Der von Marie-Alexis Colin (Université libre de Bruxelles) herausgegebene Sammelband vereint 34 Aufsätze in englischer, französischer und italienischer Sprache zu Ehren des verstorbenen britischen Musikwissenschaftlers Frank Dobbins (1943–2012), einem der weltweit führenden Spezialisten zur französischen Chanson der Renaissance. Dobbins’ besondere Affinität zur französischen Kultur- und Musikgeschichte zeigte sich bereits früh in seiner Dissertation über die Chanson des 16. Jahrhunderts in Lyon (»The Chanson at Lyons in the Sixteenth Century«, Universität Oxford 1971). Als lecturer am Kings College sowie langjähriger senior lecturer und reader am Goldsmiths College der Universität zu London folgten dann weitere innovative Studien, Publikationen und Werkeditionen zur Chanson des 15. und 16. Jahrhunderts – u. a. zu den Komponisten Clément Marot, Claude le Jeune und Joachim du Bellay –, ferner zur frühneuzeitlichen Musikproduktion der Stadt Lyon, zur französischen und italienischen Lautenmusik sowie zu musikalischen Aspekten des französischen Renaissancetheaters.

Inspirierend wirkte Dobbins in den Jahren 1994–1999 als Gastprofessor an der École normale supérieure in Paris sowie am Centre d’études supérieures de la Renaissance der Universität Tours, wo er durch die Organisation zahlreicher internationaler Koferenzen ein weit gespanntes Netzwerk von Musikerinnen und Musikern sowie Musikwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern aus den USA, Kanada, Frankreich, Italien und England knüpfte, das repräsentativ für die vielfältigen neuen Ansätze in der theoretischen wie künstlerisch-praktischen Erschließung der Musik der Vormoderne und Moderne steht.

Ohne Zweifel spiegeln sich auch im vorliegenden Aufsatzband Dobbins' vielfältige Interessen, kulturelle Erfahrungen und persönliche Beziehungen wider, die zahlreiche Studenten, Kollegen und musikalische Weggefährten zu eigenen Forschungen inspirierten. Der zeitliche Schwerpunkt des Bandes liegt – ganz in der Intention des Buchtitels – auf der französischen Musik des 15. bis frühen 17. Jahrhunderts. Entsprechend der thematisch wie geographisch weit gespannten, internationalen Forschungstätigkeit Dobbins’ sind darüber hinaus Aufsätze zur Musikgeschichte des 18. und 20. Jahrhunderts einbezogen.

Entlang einiger zentraler Forschungsachsen greift der Band gattungs- und formübergreifend Aspekte der westeuropäischen Musikgeschichte in transkultureller Perspektive auf, wobei insbesondere auf das Verhältnis zwischen Musik und Literatur, Musik und Kunst, Musik und Religion bzw. auf soziokulturelle Aspekte der Musikrezeption rekurriert wird. Eindrucksvoll verdeutlicht sich dabei der stilistische Wandel in der Musik um 1500, der bis in das 20. Jahrhundert Musiker und Komponisten auf ganz unterschiedliche Weise inspiriert und beeinflusst hat, gekennzeichnet durch das Hervortreten von Künstler und Werk, die Ausprägung nationaler Kompositionsstile innerhalb einer zunehmend vernetzten europäischen Musikkultur, durch innovative Formen der Vokalpolyphonie wie auch neue homophone Liedgattungen.

Als besonders verdienstvoll erweisen sich dabei jene Studien zur musikalischen Kodikologie, welche unsere Kenntnis des Musikrepertoires werk- und personenspezifisch erweitern und zugleich Formen kultureller Interaktion bezeugen. Christine Ballman stellt eingangs eine musikalische Rekonstruktion der franko-burgundischen Chanson »Le grand deul« (um 1480) vor auf der Basis der Handschriften B-Br Ms IV 90 der Bibliothèque royale de Belgique und B-Tv Ms 94 der Bibliothèque de la ville de Tournai.

