Wer schon einmal einen Spaziergang durch Aix-en-Provence gemacht hat, dem ist südlich des berühmten Cours Mirabeau möglicherweise ein ausgedehntes Stadtviertel aufgefallen, dessen Bebauung sich nicht nur durch ihre besondere Qualität und Repräsentativität, sondern auch durch ihre bemerkenswerte Homogenität und Geschlossenheit auszeichnet. Dieses Viertel, das Quartier Mazarin1, ist das Ergebnis einer 1646 eingeleiteten umfassenden Stadterweiterung, durch die die urbane Struktur von Aix stark verändert wurde. Im Jahre 1666, also nur zwei Jahrzehnte später, wurde dann etwa 30 km südlich von Aix ein weiterer großer städtebaulicher Eingriff initiiert, als im Herzen des heutigen Marseille, nördlich des Alten Hafens, mit der Errichtung des Quartier Belsunce2 begonnen wurde. Beide urbanistischen Großprojekte, sowohl das in Aix und als auch das in Marseille, gingen dabei auf offizielle Beschlüsse der französischen Krone zurück, die sich in diesem Kontext auch finanziell in der Provence engagierte.
Wenn Julien Puget die Erbauung des Quartier Mazarin und des Quartier Belsunce im Titel seiner an der Universität Aix-Marseille entstandenen Dissertation als »embellissements« bezeichnet, dann tut er dies im Rückgriff auf einen zeitgenössischen Quellenbergriff, der im 17. Jahrhundert mithin deutlich weiter gefasst war, als das im heutigen Sprachgebrauch der Fall ist. Thema von Pugets vergleichend angelegter Studie ist denn auch nicht die architektonische Gestaltung der beiden Stadtviertel. Vielmehr steht für den Autor die »fabrique de la ville« im Mittelpunkt des Interesses. Hierunter versteht Puget all jene Maßnahmen, die im Zuge der Planung, Organisation und Durchführung der städtebaulichen Eingriffe in Aix und Marseille ins Werk gesetzt wurden. Und weil diese Maßnahmen ausgesprochen vielfältig und komplex waren, nähert sich der Autor seinem Gegenstand auf stadt-, rechts- und verwaltungsgeschichtlichem ebenso wie auf sozial-, wirtschafts- und finanzgeschichtlichem Wege. Gleichzeitig knüpft Puget in seiner Arbeit an jüngere kultur- und sozialwissenschaftlich inspirierte Trends der historischen Forschung wie den Spatial Turn an, um (auch im übertragenen Sinne) den Konstruktionscharakter der neu entstehenden städtischen Räume erfassen zu können. Wobei angesichts von Pugets hinsichtlich seines eigenen Vorgehens mitunter etwas euphorischer schriftsprachlicher Rhetorik anzumerken ist, dass derartige Zugriffe freilich inzwischen fast mehr zum Mainstream als zu den ausgesprochen neuen Konzepten der Geschichtswissenschaft zählen.
Was Pugets Darstellung zu einer äußerst gewinnbringenden Lektüre macht, ist denn auch eher, dass hier jemand in bewundernswerter Detailarbeit und mit großer Präzision beharrlich das Ziel verfolgt, die Stadtviertel Mazarin und Belsunce quasi im Prozess ihrer Entstehung einzufangen. Auf diese Weise gelingt es Puget in der Tat, ein virulentes Desiderat der bisherigen stadtgeschichtlichen Forschung zu adressieren. Insofern haben wir hier anhand von zwei konkreten Fallbeispielen Grundlagenforschung im besten Sinne vor uns, die eine weitergehende Untersuchung mit den Instrumentarien entsprechender Konzepte und Theorien erst möglich macht.
Ausgehend von den bereits lange vor dem ersten Spatenstich einsetzenden administrativen Vorbereitungen, zeichnet Puget die Genese der Viertel Mazarin und Belsunce Schritt für Schritt nach. Dabei kann er zeigen, dass die Parzellen, in die der Grund und Boden der beiden Viertel zunächst aufgespalten wurde, bereits frühzeitig zu einer begehrten Ware in den Händen privater Akteure wurde. Neben konkreten wirtschaftlichen verbanden die Käufer der dort entstehenden Wohnobjekte mit ihrem neuen Besitz aber auch bestimmte gesellschaftliche Interessen. Finanzielles wurde so gewissermaßen in soziales Kapital umgemünzt. Ja, im Aixer Fall spiegelt die Entstehung des Quartier Mazarin sogar den bedeutenden Wandel wider, den der dortige Adel seinerzeit durchmachte.
