Die Grenze, die vorliegende Studie im Titel trägt, prägt sie in mehrfacher Hinsicht. Mit Christophe Duhamelle widmet sich ein mit den Methoden französischer Geschichtsschreibung bestens vertrauter Historiker einem deutschen Untersuchungsgegenstand. Sein von seinem Lehrer Étienne François geschulter Blick auf und über die deutsch-französische Grenze ermöglicht ihm dabei in Kontrastierung und Komplementarität (s. z. B. S. 16 seine Überlegungen zum Begriff der »Identität« im jeweiligen Sprachraum), aus konkreten Befunden allgemeine Schlussfolgerungen abzuleiten, denen man zwar nicht in jedem Fall zustimmen muss, die aber jeweils beiderseits des Rheins anregend sind.

Die ursprünglich auf Französisch verfasste und in dieser Sprache 2010 in Frankreich veröffentlichte Habilitationsschrift ist nunmehr als deutsche Übersetzung zugänglich. Bemerkenswert dabei sind, auch angesichts der Freude des Verfassers am Umgang mit der Sprache, die passgenauen Formulierungen des Übersetzers Falk Bretschneider auch in Grenzfällen der Übersetzbarkeit – dem Französischen entlehnt er den Begriff »das Konfessionelle« (S. 14), der »die Gesamtheit der Regeln und Praktiken, die sich mit dem konfessionellen Unterschied im Alten Reich verbanden« (ibid., Anm. 3) meint. Schließlich und v. a. beeindruckt Duhamelle mit Analysen und Thesen zur religiösen und politischen Grenzziehung im Zeitalter der Konfessionalisierung, das er zugleich periodisch entgrenzt, indem er die Wechselwirkungen mit der Zeit der Aufklärung untersucht. Das Ende des 18. Jahrhunderts war demzufolge die »Vollendung einer ›vertieften‹ Konfessionalisierung« (S. 28).

Geografisch und inhaltlich steht im Mittelpunkt der Untersuchung das von lutherischen Territorien umgebene katholische Eichsfeld, wobei zahlreiche Seitenblicke auf andere Orte und Regionen des Alten Reiches den Blick auf das Eichsfeld wie auch auf das Reich schärfen. Dies unterstreicht die für Duhamelle exemplarische Bedeutung der gewählten Untersuchungsregion, waren doch die konfessionellen und territorialen Grenzen im Reich »im Alltag allgegenwärtig« (S. 153).

Ein erster Teil widmet sich dem Zusammenhang von Tradition, Aufklärung und Identität. Eine besondere Rolle spielt dabei im Untersuchungszeitraum die possessio an der Schnittstelle von Recht und Gewohnheit. Im zweiten Teil untersucht Duhamelle das Verhältnis von Dorfgemeinschaft und konfessioneller Identität. Hier zeigt sich die komplexe Wechselwirkung zwischen den verschiedenen Ebenen, d. h. der Ebene des Reiches, des jeweiligen landesherrlichen Territoriums und des konkreten Ortes, wobei die letztgenannte Ebene identitätsmarkierende Prozesse und Dynamiken unter Bezug auf die erstgenannte gestalten konnten.

Das Thema der Identität steht sodann im dritten Teil im Zentrum, und zwar näherhin in Verbindung mit der titelgebenden Grenze. Diese tritt weniger als Trennlinie in Erscheinung als vielmehr als Ort wechselseitiger bzw. sich spiegelnder Identitätsbildungen und -vergewisserungen. Im vierten Teil wird die Durchlässigkeit dieser Grenzen beleuchtet. Diese erfolgte einerseits aufgrund der überkomplexen politischen Geographie, im Zeitalter der Aufklärung dann aber auch durch eine Infragestellung jener konfessionellen Identitätsmarker, die überhaupt erst durch die Grenzen und den Umgang mit diesen zu solchen werden konnte.

