Der Geschichte der portugiesischen bzw. sefardischen Friedhöfe und ihrer Grabsteine in der Western Sefardi Diaspora(Amsterdam, London, Hamburg, französische Atlantikküste, Karibik, USA) wird erst seit kurzem gebührende Beachtung geschenkt und diese einer grundlegenden Neubewertung unterzogen1. Saxa loquuntur – die ca. 40 000 Grabsteine der »Portugiesen« in der Alten und Neuen Welt erzählen die Geschichte einer über zweihundert Jahre währenden globalisierten Anpassungs- und Akkulturationsbemühung an das normative Judentum und an die christliche Mehrheitsgesellschaft.

Wie auch die in Stein gehauenen lateinischen Inschriften in den entlegensten Regionen des Römischen Reiches beredt Auskunft geben, so sind auch die sefardischen Grabsteine sprechende Zeugnisse dieser globalen Kultur. Sie machen die wechselvolle Lebensläufe der von der Iberischen Halbinsel vertriebenen Juden lesbar, die in Biografie, Epigrafie und Ikonografie bewegende Geschichten von Unterdrückung, Vertreibung, Glaubenswechsel und Rückkehr ins Judentum erzählen, aber auch von Emanzipation und Assimilation.

Mit ihren kunstvoll-verspielten Sprach- und Dekorationsmotiven bilden die »Portugiesensteine« ein globalisiertes sprachliches (Hebräisch vs. Portugiesisch, Spanisch, Französisch, Englisch) und künstlerisches (Dekoration, Steinmaterial, Steinform) Netzwerk, das zum Zeugnis einer spektakulären jüdischen Kunst geworden ist. Dieses Netzwerk eröffnet überraschende Einblicke in ein multikulturelles und multireligiöses Europa, funktionierte die sefardische Diaspora doch jahrhundertelang wie ein global village: Handel mit den portugiesischen Kolonien in Amerika und Asien, Reisen nach Portugal und Spanien, an wirtschaftlichen Interessen ausgerichtete Endogamie, hohe soziale Mobilität und nicht zuletzt das Festhalten an der portugiesischen Sprache verstärkten für einen langen Zeitraum das Zusammengehörigkeitsgefühl unter den »Portugiesen«.

Die Friedhöfe der »Portugiesen«, ihr biografisches, epigrafisches und ikonografisches Material für die jüdischen Religions- und Kulturwissenschaften nutzbar gemacht zu haben, ist das große Verdienst des bedeutenden französischen Judaisten, Historikers und Epigrafikers Gérard Nahon (1931–2018), der sich in zahlreichen Studien nicht nur mit der Sozial- und Mentalitätsgeschichte der portugiesischen Juden von Bordeaux und seiner Nachbargemeinden an der Atlantikküste beschäftigte, sondern vor allem ihre Friedhöfe und Epitafien zu seinem lebenslangen Forschungsobjekt gewählt hatte2. Über viele Länder und Erdteile zerstreut bildeten die neu-jüdischen Gemeinden nicht nur eine selbstbewusste und sich von den aschkenasischen Juden klar abgrenzende nação portuguesa, sondern auch die ersten jüdischen Gemeinden in Hamburg, Amsterdam oder in der Neuen Welt. Die neu gegründeten Gemeinden standen in stetigem Kontakt, wovon nicht zuletzt die portugiesische Sprache, ihre religiösen Traditionen, der Buchdruck und die eigenständige Sepulkralkultur Zeugnis ablegen.

Die Städte an der französischen Atlantikküste betrachtete Gérard Nahon immer als einen wichtigen Teil der Westlichen Sefardischen Diaspora. Studien über Bordeaux oder Bayonne waren für ihn daher niemals nur kleinteilige Regionalstudien. Bis zu seinem Tod im Jahre 2018 machte er wiederholt Vorschläge für die Realisierung eines internationalen sefardischen Friedhofs- und Epigrafieprojekts mit dem Ziel, auf der Grundlage der Friedhofs- und Grabsteinforschung eine länder- und sprachenüberschreitende Rhetorik der sefardischen Epigrafie und Ikonografie in Angriff zu nehmen und die Ergebnisse in eine prosopografische Datenbank zu überführen3. Zu diesem Projekt, für das Gérard Nahon nicht nur dank seiner Vorarbeiten zur Geschichte der Friedhöfe der ‹Portugiesen› an der französischen Atlantikküste einen hervorragenden Beitrag geleistet hat, sondern auch durch seine gründlichen Studien zu den sefardischen Gemeinden und ihren Friedhöfen in Hamburg, Amsterdam, London und Surinam, ist es durch seinen Tod leider nicht mehr gekommen.

Seine 2018 veröffentlichte Studie über die Grabsprache der »Portugiesen von Bordeaux«›, die späteren Autoren über Amsterdam oder London als Anregung dienten könnte, gliedert der Verfasser in fünf Kapitel. Das erste Kapitel führt ein in die globalisierte Religions-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte der nationportugaise (S. 19–31), das zweite gibt einen (leider nur) stark verkürzten Überblick über die »portugiesischen« Friedhöfe in Bordeaux und an der Atlantikküste sowie über die sefardischen Friedhöfe in der Alten und Neuen Welt. Hier sind ihm vor allem die gut erforschten Friedhöfe von Surinam und Hamburg wichtig, deren Antrag als World Cultural Heritage der UNESCO er von Beginn an tatkräftigt unterstützte (S. 33–56).

