Reinhard Bach nimmt sich in seiner ideengeschichtlichen Darstellung des politiktheoretischen Diskurses im vorrevolutionären Frankreich viel vor. Jedoch überzeugt seine Argumentation, dass im Diskurs des vorrevolutionären Frankreichs eine hegemoniale Übernahme des republikanischen Diskurses durch einen »marktwirtschaftlichen« Liberalismus der Physiokraten stattgefunden haben soll, nur in Teilen. Nichtdestotrotz ist angesichts der Forschungslücke bezüglich der französischen Aufklärung im deutschsprachigen Raum Bachs Vorstellung des physiokratischen Diskurses höchst willkommen und sowohl inhaltlich als auch methodisch ein substantieller Forschungsbeitrag.

Die Darstellung gliedert sich in 14 Kapitel, die sich gemäß der These des Autors in folgende drei Argumentationsabschnitte aufteilen lassen: In den ersten zehn Kapiteln wird vornehmlich der Diskurs der Physiokraten vorgestellt. Bereits im 5. Kapitel wird die Gegenüberstellung zum Denken Rousseaus eingeleitet und in die Vorstellung des physiokratischen Diskurses eingeflochten. Der zweite argumentative Schritt, Rousseaus politische Philosophie systematisch von jener der Physiokraten zu unterscheiden, findet im 11. Kapitel statt. Dieser zweite Teil der Argumentation erscheint auch in den vorrangegangenen Kapitel immer wieder, um die Differenz zwischen der utilitaristischen Ethik des physiokratischen Diskurses und der »politischen Ethik« Rousseaus, die auf Autonomie gegründet ist, zu markieren.

Im dritten Schritt (Kapitel 13, 14) wird die These, dass der physiokratische Diskurs die Begrifflichkeit der »politischen Ethik« Rousseaus strategisch umdeutet und so eine wirtschaftsliberale Bedeutung eigentlich republikanischer Ideen in den Diskurs der Französischen Revolution einbringt, anhand einer Analyse des Diskurses in und nach der Französischen Revolution zu belegen versucht. Die Stärke des Buches und sein originärer Forschungsbeitrag liegen im ersten Teil, der daher eingehender vorgestellt werden soll. Der zweite Teil ist unproblematisch und stellt eine beispielsweise von Ernst Cassirer oder Simone Goyard-Fabre vertretene, rationalistische Rousseau-Interpretation dar. Im dritten Teil kulminieren dagegen methodische Schwierigkeiten, die bereits vorher am Wirken sind, so dass die Gesamtthese nicht plausibel wird.

Der große Gewinn des Buches ist die überzeugende Darstellung der politischen Philosophie des physiokratischen Diskurses anhand der eingehenden Analysen der Texte von Quesnay, Le Mercier de la Rivière und einiger programmatischer Texte der Zeitschrift »Éphémérides du citoyen«. Die verzerrte Wahrnehmung der Physiokraten als eine rein ökonomische Lehre wird hier überzeugend und quellenreich widerlegt und zudem auch mit der schwierigen Publikationsgeschichte des Haupttextes von Le Mercier, der von dem Herausgeber Weulersse (S. 116–120) stark gekürzt publiziert wurde, begründet.

Solche Argumente stehen der überzeugenderen Methode des Diffusionismus (Robert Darnton, Jonathan Israel) näher, die Bach partiell in seiner Darstellung der Physiokraten aber leider gar nicht bezüglich der Rousseau-Texte anwendet. Die normierende Wirkung der Schriften Quesnays und Le Merciers bezüglich der Verbreitung des Ideals einer durch freien Tausch und Bedürfnisorientierung sich organisierenden Gesellschaft wird eindrucksvoll herausgearbeitet und umfassend belegt. Was hier nicht überzeugt, ist die Ausweitung der Rubrik »Physiokratie« auf alle Autoren der sensualistisch-materialistischen Erkenntnistheorie sowie die Zuordnung, dass das Denken einer »natürlichen Ordnung«, das doch dem Newtonismus entstammt, eindeutig Kennzeichen der Physiokratie sei.

