In einer Traditionslinie mit Heinrich Himmler?
Im letzten Jahr erschien eine über 800 Seiten umfassende Studie zum Bundesministerium des Innern – einem der wichtigsten Querschnittsressorts auf Bundesebene – und seinem Pendant in der DDR. Ziel dieser Studie, deren Untersuchungszeitraum 1969/1970 endet, war es, Kontinuitäten sachlicher und personeller Natur »nach dem Nationalsozialismus« in den Innenministerien der beiden deutschen Teilstaaten zu erforschen. Damit ist – aus öffentlichen Mitteln finanziert und in einem politischen Vorgaben folgenden Forschungsdesign – eine weitere voluminöse Studie zur Ministerialverwaltung der Nachkriegszeit entstanden.
Den Anfang einer langen Reihe von Projekten der Auftragsforschung zu NS-Geschichte und NS-Belastung hatten seit den 1980er Jahren deutsche (und auch Schweizer) Wirtschaftsunternehmen, Banken und Versicherungen gemacht, die ihre eigene Unternehmensgeschichte und die Verstrickung in die NS-Verbrechenskomplexe, insbesondere den Holocaust untersuchen ließen1. Dies geschah zumeist jedoch erst unter dem Druck von Sammelklagen in den USA. Erst unter diesem Druck wurden die Inhaber herrenloser Konten und Versicherungspolicen entschädigt. Später folgte die Entschädigung der Zwangs- und Sklavenarbeiter/-innen der NS-Wirtschaft. Beides machte eine Erforschung der Unternehmensgeschichten notwendig. Kritiker konnten nicht umhin, in dieser Forschung einen vom Shareholder-Value nicht unbeeinflussten Wunsch nach »Reinwaschung« zu sehen, einer Katharsis, durch die auch im Wettbewerb nachteilige »Schatten der Vergangenheit« abgestreift werden sollten2.
Es dauerte noch einige weitere Jahre, bevor auch Behörden damit begannen, sich mit der NS-Geschichte ihrer Vorgängerinstitutionen und ihres Personals zu befassen. Als der Verfasser als Referent im Bundesministerium des Innern (BMI) kurz nach der Jahrtausendwende im Zuge seiner eigenen Forschung zum Staatssekretär im Reichsministerium des Innern, Wilhelm Stuckart3, anregte, dass sich das BMI mit seiner NS-(Vor-)Geschichte beschäftigen solle, wurde ihm von einem Kollegen aus der Leitungsebene übermittelt, dass Bundesminister Otto Schily dieses Ansinnen brüsk zurückgewiesen habe: Er wolle sich doch nicht in eine Tradition mit Heinrich Himmler stellen lassen. So hatte es Anfang der 1960er Jahre tatsächlich die DDR-Propaganda dargestellt; das Neue Deutschland titelte: »Himmlers Schergen in Schröders Diensten« und bezeichnete das Bonner Innenministerium als »Faschistennest«4.
Es dauerte bis zum Jahre 2005 bis das Auswärtige Amt (AA) – als erstes Bundesministerium – eine Unabhängige Historikerkommission einberief und sie damit beauftragte, seine Geschichte »in der Zeit des Nationalsozialismus, den Umgang mit dieser Vergangenheit nach der Wiedergründung des Auswärtigen Amts (AA) 1951 und die Frage personeller Kontinuität bzw. Diskontinuität nach 1945« zu erforschen. Dies geschah, obschon die Rolle des AA und die NS-Belastungen der Diplomaten – im Vergleich zum Innenressort – bereits recht gut erforscht waren5. Den Anlass für die Einberufung der Historikerkommission im AA bildete ein hausinterner Streit um die Nachrufpraxis, die auch ehemalige NS-Diplomaten nicht ausschloss. Nicht zuletzt wohl unter dem Druck von parlamentarischen Anfragen6 zogen weitere Bundesministerien und -behörden nach, erst recht nachdem im Oktober 2010 die Historikerkommission des AA ihren Abschlussbericht »Das Amt und die Vergangenheit« vorgelegt hatte, um den sich eine kontroverse öffentliche Debatte entwickelte7.
Im Koalitionsvertrag der 18. Legislaturperiode des Deutschen Bundestages zwischen CDU, CSU und SPD, vom 27. November 2013, verschrieb sich die Koalition dem Ziel, die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien und Bundesbehörden voranzutreiben und in einer Bestandsaufnahme den aktuellen Forschungsstand und bestehende Forschungsbedarfe zur Aufarbeitung der frühen Nachkriegsgeschichte von Ministerien und Behörden in der Bundesrepublik Deutschland und der DDR zu ermitteln8.