Das dritte Kapitel widmet Gérard Nahon den Sprachen der mono- und bilingualen spanischen, hebräischen, portugiesischen und französischen Epitafien (im Gegensatz zu den Inschriften in Hamburg und Amsterdam sind die Epitafien fast ausschließlich in spanischer Sprache oder enthalten isolierte spanische Wörter), der Ikonografie mit ihrer eigenständigen Form-, Bilder - und Symbolsprache sowie der Frequenz und Distribution der Vor- und Nachnamen (S. 57–91).

Im vierten Kapitel nimmt der Verfasser zahlreiche Motive auf, mit denen er sich schon in früheren Aufsätzen ausführlich beschäftigt hatte, hier aber in einer vorzüglich präsentierten vergleichenden Studie zur jüdischen Heilserwartung (Soteriologie) zusammengefasst (zum Beispiel Änderung des Vornamens bei einer Krankheit; der himmlische Sitz etc.). Das fünfte Kapitel ist mit der sorgfältigen Edition von 256, teils mit (leider nicht sehr guten) Abbildungen versehenen monolingualen und bilingualen Epitafien der umfangreichste Abschnitt des Buches. Nicht alle erfassten Steine sind heute noch in situ vorhanden, hier zitiert der Verfasser aus der umfangreichen Forschungsliteratur. Alle Grabsteine wurden vom Verfasser, wenn möglich, neu vermessen, mit Angaben über Steinmaterial und Steinbeschaffenheit versehen, mit früheren Editionen verglichen, so zum Beispiel mit denen von Georges Cirot4, ins Französische übersetzt und mit knappen editorischen Anmerkungen versehen.

Sieben historische Dokumente im Anhang, ein Quellenverzeichnis, eine umfangreiche Bibliografie (S. 361–383), ein alphabetisches Verzeichnis der in Bordeaux bestatteten Personen (S. 385–392), ein allgemeiner Index (S. 393–413) sowie ein Abbildungsverzeichnis (S. 415–417) beschließen das lesenswerte Buch. Gérard Nahon hat mit seinem letzten Buch eine detailreiche, auf langjähriger akribischer Quellenauswertung beruhende und stets überlegt argumentierende Arbeit vorgelegt, die nicht nur einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der französischen Portugiesengemeinden, sondern zugleich auch wertvolle Anregungen für weitere überregional vergleichende Studien zur Geschichte der Portugiesengemeinden in der Alten und Neuen Welt bietet.

1 Aviva Ben-Ur, Rachel Frankel, Remnant Stones. The Jewish Cemeteries and Synagogues of Suriname. Essays, Cincinnati 2009; Michael Studemund-Halévy, Biographisches Lexikon der Hamburger Sefarden, Hamburg 2000; Stanley Mirvis, Jewish Treasures of the Caribbean. The Legacy of Judaism in the New World, Atglen 2016; Laura Leibman, Messianism, Secrecy and Mysticism. A New Interpretation of Early American Jewish Life, London 2012.
2 Gérard Nahon, Inscriptions funéraires hébraïques et juives à Bidache, Labastide-Clairence (Basse-Pyrénées) et Peyrehorade (Landes), in: Revue des études juives CXXVII (1968), S. 222–252, 347–375, sowie in: Revue des études juives CXXVIII (1972), S. 195–230; Id., Communautés judéo-portugaises du Sud-Ouest de la France (Bayonne et sa région [Thèse de doctorat de IIIe cycle], Paris 1969; Id., Les »Nations« juives portugaises du Sud-Ouest de la France, 1684–1791. Documents, Paris 1981 ; Id., Juifs et Judaïsme à Bordeaux, Bordeaux 2003; Id., Nefusot Yehuda (Bayonne) et Beraha ve-Shalom (Surinam), Livres et lecture au XVIIIième siècle, in: Michael Studemund-Halévy (Hg.), A Sefardic Pepper-Pot of the Caribbean, Barcelona 2016, S. 362–428; Id., La Jébéra et les confréries de la nation juive portugaise de Bayonne au XVIIIe siècle, dans: Federica Francesconi et al. (Hg.), From Catalonia to the Caribbean: The Sephardic Orbit from Medieval to Modern Times. Essay in Honor of Jane S. Gerber, Leiden, Boston 2018, S. 154–183.
3 Michael Studemund-Halévy, Sea is History, Sea Is Witness: The Creation of a Prosopographical Database for the Sephardic Atlantic, in: Yosef Kaplan (Hg.), Religious Changes and Cultural Transformations in the Early Modern Western Sephardic Communities, Leiden, Boston 2018, S. 487–509.
4 Georges Cirot, Recherches sur les juifs espagnols et portugais à Bordeaux, Bordeaux 1908.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Michael Studemund-Halévy, Rezension von/compte rendu de: Gérard Nahon, Épigraphie et sotériologie. L’épitaphier des »Portugais« de Bordeaux (1728–1768), Turnhout (Brepols) 2018, 430 p., 59 ill. en n/b (Bibliothèque de l’École pratiques des hautes études – Sciences religieuses, 180), ISBN 978-2-503-51195-5, EUR 70,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66388