Der über 400 Seiten starke Band ist der dritte in der Reihe »Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum (1660–1789)« und nimmt den helvetischen Raum in den Blick, der ja sowohl als deutschsprachiger als auch nicht-deutschsprachiger Raum fungieren kann. Dieser Band vertieft insbesondere die Beziehung zum für das 18. Jahrhundert maßgeblichen französischsprachigen bzw. französischen Raum. Daraus ergibt sich auch die Artikulation der stringenten und reichhaltigen Einleitung durch Barbara Mahlmann-Bauer, die Gallotropismus, Gallophilie und Gallophobie differenziert voneinander abgrenzt und die Vielfalt der sich jedoch teilweise überschneidenden Praktiken verdeutlicht. Besonders gelungen ist die Ausdifferenzierung zwischen der Positionierung gegenüber der französischen Sprache einerseits und der französischen Kultur (Galanterie, Alamode) andererseits.

Die Spannung zwischen deutsch- bzw. niederdeutschsprachigem und französischsprachigem Raum in helvetischer Perspektive wird in ihrer wissenschaftlichen, politischen und sozialen Dimension dargestellt, um den wohl ästhetischen Fokus zu umrahmen, der den zentralen Platz einnimmt. Dies bedeutet zum einen, dass zentralen Figuren eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet wird wie etwa Johann Jacob Bodmer, Samuel König, Albrecht von Haller oder Jean-Jacques Rousseau. Zum anderen spielen neben Einzelfiguren die Vernetzungen zwischen den einzelnen Akteuren, und damit die Ideenzirkulation, eine zentrale Rolle.

Dieser Fokus hat für den Aufbau des Bandes zwei Folgen. Erstens spielen bei der Berücksichtigung unterschiedlicher Kommunikationsformate, wie sie verwendet wurden, Briefwechsel und Briefaustausch eine zentrale Rolle. Zweitens wird hinter dem etwas konventionelleren Begriff des »Kulturvergleichs« die Frage nach den Genealogien, insbesondere im Sinne der Ausdifferenzierung zwischen nationalen und intellektuellen Genealogien, immer wieder in den Mittelpunkt gerückt – zum großen Vorteil des Gesamtertrags des Bandes. Seine Gliederung in fünf Teile ermöglicht es, der Vielfalt dieser Aspekte sowohl im Kontext dieser umfassenden Fragestellungen als auch mit der größtmöglichen Genauigkeit in der Feinanalyse aussagekräftiger Texte nachzugehen.

Der erste Teil des Bandes ist der Epistolarkultur gewidmet, damit den für das Thema zentralen Primärquellen Rechnung tragend. Ruth Florack beleuchtet eingangs Briefsteller, die in der Kommunikationsstruktur eine zentrale Rolle spielen. Simone Boscani präsentiert im Anschluss exemplarisch die Korrespondenz Johann Jakob Scheuchzers und nimmt sowohl die Struktur des Briefnetzes als auch das Thema Mehrsprachigkeit in den Blick. Anett Lütteken geht anhand des Briefwechsels zwischen Johann Jacob Bodmer und Johann Heinrich Meister auf die zentrale methodische Frage nach dem Verhältnis zwischen großen Briefkorpora und Feinanalyse ein.

Teil 2 widmet sich der Polarität zwischen den zwei intellektuellen Zentren Zürich und Leipzig und wird komplett von der Herausgeberin verantwortet. Hier stehen zwei Quelleneditionen im Mittelpunkt, die von einem langen Aufsatz einleitend flankiert werden. Allein dieser Teil und die Einleitung zusammen genommen machen beinahe die Hälfte des Bandes aus, der damit sowohl Sammelband- als auch Editions- und Monografiecharakter hat. Dieser Teil rekonstruiert in allem Detail den Sprachen- und Literaturstreit zwischen Gottsched und den Schweizern.

Im Mittelpunkt des Aufsatzes von Barbara Mahlmann-Bauer stehen Briefe von Samuel König und Samuel Henzi an Bodmer in der Zeit der Polemik mit Gottsched. Bei den edierten Schriften handelt es sich um Pamphlete einerseits und einen Nachruf andererseits. Bei aller Sorgfalt in der den philologischen Standards gerechten Aufbereitung der erschlossenen und edierten Quellen kann man sich spätestens an dieser Stelle fragen, ob das traditionelle Buchformat wirklich geeignet ist, um die vielen Querbezüge zwischen Texten so wie diejenigen zwischen den Akteuren wiederzugeben. Wäre es nicht an der Zeit, im Kontext der Netzwerkforschung der Anschaulichkeit halber hybride Publikationsformate zu bevorzugen? Sicherlich hätte die fundierte Arbeit von Barbara Mahlmann-Bauer dadurch an Aussagekraft noch gewonnen.

