXIII., untersucht Y. Veyrenche, inwieweit der Papst bei der Kollation von Pfründen innerhalb des Ordens intervenierte und wie die Äbte von Saint-Ruf zu Entscheidungen in päpstlichem Auftrag herangezogen wurden.
Im 13. Jahrhundert kam es zu einer Emanzipation des Konvents gegenüber dem Abt. Der Konvent verfügte nun über ein eigenes Siegel, und seine Amtsträger waren mit eigenen Einkünften ausgestattet. Eine zentrale Rolle, besonders für die Beziehungen zwischen der Abtei und den einzelnen Prioraten, kam nun dem erst seit dem 13. Jahrhundert regelmäßig zusammentretenden Generalkapitel zu. Die Wirtschaft gründete vor allem auf dem Erwerb von Renten, der Verpachtung von Besitzungen und dem Erwerb verschiedener Rechte innerhalb der dem Orden angeschlossenen Pfarreien (S. 560–614). Eine Selbstbewirtschaftung fand kaum noch statt, jedoch ist der Unterhalt großer Viehherden belegt, einhergehend mit der Garantie von Weiderechten in der Ebene bei Valence, z. B. durch die Herren von Crussol.
Besonderes Interesse gebührt den im Anhang veröffentlichen Dokumenten, zum einem den Consuetudines des 13. Jahrhunderts, die anlässlich des Zusammentretens des Generalkapitels zu verlesen waren und die in einer Abschrift von Marcel Eusebi, dem Archivar der Abtei im 18. Jahrhundert, auf uns gekommen sind (S. 681–721), zum anderen der Edition einiger Urkunden der Abtei in Valence (1184–1243), die durch Regesten der dort erhaltenen oder erwähnten Privaturkunden bis zum Ende des behandelten Zeitraums (1365) ergänzt werden (S. 723–806), ebenso wie durch Regesten des wichtigen Priorats Notre-Dame de la Platière in Lyon (S. 807–857). Dabei lässt der Autor bewusst die Papsturkunden und Urkunden weltlicher Fürsten aus, wenn diese nicht die Abtei selbst, sondern die Kongregation betreffen. Da entsprechende Regesten für die Kongregation fehlen, sei in diesem Zusammenhang auf das erst nach Drucklegung des vorliegenden Bandes erschienene Papstregestenwerk für die Diözese Valence verwiesen1.
Den Abschluss bildet die Auflistung von 329 Namen – einschließlich der Namen von zehn Äbten – (S. 876–942), mit der der Autor prosopografische Elemente zu Kanonikern der Abtei im Zeitraum zwischen 1250 und 1362 zusammenträgt, eine Liste, die im dritten Teil systematisch ausgewertet wird, um zum einen, soweit möglich, die geografische und soziale Herkunft der Sanrufianer Kanoniker aufzuzeigen, zum anderen ihre Einbindung in Klientelsysteme, wie z. B. das des Bischofs von Die-Valence, Amadeus von Roussillon.
Sehr positiv zu vermerken sind die Karten und Listen, die dem Buch beigegeben sind und die Aussagen des Autors illustrieren und nachvollziehbar machen sollen, so vor allem auch die Liste aller Priorate, Pfarrkirchen und Kapellen (S. 858–870), die zur Kongregation von Saint-Ruf im Südosten Frankreichs, dem hier untersuchten Raum, zählten.
Anzumerken sind einige Flüchtigkeitsfehler: Reg, 6 (S. 744f.) wird im Codex diplomaticus S. Rufi Nr. 50 nicht ediert, sondern nur in Nr. 51 erwähnt, ebenso wie in Regeste dauphinois I, Nr. 4677, nicht wie angegeben in Nr. 4549. Regest 69, S. 778, sollte der Name des Abtes Artaud und nicht Arbert sein. Regest 2, S. 808, fehlt die Angabe RD 2530, Regest 3, S. 809, RD 3599. Bei der Liste der wichtigsten Amtsträger der Abtei (S. 739) fehlen die Kämmerer, deren erster Gerald 1178 erwähnt wurde. Zu Angelic Grimoard, dem Bruder Urbans V. wäre die Studien von Ludwig Vones, Urban V. (1362-1370), Kirchenreform zwischen Kardinalkollegium, Kurie und Klientel, Stuttgart 1998, heranzuziehen gewesen. Was den Band als solchen betrifft, so käme es der Lektüre sehr zugute, wenn er in zwei Halbbände unterteilt und damit leichter zu handhaben wäre.
Auch wenn noch zahlreiche Probleme kontrovers diskutiert werden könnten, so liefert doch diese sorgfältig aus den Quellen erarbeitete monumentale Darstellung, die auf einer breiten Kenntnis der französischen und internationalen Literatur zur Regularkanonikerbewegung beruht, einen wesentlichen Beitrag zur Erforschung dieser Bewegung, der der Abtei Saint-Ruf den ihr gebührenden Platz in der Geschichte des südostfranzösischen Raums zuweist.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ursula Vones-Liebenstein, Rezension von/compte rendu de: Yannick Veyrenche, Chanoines réguliers et sociétés méridionales. L’abbaye de Saint-Ruf et ses prieurés dans le Sud-Est de la France (XIe–XIVe siècle), Turnhout (Brepols) 2017, 1060 p., 22 ill. en n/b, 8 ill. en coul. (Bibliotheca Victorina, 25), ISBN 978-2-503-55285-9, EUR 160,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66355