Dies ist ein merkwürdiges, in einigen Punkten auch befremdliches Sammelwerk. Der Sinn der Publikation erschließt sich erst voll im dritten Teil nach fast 300 Seiten: Es gibt eine belgisch-französische Initiative, die die Gräberlandschaft an der französisch-belgischen Westfront des Ersten Weltkrieges zum Weltkulturerbe der UNESCO befördern will. Dazu fand eine internationale Konferenz statt, deren Beiträge hier wohl zum Teil versammelt sind. Der letzte Teil enthält den Antrag selbst, einen sehr gut informierten Beitrag von Élise Julien zur Begründung des universellen Wertes der Grabstätten (eine Voraussetzung für die UNESCO-Anerkennung).
Den Höhepunkt bildet eine von 14 Personen kollektiv verfasste 45-seitige »Notice historique« mit der Rekonstruktion der internationalen Entwicklung vom Massengrab zum individuellen Grab, oft in großen repräsentativen Friedhöfen, als Zeichen eines wichtigen kulturellen und anthropologischen Bruches. Dahinter verbirgt sich eine kenntnisreiche, mit Zahlen angereicherte, gut reflektierte Geschichte der Soldatengräber und des staatlichen beziehungsweise regionalen Umgangs damit. Das reicht bis in die Gegenwart. Auf eine Liste der Soldatenfriedhöfe aller Seiten folgt ein 60-seitiger Abriss kunst- und architekturgeschichtlicher Gemeinsamkeiten und nationaler Differenzen. Hierüber schreibt Anne Biraben, offenbar eine Architektin, gut illustriert mit 26 Farbabbildungen.
Ein politikwissenschaftlicher Essay von Valérie Rosoux schließt den Band. Sie nimmt das (von Luisa Passerini vor Langem formulierte) Paradox auf, dass die Kriegs- und Totenerinnerungen je nach sozialer Gruppe (und Nation) geteilt, das heißt nach meinen Worten in unterschiedlichen Erinnerungsgemeinschaften verteilt sind. Doch das sei die Voraussetzung dafür, dass diese Erinnerungen heute geteilt (also ausgetauscht) werden können. Dem ist beizupflichten.
Der übrige Band ist recht heterogen geraten. Es sticht hervor Jay Winters »In Place of Healing«, ein Beitrag, mit dem er an seine grundlegenden Arbeiten von 1997/2017 anknüpft. Er reflektiert komparativ und diachron unter anderem über den Wandel der Erinnerung im Zuge nicht mehr nur sakraler Elemente und spitzt dabei prägnant auch die von ihm mitverfasste »Notice historique« zu. Ansonsten gibt es einen bunten Strauß von zum Teil relativ beliebigen Bestandsaufnahmen oder Materialsammlungen, die aus mehreren Disziplinen stammen, oft bebildert, so etwa ein Beitrag über Einträge in Totenbüchern in den Nekropolen (Stéphane Tison).
Wiederholt wird die Geschichte französischer einschlägiger Bestattungsvorschriften seit Napoleon I dargelegt; ganz andere Horizonte kommen ins Blickfeld, wenn etwa Annette Becker kenntnisreich über das heutige Ruanda berichtet – auch dort diskutiert man über Erinnerung als Weltkulturerbe; aber gehört das zur Jahrhundertfeier (centenaire)? Mitherausgeber Stéphane Tison betont einleitend, man wolle nicht unbedingt dem staatlich sanktionierten Erinnerungskult folgen; und das gelingt gelegentlich, auch methodisch reflektierend.
