Das Buch publiziert die Ergebnisse des Kolloquiums, das das Centre d’études supérieures de la Renaissance (Université François-Rabelais de Tours) unter der Leitung von Frédérique Lemerle und Yves Pauwels vom 30. Juni bis 4. Juli 2014 aus Anlass des 500. Geburtstages von Philibert De l’Orme veranstaltet hat. 24 ausgewiesene Spezialisten aus der Kunstgeschichte, Musikgeschichte, Literaturgeschichte oder Mathematik und Technik, behandeln De l’Ormes Werk und sein historisches und kulturelles Umfeld. Lemerle und Pauwels weisen im Vorwort auf die zahlreichen Probleme hin, die die schillernde Persönlichkeit De l’Ormes, sein Werk und sein historisches Umfeld aufgeben.

Programmatisch für das Buch ist, dass die Auseinandersetzung mit De l’Ormes Rhetorik am Anfang steht: Sie ist das Thema der Beiträge der Literaturhistorikerin Mireille Huchon über »Philibert De l’Orme en architecte rhetoricien«, und von Luisa Capodieci über»Philibert De l’Orme, le compas et Mercure dans le Premier tome de l’architecture«. Huchon legt dar, dass De l’Orme vom Architekten eine rhetorische Gewandtheit erwartet, die über das hinausgeht, was Vitruv fordert, und betont, dass De l’Orme eine besondere Stellung in der Geschichte der wissenschaftlichen Literatur und sogar der Dichtung gebühre. Capodieci konzentriert sich darauf, wie De l’Orme die Architektur, symbolisch oder metaphorisch überhöht, als eine kleine Welt feiert, die die kosmische Ordnung spiegelt.

Die 2017 abgeschlossene Edition der Korrespondenz des Jean Du Bellay gibt Loris Petris und Cédric Michon Gelegenheit, die Verbindung von De l’Orme mit dem großen Patron führender Literaten neu zu beleuchten. Unter dem Titel »Philibert De l’Orme und Jean Du Bellay« präzisiert Petris die Geschichte der Entstehung des Schlosses von Saint-Maur, das De l’Orme für den Kardinal baute, und zeigt, dass die Verbindung zwischen den beiden Persönlichkeiten, die einen neuen französischen Stil in der Architektur und in der Literatur kreierten, enger war, als bisher angenommen wurde. Unter dem Titel »›J’ay veu vostre lectre du XXVIe du passé et n’y parlez poinct d’argent‹: le cardinal Jean Du Bellay et le financement des commandes de Philibert De l’Orme« vertieft Michon die Kenntnisse von den finanziellen Verhältnissen des Kardinals.

Die nächsten vier Beiträge behandeln den Rückblick auf die Vergangenheit, auf Antike und Mittelalter zur Zeit De L'Ormes. In seinem Beitrag »La storia dell’architettura e le guerre di religione nella Francia del Cinquecento« behandelt Carmelo Occhipinti, wie das Mittelalter während der Auseinandersetzung zwischen Katholiken und Hugenotten unter Caterina de’ Medici betrachtet wurde. Im Sinn der Erneuerung der Wissenschaften wurden originale Quellen gesammelt. Obwohl religiöse Belange im Vordergrund standen, galt auch der mittelalterlichen Architektur als nationalem Erbe Interesse. David Karmon, »The Destruction and Renewal of the Via Triumphalis, 1533–1536«, behandelt das Phänomen der gleichzeitigen Zerstörung der antiken Ruinen und dessen Studium in der Zeit, als De l’Orme sich in Rom aufhielt. Yves Pauwels untersucht »Philibert De l’Orme, les antiques et la Contre-Réforme«. Er setzt diverse Eigenheiten im Umgang mit der Antike ebenso wie De l’Ormes »divines proportions« in Beziehung zur Gegenreformation: das neue Interesse an der Spätantike als Folge christlicher Geisteshaltung, die Relativierung Vitruvs und die Vorbehalte gegen die vorbehaltlose Nachahmung einzelner antiker Reste als Folge der Betrachtung antiker Werke als heidnisch. Die Aufwertung der Spätantike ist auch das Thema von Maria Beltramini, »Qualche aggiunta alle fonti della cultura architettonica e del linguaggio artistico di Philibert De l’Orme«.