Camilla Cavicchi analysiert Kompositionen der Niederländer Gilles Binchois und Guillaume Du Fay in einer ursprünglich aus dem Augustinerkonvent von San Vito in Ferrara stammenden Handschrift (I-FEd, San Vito, 50) und kann so den nachhaltigen Einfluss der franko-flämischen Vokalpolyphonie südlich der Alpen belegen. Marie Cornaz untersucht italienische und französische Kantaten des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts – darunter Werke von Pietro Torri, Diogenio Bigaglia, Michele Falco und Nicolas Bernier – aus der musikalischen Sammlung des ehemaligen Privatarchivs der Herzöge von Arenberg (Enghien/Hainaut) und erweitert so den Blick auf die reiche Musiküberlieferung belgischer Handschriftenfonds. Deutlich zeigt sich hier die Präsenz und der Einfluss des neuen italienischen monodischen Kompositionsstils auf die Musikkultur der spanischen Niederlande. Émilie Corswarem beleuchtet die reiche Musikproduktion in Lüttich während der Herrschaft des habsburgischen Fürstbischofs Georg von Österreich (1504–1557), insbesondere die in fünf Bänden verlegten Chansons zu vier Stimmen des franko-flämischen Komponisten Jean de Latre, maître de musique an den Kollegiatsstiften Saint-Paul und Saint-Martin in den Jahren 1538–1565.

Ergänzend trägt Annie Coeurdevey mit ihrer Analyse der Charakteristika von Musiksammlungen in Handschriften aus der Zeit von 1480–1540 zum Verständnis gattungsspezifischer Überlieferungsformen der Renaissance bei. Fabrice Fitch macht auf ein bislang unbekanntes Textfragment des Rondeau »Se vostre cueur« des niederländischen Komponisten Johannes Ockeghem aufmerksam. Fabien Guilloux wiederum beleuchtet den »Recueil des Psalmes, Hymnes et Motets« (Druck Jean Didier Lyon 1610) als Zeugnis für die musikhistorisch bemerkenswerte Präsenz und rituelle Praxis der Confrérie des pénitents blancs du Confalon in Lyon.

Äußerst aufschlussreich im Hinblick auf die Einbettung der Musik in größere kulturgeschichtliche Zusammenhänge sind die Studien zum Musikverlagswesen, im Speziellen zu den Verbreitungsformen von Musik im Kontext sich stetig wandelnder sozioökonomischer Bedingungen in Westeuropa. Darunter finden sich einige bemerkenswerte Neuentdeckungen von Musikalien aus den Zentren des frühneuzeitlichen Buchdrucks Lyon und Paris. Iain Fenlon stellt die Bedeutung des von Lyon aus agierenden, europaweit tätigen Musikverlegers Jacques Moderne heraus und zeichnet erstmals Verbreitungsformen und -wege bedeutender Chorbücher Modernes in Spanien nach. Jean Duchamp ergänzt diese Betrachtungen um Inhalt, Notation und historische Entstehungszusammenhänge polyphoner liturgischer Kompositionen zur Passion du Christ in den Lyoner Ausgaben Jacques Modernes.

Olivier Grellety-Bosviel erläutert die Rezeption polyphoner Messkompositionen des 16. Jahrhunderts am Beispiel der Lyoner Druckausgabe des Nicolas du Chemin von 1558. Henri Vanhulst und Alicia Svarcez geben einen Überblick über die seit 1969 erschienenen Editionen polyphoner Musik des Pariser Verlegers Pierre Attaignant, darunter auch eine bedeutende Ausgabe von 13 Motetten Josquin Desprez’ von 1549. Martin Ham beschreibt die exzeptionelle Form und Struktur der O-Antiphone im »Liber septimus«, einer ebenfalls von Attaignant herausgegebenen Sammlung liturgischer Musik des 16. Jahrhunderts (RISM B/I 1534).