Ein zentrales Ergebnis der Untersuchung Duhamelles, die sich auf umfangreiches Archivmaterial stützt und bei deren profunder Auswertung zahlreiche Seitenstränge der Frage- und Antworthorizonte freilegen und entfalten kann, besteht im Aufweis einer nicht primär religiös begründeten Auseinanderentwicklung konfessioneller Identitäten. Vielmehr seien es rechtliche und soziale Aspekte gewesen, die sich konfessioneller Unterschiede bedienten, diese damit verstärkten und somit zur identitätsbildenden Kontrastverstärkung beitrugen. Theologisch aufgeladen wurde der Kontrast dann erst in zweiter Linie: »Die konfessionelle Identität wurde stärker von der Sorge bestimmt, sich durch die eigene Religion zu definieren, als eben diese eigene Religion zu definieren« (S. 215). Die spätere theologische Argumentation der Aufklärung stieß aufgrund dieser Dynamik in dem Maße auf Widerstand, als sie diesen zweiten Aspekt, d. h. die inhaltliche Definition der Konfession, von dem vorgängigen ersten, d. h. die Selbstdefinition mittels der Konfession, gelöst bewertete. Die Nichtresonanz theologischer Argumente erklärt sich demzufolge nicht durch mangelnde inhaltliche Stimmigkeit, sondern durch deren mangelnde Berücksichtigung einer letztlich nichttheologisch motivierten Indienstnahme von Religion und Konfession.

Auch wenn für Duhamelle die Frömmigkeit als solche lediglich Anlass der Untersuchung von Identitätsbildung und ‑festigung ist, bieten seine Analysen für Geschichte und Theologie der Frömmigkeit weiterführende Einsichten. Dass mit dem bis heute im internationalen Vergleich in Deutschland auch katholischerseits typischen liturgischen Gemeindegesang in der Landessprache eine »Aufladung des Eigenen durch das Andere und des Anderen durch das Eigene« (S. 203) behandelt wird, überrascht im Ergebnis wenig, erhält aber im analytischen Setting Duhamelles eine besondere Aussagekraft. Das weniger bekannte Beispiel des »Ablutionsweins« (S. 202), bei der in der katholischen Eucharistiefeier die Praxis des Brot- und Kelchkommunion umfassenden evangelischen Abendmahls aufgegriffen wurde, indem nach der (konsekrierten) Hostie auch der (nichtkonsekrierte) Wein empfangen wurde, verweist auf die Grenzen einer rein lehrmäßig vorgehenden Pastoral und die Grenzen des historischen Verständnisses einer solchen.

Für die Theologie sind die von Duhamelle eruierten, teils auch konstruierten Wechselwirkungen ein ökumenisches Lernfeld par excellence. Dies gilt umso mehr, wenn gegenwärtig nicht nur die frömmigkeitsgeschichtliche Rolle der Aufklärungstheologie einer erneuten Aufmerksamkeit bedarf, sondern insbesondere auch deren seinerzeit in Teilen der Bevölkerung – aus von Duhamelle aufgezeigten Gründen – fehlende Verankerung, was wiederum in Verbindung mit einer früh abgebrochenen theologischen und ekklesialen Rezeption und Integration eine zeitgemäße Fortschreibung katholischer Identitäten im Licht zeitgenössischer Fragen erschwert hat und teils weiterhin erschwert.

Es versteht sich eigentlich fast von selbst, dass jenseits dieser theologischer Fragen – aber vielleicht durchaus gerade im Horizont der von der Theologie darauf ermöglichten Antworten – die Thesen von Christophe Duhamelle umso anregender sind, als die identitätsbildende Funktion von Grenzen heute manipuliert und missbraucht wird.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Quisinsky, Rezension von/compte rendu de: Christophe Duhamelle, Die Grenze im Dorf. Katholische Identität im Zeitalter der Aufklärung, Würzburg (Ergon) 2018, 325 S., 6 Kt. (Religion und Politik, 16), ISBN 978-3-95650-280-4, EUR 48,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66370