Der dritte Teil des Bandes fokussiert auf intellektuelle Mehrsprachigkeit anhand von exemplarischen Persönlichkeiten. Angelica Baum analysiert den Briefwechsel von Julie Bondeli als belesene Vertreterin der Aufklärung, die ihre eigene Position reflektiert; Daniela Kohler beleuchtet den Briefaustausch zwischen Charles Bonnet und Lavater, in dem Gallophilie zur Versöhnung von Theologie und Naturwissenschaften verhilft. Florence Catherine nimmt (selbst in französischer Sprache schreibend) die französischen Briefe Albrecht von Hallers in den Blick um das differenzierte Bild zu präsentieren, mal Kosmopolit, mal Schweizer, den dieser je nach Briefpartner zu vermitteln bemüht ist. Auch Daniela Gay scheut vor einem umfangreichen Korpus nicht zurück, nimmt sie doch die Briefe Sulzers in den Blick. Sie geht auf die französischen Briefe ein, die einen Einblick in die Akademiearbeiten gewähren. Der letzte Beitrag in diesem Teil, der aus der Feder von Marie-Claire Hoock-Demarle stammt und wie auch der Beitrag von Florence Catherine in französischer Sprache verfasst ist, fokussiert auf Karl Viktor von Bonstetten, womit die Berner Intellektuellennetzwerke unter dem Blickwinkel des Tropismus in ihrer historischen Entwicklung dargestellt werden.

Im vierten Teil wird die Perspektive gewechselt, indem die deutsche Perspektive auf die Schweiz und Frankreich eingenommen wird. Jean Mondot analysiert den Briefwechsel zwischen Wieland und Sophie von La Roche. Anhand dieses Briefaustauschs werden zentrale Kategorien der Galanterie als Rhetorik kritisch hinterfragt, indem die Balance zwischen Reputationen und Emotionen in ein neues Licht gestellt wird. Linda Gil widmet sich, hier wieder auf Französisch, der Société littéraire typographique und der Frankophilie des Markgrafen Karl Friedrichs anhand eines unerschlossenen Briefwechsels. Hier steht die von der Société beförderte Edition des Briefwechsels zwischen Voltaire und Friedrich II. im Mittelpunkt. Auch im Beitrag von Ursula Goldenbaum spielt Voltaire eine zentrale Rolle, geht es ja um den Streit zwischen Maupertuis und König um die Freiheit und Unabhängigkeit der Gelehrtenrepublik.

Der fünfte Teil ist aber der Figur gewidmet, die in helvetischer Perspektive auch geografisch zentral liegt: Jean-Jacques Rousseau. Jesko Reiling positioniert Rousseaus Diskurs und seine Rezeption im Bereich der Dramentheorie. Katja Fries konzentriert sich auf die schweizerische Rezeption Rousseaus anhand von Bodmers Bearbeitungen seiner Schriften, die, wie gezeigt wird, zu Einschüben führen, die an manchen Stellen im Gegensatz zum Original stehen.

Dieser Band bezeugt nicht nur die Lebendigkeit der Aufklärungsforschung und die Wege die sich da noch auftun, um in unserem Verständnis der europäischen Wissenskonstruktion und -zirkulation fortzuschreiten. Er legt auch von ihrer Aktualität ein lebhaftes Zeugnis ab, und bietet insbesondere durch die praktizierte Mehrsprachigkeit neuen Zugang zu intellektuellen Zirkulationen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anne Baillot, Rezension von/compte rendu de: Barbara Mahlmann-Bauer (Hg./dir.), Gallotropismus aus helvetischer Sicht/Le gallotropisme dans une perspective helvétique, Heidelberg (Universitätsverlag Winter) 2017, 419 S. (Gallotropismus und Zivilisationsmodelle im deutschsprachigen Raum/Gallotropisme et modèles civilisationnels dans l’espace germanophone [1660–1789], 3), ISBN 978-3-8253-6735-0, EUR 65,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66383