Katelijne Schiltz weist auf die enigmatische Bedeutung des Kreuzsymbols in Pietro Cerones musiktheoretischem Standardwerk »El Melopeo y maestro« (Neapel 1613) hin. Sandrine Thieffry erhellt die historischen Hintergründe und ökonomischen Bedingungen des internationalen Musikmarktes im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert am Beispiel der Zusammenarbeit der belgischen Verlagsdependence Schott frères mit der Pariser Societé des auteurs, compositeurs et éditeurs de musique (SACEM). David C. H. Wright schildert das Phänomen der mechanischen Musik, das mit dem Grammophon als neuem Vermittlungs- und Lernmedium Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer nachhaltigen Veränderung und Erweiterung der Hörgewohnheiten führte und infolge den Musikmarkt auch hinsichtlich der ökonomischen Prinzipien revolutionierte. Insbesondere betrachtet Wright die Bezüge zwischen innovativer Technik, musikalischer Massenkultur und neuen musikjournalistischen Printmedien in den 1920er und 1930er Jahren.

Hinsichtlich musiktheoretischer und -analytischer Werkzugänge kann Ian Bartlett einige offene Fragen zu den Entstehungszusammenhängen der Ballade »The ravish’d lover« des englischen Komponisten William Boyce (1711–1779) klären. Grantley McDonald diskutiert die reformatorische Kontroverse um die religiöse Legitimation der Kirchenmusik anhand der Debatte zwischen dem lutherischen Theologen Jacob Andreae und dem calvinistischen Genfer Pastor Théodor de Bèze auf dem Kolloquium von Montbéliard 1586. Laurent Guillo und Alice Tacaille befassen sich mit der musiktheoretischen Debatte zwischen den Lyoner maîtres de musique Loys Bourgeois und Simon Gorlier über die Anwendung der mittelalterlichen Solmisationslehre. Im Mittelpunkt stehen dabei drei Pamphlete Bourgeois’ von 1554 zur Verteidigung der von ihm entwickelten neuen Praktik der Solmisation.

Greer Garden erschließt die bisher weithin unbekannte Liedersammlung »Airs sérieux à deux« (1691) der französischen, aus der Familie der Herzöge von Ferté-Senneterre in Lothringen stammenden Amateurkomponistin Mademoiselle de Menetou und erläutert soziokulturelle Grundbedingungen« und Handlungsstrategien weiblichen Musikschaffens in der Zeit der Frühaufklärung. John Griffiths analysiert anschaulich die »Compositioni musicali« (1602) des italienischen Komponisten Heteroclito Giancarli, eine bislang weithin unbekannte Sammlung von intabulierten Kompositionen für Laute im neuen monodischen Stil des 17. Jahrhunderts. Griffiths’s musikalische Transkription der Arie »Caldi Sospir« verdeutlicht dabei eindrucksvoll Interpretations- und Gestaltungsmöglichkeiten Alter Musik im Hinblick auf aktuelle Fragen der Aufführungspraxis. Dinko Fabris analysiert Provenienz, Besitzverhältnisse sowie Aufbau und Struktur eines ursprünglich im Besitz des Kanonikers Giuseppe Antonio Doni befindlichen »Libro di Leuto« mit 86 Kompositionen von Andrea Falconieri, Giuseppe Baglioni, Arcangelo (Lori) und Johann Hieronimus Kapsberger aus dem Staatsarchiv von Perugia, Sektion Assisi (Ms. VII.H.2. = RISM B/VII). Besonderes Interesse weckt dabei ein bislang unbekanntes Fragment innerhalb des Lautenbuches, das fünf weitere, von der Hand Donis geschriebene Lautentabulaturen enthält.

