Reformierte Pfarrer sind Priester, ja, sie führen die Rolle der levitischen Priester des Alten Testaments fort – zumindest im Zürich des 16. Jahrhunderts unter dem Einfluss des Antistes (Vorsteher) Heinrich Bullinger, der über 40 Jahre lang die kirchlichen Geschicke in Zürich leitete. So die These von Jon D. Wood in seinem Buch, das wohl vieles aus seiner Dissertation über Heinrich Bullingers »Sermones Synodales« von 2008 an der Universität Ann Arbor aufnimmt.

Wie kam Bullinger zu seiner besonderen Amtsauffassung?

Nach der für die evangelische Sache katastrophalen Schlacht bei Kappel 1531, in der Huldrych Zwingli starb, wurde Heinrich Bullinger schließlich sein Nachfolger in Zürich. Bullinger stand nach dieser Katastrophe mit Überzeugung hinter der endzeitlichen Erwartung, dass die Wiederkunft Christi bevorstand und es deshalb gemäß Matthäus 24 Aufgabe der (institutionalisierten) Pfarrerschaft in Zürich war, »treue und kluge Knechte« zu sein, die durch ihre Verkündigung und ihren Lebensstil (doctrina und vita, »leer und leben der predicanten«) diesem Anspruch gerecht zu werden. Dazu erläutert der Verfasser die Herkunft der endzeitlichen Erwartung seit den Tagen der frühen Christenheit über Joachim von Fiore bis zu Bullingers Zeitgenossen, besonders seinen Vorgänger Zwingli, aber auch in Kontrast zu Calvin.

Mit seiner Auffassung eines endzeitlich motivierten speziellen Pfarrerstandes in Zürich verband sich für Bullinger auch seine Theologie des alt- und dann neutestamentlichen Bundes Gottes mit seinem Volk. Dieser Bund gilt als Verpflichtung aufseiten der Menschen, dem Volk Gottes, besonders auch den Predigern, Gottes Ansprüchen gerecht zu werden. Gottes Bundestreue und Gegenwart zeigt sich in Bullingers berühmt gewordener Auffassung: »Die predig [sic] deß worts Gottes ist Gottes wort«.

Durch dieses Verständnis grenzte sich Bullinger gegen zwei Seiten ab:

Einmal gegen die »papistischen« Priester, die nur durch ihre sakramentale Tätigkeit definiert wurden (bzw. den character indelebilis), zum andern gegen die Täuferbewegung, die überhaupt kein institutionalisiertes Amt kannte.

Scharfe Attacken ritt Bullinger gegen seine Pfarrer in den »Sermones Synodales«, (Aufzeichnungen Bullingers für die Zusammenkünfte der Pfarrerschaft), der nach dem Verfasser so wichtigen Quelle. Denn diese Pfarrer waren nach Bullinger eben keine »treuen und klugen Knechte« (Matthäus 24,45) in Erwartung des Endgerichts, sondern es hieß von ihnen: »Kummend nit uß dem wirtzhuß« (p. 67); auch musste Bullinger sie ermahnen»ein pfarrer soll nitt schleglen« (p. 66, Anm. 120). Dagegen setzte er die Verpflichtung zur Heiligkeit, d. h. anstelle der Trunkenheit sollte das Bibelstudium treten (hier sei auf die »Prophezey« in Zürich verwiesen, eine Art von öffentlichem Bibelstudium, sowie die Schola Tigurina als frühe Hochschule und Ausbildungsstätte für den Pfarrernachwuchs, die beide unter Bullingers Einfluß entstanden).

Trotz des allgemein-reformatorischen Prinzips des »Priestertums aller Gläubigen« war für Bullinger die besondere Institution des pastoralen Amts wichtig, die er auch als kollektives Bischofsamt verstand. Auf der zweimal jährlich zusammentretenden Synode aller Pfarrer (und auch von Vertretern des Rats der Stadt Zürich) standen deshalb doctrina und vita im Vordergrund, stichwortartig hat Bullinger dafür die »episcopi Diagrams from the Sermones Synodales« niedergeschrieben, die der Verfasser im Anhang abdruckt. Liest man diese, so fällt auf, dass neben den biblischen Belegstellen zu den einzelnen Punkten oft die »familia sancta« oder »integra« erwähnt wird, aber auch die »cura pauperum« und die »Visitatio infirmorum«.

Cura pauperum, Sorge für die Armen – war das aber nicht eher Aufgabe der weltlichen Macht, in diesem Fall des Rats der Stadt Zürich? Hier erhebt sich die Frage nach dem Verhältnis Kirche-Staat bei Heinrich Bullinger. An den erwähnten Synoden hatten immer auch Vertreter des Rats, ja der Bürgermeister, eine Stimme. Im Unterschied zu Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre für das Verhältnis von Staat und Kirche ging es Bullinger um » clerical integrity in tandem with political institutions« (p. 57). Auch der Rat der Stadt Zürich verstand sich als Teil der (reformierten) Christenheit, ja, von Jesu Vision der »Stadt auf dem Berge«.

Dies schloss aber nicht aus, dass die Pfarrer deutlich politische Missstände auf der Kanzel anprangern konnten!

Insgesamt ist dieses Buch ein guter Beitrag um die Situation im reformierten Zürich zu Beginn der Konfessionalisierung zu verstehen und Heinrich Bullinger dabei als wichtigen und doch auch eigenständigen Reformator wieder neu ins Bewusstsein der Kirchengeschichtsschreibung zu bringen. Die sorgfältige Auseinandersetzung des Verfassers mit den Ergebnissen anderer Forscher und Forscherinnen zu Heinrich Bullinger ist dabei hervorzuheben.

Kritisch anzumerken wäre nur, dass leider die oben erwähnte Dissertation des Verfassers zu der wichtigen Quelle der »Sermones Synodales« weder gedruckt noch online verfügbar, sondern nur als Faksimile in der Zentralbibliothek in Zürich einsehbar ist. Dies ist insofern schade, als Jon D. Wood sich in seinem Buch als Hauptquelle für seine These gerade auf die »Sermones Synodales« bezieht.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Elisabeth Schneider-Böklen, Rezension von/compte rendu de: Jon D. Wood, Reforming Priesthood in Reformation Zurich. Heinrich Bullinger’s End-Times Agenda, Göttingen (Vandenhoeck + Ruprecht) 2018, 150 p. (Reformed Historical Theology, 54), ISBN 978-3-525-57092-0, EUR 50,00., in: Francia-Recensio 2019/3, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66399