Bemerkenswert ist noch etwas Anderes. Als das Museum zum Ersten Weltkrieg (Historial de la Grande Guerre) in Péronne 1992 eingeweiht wurde, nahm es programmatisch drei Perspektiven ein: die französische, britische und deutsche. Die prominente Eröffnungstagung wurde ebenso multilateral von allen Seiten dokumentiert. Annette Becker, die damals unter anderem mit ihrem Vater Jean-Jacques Becker den französischen Part mitgestaltete, schildert in diesem Band in ihrem Vorwort über »Das Begräbnis« (L‘ensevelissement) ausführlich die alliierten Vorwürfe über deutsche »Kadaverfabriken«, also die Verarbeitung von menschlichen Leichen wie bei Tieren. Diese Debatte wurde 1925 erneut aufgenommen und nun auch offen als Teil von Kriegspropaganda eingeschätzt, fake news aus der Kriegszeit sozusagen. An dieser Stelle dient das Beispiel aber nur der Demonstration unterschiedlicher Perspektiven von Wahrheit, ohne dass die Sache selbst hinreichend geklärt würde.
Deutsche Historikerinnen und Historiker sind an dem Band nicht beteiligt (es sei denn, der sonst nicht nachgewiesene Olivier Janz in der notice wäre der Berliner Historiker Oliver Janz), auch eine Perspektive zu deutschen Soldatenfriedhöfen fehlt weitgehend. Verständlicherweise spielen belgischer und französischer Umgang mit den Kriegsgräbern die größte Rolle, auch Großbritannien und die Staaten des Commonwealth, allen voran Australien, sind quantitativ und mit Historikern aus diesen Ländern gut vertreten. Dem deutschen Kriegsgräberfriedhof Boult-sur-Suippe ist ein von vier französischen Archäologen durchgeführte Fachgrabung gewidmet, die methodisch zwischen prähistorischer Grabung und Gerichtsmedizin angesiedelt ist. Der Beitrag dazu legt mehr oder weniger objektive, aber makabre Grabungsdetails der Leichenreste dar ohne den Versuch einer historischen Auswertung. Nachfolgende Beiträge zu anderen Ziviltoten oder Umbettungen versuchen sich im Gegensatz dazu an kulturellen und erinnerungspolitischen Kontextualisierungen.
Es liegt also ein merkwürdiger Versuch vor, die in der Tat eindrucksvollen, zum Teil auch monumentalen Bemühungen um Grab- und Denkmalpflege zu dokumentieren, dies aber allein aus Sicht der damaligen Alliierten und seitens Wissenschaftlern aus diesen Ländern. Gewiss wird in den eingangs genannten übergreifenden Beiträgen, die den UNESCO-Antrag flankieren, immer wieder einmal angemessen die Seite der Kriegsgegner benannt. Die hier vorgenommene einseitige Perspektivverengung ist jedoch insofern markant, als dass sie sich bis ins umfängliche Literaturverzeichnis niederschlägt. So bringt beispielsweise Annette Becker 24 eigene Beiträge unter, demgegenüber wird ein deutscher Sammelband – mehrfach in seine einzelnen Beiträge zerlegt – vorgeführt. Gewiss werden auch andere deutsche Titel genannt, aber hier fehlt doch Wichtiges.
Noch eine letzte kritische Anmerkung: Annette Becker zitiert einleitend und dankbar einen eindrucksvollen Holzschnitt des damals in Frankreich lebenden spanischen Künstlers Eduardo Garcia Benito aus dem Jahr 1917 und bildet ihn im Text ab. Dieser Holzschnitt erscheint im Buchdeckel, um Titel und Rücktitel laufend, anscheinend im Ausschnitt wieder. Er wird dabei durch die üblichen und umfänglichen Titeleien und Werbetext unterbrochen, die in schwarz-weiß gesetzt sind. Der Holzschnitt selbst wird seitenverkehrt gedruckt und in ein fahles Gelb-Orange getaucht. Soll die Verschandelung eines solchen Kunstwerkes zum bloßen Werbeikon ein Zeichen für einen angemessenen Umgang mit Erinnerung sein, den der Band ja gerade innovativ signalisieren will?
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Jost Dülffer, Rezension von/compte rendu de: Annette Becker, Stéphane Tison (dir.), Un siècle de sites funéraires de la Grande Guerre, Nanterre (Presses universitaires de Paris Nanterre) 2018, 496 p., nombr. ill. (Les passés dans le présent), ISBN 978-2-84016-328-2, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66573