Eine engere Fassung des physiokratischen Diskurses hätte der gesamten Argumentation gut getan, ohne dass damit der ökonomische Reduktionismus gemeint ist, den Bach zu Recht kritisiert. Doch Autoren wie D’Holbach und Helvétius, die sich für eine starke, zentralistisch organisierte Bedürfnisbefriedigung einsetzen, dem Wirtschaftsliberalismus zuzuordnen, irritiert und schwächt die Vorstellung der Physiokratie als (massiv) unterschätze Strömung innerhalb der politischen Ideengeschichtsschreibung.

Die hauptsächliche Schwierigkeit der Gesamtthese Bachs liegt in seiner Methodik begründet, die Verwendung von vermeintlich eindeutigen Schlagwörtern aus den Rousseau’schen Werken in den als physiokratisch bezeichneten Texten als Beleg für seine These zu werten, dass es sich hier um eine Strategie der Umdeutung der »politischen Ethik« Rousseaus handelt. Dazu sind zwei grundlegende methodische Einsprüche zu erheben: a) Sowohl der »Dictionnaire der Académie française« als auch die »Encyclopédie« sind maßgebliche zeitgenössische Standardwerke der französischen Sprache und können durch ihre Digitalisierung problemlos herangezogen werden, um den Gebrauch von solchen Ausdrücken zu prüfen.

Während »volonté générale« als Rousseau’scher Ausdruck gelten gelassen werden kann (er wird nur von Diderot 1755 in einem ähnlichen Sinne wie von Rousseau benutzt), sind die wenigen Ausdrücke, die Bach explizit nennt, um seine Großthese zu belegen, wie z. B. der »intérêt commun/général« zahlreich vor der Veröffentlichung des »Contrat social« und in einem ähnlichen Bedeutungsfeld verwendet worden. Somit lässt sich nicht belegen, dass sich der physiokratische Diskurs die Begriffe Rousseaus aneignet. Bach gibt außerdem überhaupt keine Zahlen zur Verbreitung der Rousseau’schen Werke an, was wünschenswert gewesen wäre.

b) Das Werk von Rousseau wird seit 250 Jahren kontrovers rezipiert. Wie kann Bach hier von einer Eindeutigkeit der Begrifflichkeit Rousseaus ausgehen? So lässt sich weder eindeutig belegen, dass das Eigentum für Rousseau nicht zentral sei (im Encyclopédie-Artikel »Économie politique« fordert Rousseau den Schutz des Eigentums), noch dass Rousseau den Nutzen für das Eigenwohl nicht in seine Ethik aufnehme (der Begriff »amour de soi« steht genau dafür), noch dass das Mehrheitswahlrecht von Rousseau verachtet werde (Bach S. 268), zumal Rousseau betont, dass das Zählen der Einzelstimme den Gesetzen die entscheidende Legitimität gebe (Contrat social, Buch 2, Kap. 2, Fußnote*). Die Klarheit und Eindeutigkeit der Rousseau’schen Begriffe, auf die Bach sein Argument für die intentionale Übernahme und Umdeutung dieser Begriffe durch Vertreter des physiokratischen Denkens stützt, existiert nicht.

Insofern scheitert der Abschluss der Gesamtthese, dass sich im physiokratischen Diskurs eine Übernahme der Rousseau’schen Begrifflichkeit belegen lässt. Ohne die Verengung auf die Übernahme der Rousseau’schen Begrifflichkeit wäre die Darstellung des physiokratischen Diskurses samt seines Erfolges (S. 255–306) überzeugender und gewinnbringender für die Erforschung des 18. Jahrhunderts wie auch für Genealogien des Kapitalismus.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dagmar Comtesse, Rezension von/compte rendu de: Reinhard Bach, Rousseau und die Physiokraten. Politische Ideengeschichte im begrifflichen Wandel zwischen Aufklärung und Revolution, Köln (Böhlau) 2018, 330 S., ISBN 978-3-412-50020-7, EUR 39,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66358