»Archives & Information in the Early Modern World« ist bereits die zweite Veröffentlichung, die aus einer 2014 an der British Academy stattgefundenen Tagung hervorgegangen ist1. Zusammen stellen beide Bände eine Standortbestimmung aktueller kulturwissenschaftlich orientierter Archivgeschichte dar. Grundlegend ist dabei die Annahme, dass Archive nicht so sehr Orte der Wissensspeicherung und -abrufung sind als vielmehr solche, an denen »Wissen« durch spezifische Praktiken des Ordnens und Aufhebens (gerade auch des Nicht-Aufhebens) erst generiert wird. Das Programm eines solchen praxeologischen Ansatzes – nach dem archival turn – wird von den Herausgeberinnen in ihrer Einleitung sehr klar ausgebreitet. Sie betonen dabei die Rolle der an den Praktiken beteiligten Akteure genauso wie die Bedeutung von Raum und Materialität. Zudem fordern sie, auch alternative Aufbewahrungsformen außerhalb Europas in den Blick zu nehmen, um auf diese Weise europäische Konzeptionen »provinzialisieren« zu können (instruktiv zu den Perspektiven der »neuen Archivgeschichte« sind auch das Vorwort von Eric Ketelaar sowie das Nachwort von Ann Blair).
Der Großteil der Beiträge führt die in der Einleitung aufgezeigten Perspektiven produktiv weiter. Randolph Head etwa erarbeitet ein Konzept für Archivierungspraktiken, auf die modern-westliche Kriterien nicht zutreffen. Er führt dazu den Begriff der »Archivalität« (archivality) ein, mit dessen Hilfe es möglich sei, verschiedene »modes of making, keeping, and using records« zu untersuchen (S. 32). Die enge Verbindung von Archiven und Staatlichkeit könne so beispielsweise als Spezifikum Europas identifiziert werden (S. 38).
Heather Wolfe und Peter Stallybrass widmen sich der Materialität frühneuzeitlicher Archive, besonders in England. Auf Grundlage von Handbüchern, Gemälden, vor allem aber auch der Objekte selbst zeichnen sie die konkreten Praktiken des Sortierens und Ordnens, Aufbewahrens und Wiederfindens differenziert nach. Dabei betonen sie besonders die Dynamik der beschriebenen Prozesse, die nur selten eine klare Grenzziehung zwischen Kanzlei und Archiv bzw. zwischen aktiven und archivierten Dokumenten erlaubt. Arnold Hunt wiederum nimmt das Personal frühneuzeitlicher Archive in den Blick und versucht so, der »collaborative nature of early modern statecraft« gerecht zu werden (S. 107). Vor allem Sekretäre hätten mit dem Ausbau frühneuzeitlicher Verwaltungen immer weiter an Bedeutung gewonnen und sich schließlich zu unverzichtbaren »expert advisers with academic, linguistic, or technical skills« entwickelt (S. 115).
Nach dem Ursprung von Archivierungspraktiken fragen Filippo de Vivo und Jacob Soll. Im Vergleich verschiedener italienischer Gemeinwesen betont de Vivo die Abhängigkeit solcher Praktiken von der jeweiligen Regierungsform. Während Republiken wie Venedig oder Lucca eine elaborierte Verwaltung ausbildeten, um den komplexen Entscheidungsprozessen Herr zu werden, setzten Fürstenstaaten wie Ferrara oder Mantua stärker auf mit dem Herrscher persönlich verbundene Sekretäre. Am Beispiel Jean-Baptiste Colberts zeigt wiederum Soll, zu welchem Grad »staatliche« Archivierungstechniken der Welt der Kaufleute entstammten. So orientierte sich Colbert, selbst Sohn eines Kaufmanns, bei seinen Reformen an den aus seiner Ausbildung vertrauten Techniken (etwa der doppelten Buchführung) und unterrichtete etwa auch den jungen Ludwig XIV. darin.
Die Frage nach der Zugänglichkeit frühneuzeitlicher Archive untersuchen die beiden Beiträge von Arndt Brendecke und Kate Peters. In Bezug auf das spanische Zentralarchiv von Simancas vertritt Brendecke die These, dass dessen Funktion weniger im permanenten Bereithalten von Wissen bestand. Der Hof in Madrid habe die geographisch abgelegene Lage und die nur mäßige institutionelle Anbindung des Archivs vielmehr gezielt dazu genutzt, Dokumente und daraus abgeleitete Ansprüche zu verbannen. Peters zeigt wiederum am Beispiel des englischen Bürgerkriegs, wie die obrigkeitliche Monopolisierung von Wissen in die Kritik geraten konnte. Doch auch wenn die Untertanen verstärkt Zugriff auf Rechtsdokumente einforderten, die ihre persönlichen Besitzansprüche und Rechte betrafen, blieb die Politik der arcana imperii doch gleichzeitig von diesen Forderungen unangetastet.
Neben diesen Beiträgen enthält der Band jedoch auch solche, die für sich genommen zwar interessant sind, mit Fragen der Archivgeschichte allerdings nur wenig – teilweise sehr wenig – zu tun haben. Sundar Henny befasst sich etwa mit Schreibpraktiken im frühneuzeitlichen Zürich, die häufig der persönlichen Glaubensausübung dienten. Brooke Sylvia Palmieri untersucht, welche Rolle Briefe und andere Dokumente (bzw. die spätere Berufung auf diese Dokumente) in der Selbstvergewisserung der Quäkergemeinde spielten. Sylvia Sellers-García untersucht, welchen Einfluss die Struktur des kolonialen Postsystems in Südamerika auf die dortige Strafverfolgung hatte. Schließlich widmet sich Kiri Paramore einer konfuzianisch ausgerichteten Bewegung in Asien, die jenseits staatlicher Strukturen und über territoriale Grenzen hinweg einen gemeinsamen Wissensraum ausbildete. Dass sie für dieses »almost metaphorical archive of the Sinosphere« das Konzept der »Archivalität« von Randolph Head in Anschlag bringt, kann dabei nur wenig überzeugen – stattdessen exotisiert sie ihren Gegenstand auf diese Weise geradezu. Denn es war ja nicht so, dass etwa in Japan Dokumente nicht systematisch aufbewahrt worden wären und dort deshalb eine ganz andere Art der »Archivalität« existierte – die betreffenden Archive sind lediglich nicht mehr erhalten (S. 309f.).
Auch wenn also die meisten Beiträge das Programm einer »neuen Archivgeschichte« überzeugend umsetzen, ist schade, dass die geforderte Ausweitung auf außereuropäische Praktiken empirisch nicht eingelöst wird. Hier sind die Fachgrenzen deutlich spürbar: Dass es etwa im Osmanischen Reich keine mit Europa vergleichbare Archivierung von Verwaltungsdokumenten gegeben habe (und stattdessen vor allem literarische Quellen überliefert seien), wie die Herausgeberinnen angeben (S. 24), ist schlichtweg falsch und hätte durch die Einbindung entsprechender Fachkollegen korrigiert werden können2. Dennoch macht die durchweg hohe Qualität der Beiträge sowie die Bandbreite der behandelten Themen den Band zu einer ausgesprochen gewinnbringenden Lektüre.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Florian Kühnel, Rezension von/compte rendu de: Liesbeth Corens, Kate Peters, Alexandra Walsham (ed.), Archives and Information in the Early Modern World, Oxford (Oxford University Press) 2018, XVIII–326 p., 19 ill. (Proceedings of the British Academy, 212), ISBN 978-0-19-726625-0, GBP 70,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66367