Eine andere gesellschaftliche Gruppe, die von den umfassenden Baumaßnahmen in den beiden Städten betroffen war, waren naturgemäß die Handwerker. An ihrem Beispiel kann Puget deutlich machen, welch umfangreiche Ressourcen durch die urbanistischen Großprojekte in Aix und Marseille in Bewegung gesetzt wurden. Hierzu gehörten selbstverständlich auch die verarbeiteten Baustoffe, welche größtenteils aus der Umgebung der beiden Städte bezogen wurden. Nachdem die Bauarbeiten weitestgehend zum Abschluss gekommen waren, ging es dann darum, die neu entstandenen städtischen Räume in die bereits bestehenden Strukturen zu integrieren. Auch diesen Prozess zeichnet Puget detailliert nach – und gelangt so zu dem weitreichenden Schluss, das Quartier Mazarin und das Quartier Belsunce hätten offenbar am Beginn einer neuen Ära des Städtebaus gestanden.
Das vielleicht wichtigste Ergebnis von Pugets Studie ist aber wohl die Tatsache, dass es neben der französischen Krone und den beiden Kommunen v. a. die Bewohner von Aix und Marseille waren, die die fabrique de la ville gestalteten und vorantrieben. Denn zwar gab das Ancien Régime wie gesehen gewissermaßen den Startschuss zu den urbanistischen Eingriffen in den beiden Städten. Doch kann Puget zeigen, dass private Akteure vor Ort schon bald auf so gut wie allen Ebenen des komplexen Entstehungsprozesses die Initiative an sich zogen – ein interessanter Befund, der mit Blick auf das 17. Jahrhundert auch für den Bereich des Städtebaus die Bedingtheiten und Grenzen des französischen Absolutismus verdeutlicht.
Für diesen und viele andere bedeutende Erkenntnisgewinne zahlt der Leser von Pugets Buch allerdings auch einen – wenngleich nicht sehr hohen – Preis. Denn wie bereits angedeutet, neigt Puget dazu, die inhaltlichen und methodischen Fortschritte, die seine Arbeit im Vergleich zur bisherigen Forschung erzielt, mit etwas zu viel Emphase vorzutragen. Das macht die Lektüre des Buches mitunter ein bisschen anstrengend.
Weniger leicht verschmerzen als diese etwas lästige Eigenheit lässt sich das Versäumnis, dass der Vergleich zwischen den städtebaulichen Großprojekten in Aix und Marseille zwar in Bezug auf nahezu alle Aspekte des Entstehungsprozesses durchgeführt, am Ende des Buches jedoch nicht systematisch ausgewertet wird. Denn dadurch nimmt Puget sich und seiner Leserinnen- und Leserschaft die Möglichkeit, strukturelle Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen den beiden untersuchten Städten zu erkennen und auf diese Weise vielleicht weitergehende Rückschlüsse auf die Entwicklung von Aix und Marseille im 17. Jahrhundert zu ziehen.
Nichtsdestotrotz handelt es sich bei Pugets Dissertation um eine wichtige Studie, von der sowohl die französische Stadtgeschichtsschreibung als auch die provenzalische Regionalgeschichtsschreibung profitieren sollten. Dasselbe gilt für die Aixer und Marseiller Stadtgeschichtsschreibung, zumal Pugets Arbeit über die bereits vor mehreren Jahren erschienene Dissertation von Inès Castaldo zum Quartier Mazarin noch einmal deutlich hinausgeht3. Dass Studien wie die von Puget und Castaldo die Bedeutung von lokalen und regionalen Traditionen für die französische Geschichte unterstreichen, erscheint auch deshalb wichtig, weil die lange und reiche Vergangenheit Frankreichs in letzter Zeit wieder verstärkt in Kategorien des roman national dargestellt wird. Dabei ist diese nationale Erzählung, bei Lichte betrachtet, nicht weniger eine auffällig homogene und geschlossene Konstruktion als das Quartier Mazarin in Aix-en-Provence.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thorsten Busch, Rezension von/compte rendu de: Julien Puget, Les embellissements d’Aix et de Marseille. Droits, espace et fabrique de la ville aux XVIIe et XVIIIe siècles, Rennes (Presses universitaires de Rennes) 2018, 370 p. (Histoire), ISBN 978-2-7535-6520-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66389