Im Folgenden wird eine Reihe stilistischer Besonderheiten von De l’Ormes Architektur ins Auge gefasst. Richard Etlin will in seinem Beitrag »Philibert De l’Orme: l’architecte-mage de l’hôtel Bullioud« zeigen, dass das hôtel Bullioud, das eines der frühesten Werke der französischen Renaissance ist, in der mittelalterlichen literarischen Tradition des Zauberschlosses steht. Eine aufmerksame Bauanalyse führt vor Augen, wie hier mit Überraschung, Irritation und Ironie gespielt wird im Unterschied zum Gleichmaß, das für die Renaissance typisch ist. Man sollte einmal die zeitgenössischen Parallelen zum Stil des Hôtel Bullioud in Frankreich zusammenstellen.

Guy-Michel Leproux, konzentriert sich in seinem Beitrag »Philibert De l’Orme et l’architecture privée parisienne« zunächst auf die kontroversen Zuschreibungen von Projekten für Pariser Häuser, besonders das Hôtel Angoulême, das er mit neuen Argumenten De l’Orme zuschreiben kann, und weitet dann den Blick aus auf die Fortune von De l’Ormes Erfindung des aus kleinen Holzteilen zusammengesetzten Dachstuhls im Pariser Wohnbau. Laurent Paya behandelt »Les jardins des châteaux de Philibert De l’Orme«, besonders die gut dokumentierten von Anet, Saint‑Germain‑en‑Laye und die Tuilerien, die sich mit ihren Allusionen an literarische Phantasien als Konkordanz der Künste darstellen und Gestaltungsprinzipien italienischer Renaissance-Gärten aufnehmen.

Im Unterschied zur Antike ist Werkstein für die äußere Erscheinung von Renaissance-Architektur typisch, auch für diejenige De l’Ormes. Das bestätigt Sophie Mouquin »›La nature admirable des pierres sous diverses couleurs et qualitez‹: De l’emploi du marbre dans l’architecture de Philibert De l’Orme«. De l’Orme empfiehlt im »Premier tome« Marmor als Baumaterial nur für einzelne dekorative Elemente, besonders für Kamine. Ausnahmsweise hat er bunten Marmor auch zur Dekoration von Fassaden eingesetzt, so am Schloss Anet. Mouquin zeigt, dass ihm darin andere französische Architekten wie Pierre Lecot und Jean Bullant gefolgt sind.

Die Glasmalerei an De l’Ormes Architektur ist das Thema von Dominique Cordelier, »Primatice et le Maître de la Tenture de Diane (Charles Carmoy?), auteurs des dessins pour les vitraux du château d’Anet«. Eine Reihe von Zeichnungen, die teilweise erst neuerdings bekannt wurden, ermöglicht es, Primaticcios Zyklus der Glasmalerei im Obergeschoss des Schlosses Anet besser zu rekonstruieren, zu deuten und in das Werk Primaticcios einzuordnen. Als letzter Beitrag zu den Handwerkern, mit denen De l’Orme zusammenarbeitete, steht Isabelle de Conihout, »À propos de l’exemplaire du Premier tome offert par De l’Orme à Catherine de Médicis: reliures et frontispices de la Renaissance française à décor architectural«. Die Autorin zeigt, dass sich auch die Gestaltung der Bucheinbände in Frankreich seit ca. 1540 vom italienischen Vorbild löste, das bis dahin bestimmend war.

Schließlich gehen sechs Beiträge auf De l’Ormes besondere Kenntnisse ein. Der Musikhistoriker Vasco Zara, betrachtet unter dem Titel »Les oreilles de De l’Orme« dessen Verhältnis zur Musik in ihren beiden Aspekten, der Ratio und dem Sensus. Was die Ratio betrifft, so stellt er entgegen der etablierten These fest, dass De l’Orme sich nicht an die Harmonielehre gehalten hat, die Francesco Zorzi in seinem Memorandum für S. Francesco della Vigna vertritt, sondern von der Sphärenharmonie träumte, wie sie Plato im »Timaios« beschreibt. Was den Sensus betrifft, so geht der Beitrag auf die Akustik von Kirchen oder Theatern ein und stellt die Frage, ob das auditive Erlebnis in einer Zeit, in der die Polyphonie aufblühte, die Architektur beeinflusst hat.