Marie Madelaine Fontaine erörtert das Verhältnis von Textvorlage und musikalisch-tänzerischer Gestaltung am Beispiel des »Printemps d’Yver« (1572), einer ungewöhnlichen Sammlung von récits des Amateurkomponisten Jacques Yver. Tess Knighton erläutert die Funktion und Bedeutung der Kirchentonarten für die Vermittlung der Textaussage in kastilischen Devotionsliedern um 1500. Roger Jacob befasst sich mit dem raren Repertoire achtstimmiger französischen Chansons aus dem 3. Viertel des 16. Jahrhunderts, deren doppelchörige dialogische Struktur unter dem Begriff der »polychoral composition« beleuchtet werden.

Patrice Nicolas analysiert auf der Basis der handschriftlichen Überlieferung die zweistimmige franko-burgundische Chanson »A qui direlle sa pensée« (um 1500) und macht auf liturgische Kontrafakturen aufmerksam, deren Autorschaft nach wie vor ungeklärt ist. Im Hinblick auf die Stilistik der Barockmusik stellt Lionel Sawkins weiterführend Überlegungen zur Charakteristik französischer Vokalpraxis und -technik zwischen 1670 und 1750 an. Vasco Zara verdeutlicht die Technik des Faux-Bourdon anhand der Kompositionslehre »Secret pour Composer en Musique« (1658) des Pariser Musiktheoretikers René Ouvrard. François de Médicis bewertet den Kompositionsstil Jules Massenets im Hinblick auf die Deutung von Stimmungen und Emotionen durch musikalisch-mimetische Gesten.

Ein weiterer Schwerpunkt liegt auf biografischen und rezeptionsgeschichtlichen Aspekten musikalischen Schaffens. David Charlton untersucht die Organisation, Personalpolitik und Finanzierung der Pariser Oper in den Jahren 1749–1757 und kann anhand des handschriftlichen Inventars u. a. mit Aufträgen verbundene Zahlungen an Komponisten und Librettisten wie Pierre Rameau und Jean-Jacques Rousseau belegen. Alessandro di Profio betrachtet die 1791 im Pariser Théâtre de Monsieur aufgeführte Oper »Il convitato di pietra«, einen Prototyp von Mozarts Oper »Don Giovanni«, der repräsentativ für die Rezeptionsformen des italienischen Opernstils in Frankreich steht.

Michael Talbot behandelt die Rezeption von Vivaldis Kompositionen in Frankreich in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts und erläutert spezifisch französische Wahrnehmungen von Leben und Persönlichkeit des italienischen Komponisten. Máire Egan-Buffet zeigt Netzwerke von Musikern und Mäzenen in der französischen Provinz auf am Beispiel des künstlerischen Salons von Luis und Jeanne Pichot in Perpignan in den Jahren 1922–1948. Olivia Wahnon de Oliveira schildert die Rezeption von Werken des belgischen Komponisten Joseph Jongen (1873–1953) zu Beginn des 20. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung der Vermittlerrolle von dessen Bruder Léon Jongen. Danick Trottier schlägt aus der Perspektive des frühen 20. Jahrhunderts den Bogen zur Musik der Renaissance und erläutert die Modellhaftigkeit und Bedeutung der religiösen Musik Gesualdos für die kreative Neuorientierung von Igor Strawinskis Kompositionsstil in den Jahren 1957–1960.

So vielfältig, spezifisch und letztlich epochenübergeifend diese qualitativ hochwertigen Studien auf den ersten Blick auch erscheinen, ergibt sich dennoch ein stimmiges Gesamtbild, das vor allem durch die detaillierte Präsentation und Interpretation der musikalischen Quellen sowie den stetigen Bezug zur Aufführungspraxis besticht. Insbesondere regt der Band zur weiteren Beschäftigung mit einigen bislang weniger bekannten Repertoires der Renaissance und des Barock an und schärft den Blick für die bis heute andauernde kompositorische Auseinandersetzung mit musikalischen Formen und Gattungen der Vergangenheit.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Marie-Alexis Colin (ed.), French Renaissance Music and Beyond. Studies in Memory of Frank Dobbins, Turnhout (Brepols) 2018, 731 p., 227 b/w ill., 37 b/w tabl. , ISBN 978-2-503-57960-3, EUR 100,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66366