Der Mathematiker Jean-Pierre Manceau prüft in seinem Beitrag »La culture mathématique de Philibert De l’Orme« konkret, wie weit die mathematischen Kenntnisse De l’Ormes reichten. Obwohl sich De l’Orme mit Zitaten grundlegender antiker Autoren schmückt, war er kein besonderer mathematischer Kenner. Aber der Kontakt mit vielen Gelehrten sollte ihm genügend Kenntnisse für das, was er in seiner Profession brauchte, vermittelt haben. José Calvo Lópes behandelt »Philibert De l’Orme and Spanish Stereotomy«. Der minuziöse Vergleich der Abhandlung über Stereotomie im »Premier tome« mit spanischen Manuskripten und Gewölben führt zu dem Ergebnis, dass reziproke Einflüsse zwischen Frankreich und Spanien bestanden. Anfangs scheint Frankreich Spanien beeinflusst zu haben, dann entwickelten sich manche Arten der Konstruktion zuerst in Spanien, schließlich beeinflusste der »Premier tome« die spanische Stereotomie.

Drei weitere Autoren, außer Leproux, behandeln die Erfindung des aus kleinen Holzteilen zusammengesetzten Dachstuhls, die De l’Orme in den »Nouvelles Inventions« (1561) beschrieben hat. Sylvie Le Clech-Charton, »L’invention d’une nouvelle technique de charpente par Philibert De l’Orme, à travers l’édition d’une lettre adressée au Connétable de Montmorency«, publiziert einen Brief von 1557, in dem De l’Orme unter Bezug auf das 1549 vollendete Schloss La Muette seine Erfindung für das Schloss Châteaubriant empfiehlt. Frédéric Aubanton, »Les charpentes à la Philibert De l’Orme en région Centre-Val de Loire: état des lieux et perspectives«, stellt fest, dass De l’Ormes Methode der Eindeckung wenig Erfolg hatte, weil sie von der handwerklichen Tradition abwich und kostspieliger war als De l’Orme angenommen hatte. Valérie Nègre, »La contribution des artisans au rétablissement de la charpente de Philibert De l’Orme au XVIIIe siècle«, behandelt die Eindeckung der Pariser Kornhalle 1782–1783 nach De l’Ormes Methode und führt den geringen Erfolg, den die Methode zuvor hatte, auf ihren hybriden Charakter zurück, weil sie die Arbeit von Schreinern und Zimmerleuten erforderte.

Vier Beiträge sind dem Nachleben De l’Ormes gewidmet. Mireille Huchon, »Le château de La Punta, à Alata«, berichtet, welche Ergebnisse neue detaillierten Untersuchungen über die Einsetzung von Spolien aus den zerstörten Tuilerien in das Schloss von La Punta auf Korsika erbracht haben und zeigt, dass das Vorgehen, Teile von alten Bauten in Neubauten einzusetzen, im späten 19. Jahrhundert etliche Parallelen in Frankreich hat. Guillaume Fonkenell, »La Grande Galerie: une architecture delormienne?« demonstriert, dass die Grande Galerie des Louvre, obwohl sie einheitlich vom Stil De l’Ormes geprägt ist, erst seit der Regierung Heinrichs IV. von diversen Architekten errichtet wurde und somit den Einfluss De l’Ormes auf die Generation der Zeit um 1600 unterstreicht. Frédérique Lemerle, »Le XVIIe siècle français et Philibert De l’Orme« zeigt anhand der wichtigsten Quellen, dass De l’Orme, obwohl der »Premier tome« das Standardwerk der Architekturtheorie blieb, im 17. Jahrhundert nicht mehr als Vorbild für die französische Architektur galt, sondern eher als Manierist abgewertet wurde. Im Rahmen der neutraleren Kunstgeschichte, die sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts allmählich durchsetzte, erschien De l’Orme als der Klassiker der französischen Renaissance-Architektur, die typische mittelalterliche Elemente mit modernen verband. Darüber handelt Hadhami Ben Jemaa in seinem Beitrag über »Léon Palustre (1838–1894) et Philibert De l’Orme«.

Der Band schließt mit einer Bibliografie der historischen Quellen und der modernen Schriften sowie einem Namens- und Sachindex. Mit ihren präzisen Fragestellungen präsentieren die Beiträge eine Fülle von neuen Ergebnissen, historischen Fakten und plausiblen Perspektiven zu den unterschiedlichsten Gebieten, die De l’Orme und sein historisches Umfeld betreffen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Hubertus Günther, Rezension von/compte rendu de: Frédérique Lemerle, Yves Pauwels (dir.), Philibert De l’Orme. Un architecte dans l’histoire. Arts – sciences – techniques. Actes du LVIIe colloque international d’études humanistes CESR, 30 juin–4 juillet 2014, Turnhout (Brepols) 2015, 336 p. (Études renaissantes, 17), ISBN 978-2-503-56560-6, EUR 75,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66380