Auch der aktuelle Koalitionsvertrag vom 7. Februar 2018 legt fest: »Auch die fortgesetzte Aufarbeitung der NS-Vergangenheit von Ministerien, Bundesbehörden sowie des Deutschen Bundestags wird weiter unterstützt«9.
In diesem Umfeld entstand auch die vorliegende Studie, die den Auftakt zu einer Reihe von Einzeluntersuchungen bildet10. Sie enthält zahlreiche interessante Ansätze, um der Verwaltungsgeschichte und der neueren Zeitgeschichte in Deutschland neue Impulse zu verleihen.
Positiv hervorzuheben ist zunächst – obwohl dies eigentlich ein Gebot akademischer Redlichkeit ist – , dass in der Studie »Hüter der Ordnung« nicht nur die Direktoren der beiden zeithistorischen Großforschungseinrichtungen, des Zentrums für Zeithistorische Forschung in Potsdam und des Institut für Zeitgeschichte München/Berlin, Frank Bösch und Andreas Wirsching, die auch als Herausgeber fungieren, prominent in Erscheinung treten. Die acht überwiegend jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler durften ihre Beiträge namentlich kennzeichnen11. Unter diesen waren allerdings nur zwei, die schon vor dem Projekt durch einschlägige Monographien zum Forschungsgegenstand in Erscheinung getreten waren12. Dies hat stellenweise zu einem frischen unverstellten Blick beim Forschen beigetragen, lässt aber manchmal auch Erfahrungswissen bei der Einordnung und Bewertung der Forschungsergebnisse vermissen.
Wünschenswert wäre beispielsweise gewesen, dass das Forschungsprojekt eine Einordnung in eine weitergehende europäische Perspektive, etwa die des »Postwar« Europe (Tony Judt) vorgenommen und nach den 1945 herrschenden Bedingungen für die Demokratisierung und Befriedung des Kontinents gefragt hätte. Angesichts der Bedeutung der Systemkonfrontation des Kalten Krieges, die in der Gegenüberstellung der Innenministerien der beiden deutschen Teilstaaten eine zentrale Rolle spielte, wäre dies bestimmt ertragreich gewesen. Vielleicht liegt diese mangelnde europäische Kontextualisierung aber auch am Forschungsgegenstand: Kontinuitätsstudien zur Ministerialverwaltung nach 1945 dürften in Europa nahezu einzigartig sein. Der personelle Umgang mit Besatzungs- und Kollaborationsgeschichte der westlichen Nachbarstaaten und die Ausgangsbedingungen der dortigen Nachkriegsentwicklung hätten ansonsten sicherlich eine spannende Vergleichsgrundlage geboten. Dies hätte allerdings auch ein internationaleres Forschungskollektiv notwendig gemacht: Anders als beispielsweise bei der Erforschung des Reichsarbeitsministeriums13 waren in das Forschungsvorhaben zu den Innenministerien mit Ausnahme von Jane Caplan, die Mitglied des Beirats der Forschungsgruppe war, keine weiteren ausländischen Wissenschaftlerinnen oder Wissenschaftler eingebunden14.
Angesichts ihres breiten Ansatzes hätte die Studie zudem durch die Einbindung von Vertreterinnen und Vertretern anderer Forschungsdisziplinen, wie etwa der Rechts- und Verwaltungswissenschaften, aber auch der Soziologie, Anthropologie und Psychologie noch profitieren können. Dies gilt insbesondere, da sie neben der komplexen Frage der NS-Belastung auch wichtige weitere, eher kulturwissenschaftliche als klassisch politikhistorische Themen in den Blick nimmt: Es geht in der Studie ganz zentral auch um Mentalitäten und Prägungen der Beamtinnen und Beamten, ihr Selbstverständnis und ihre Netzwerke. Mithin wichtige Faktoren, die einen großen Einfluss auf Karriereverläufe vor und nach 1945, die Frage der Entnazifizierung und die Personalpolitik zum Aufbau der Ressorts nach 1949 hatten.
Dessen ungeachtet ist die Studie zu den Innenministerien in Ost- und Westdeutschland jedoch ein wichtiger weiterer Mosaikstein für die Geschichte der beiden deutschen Staaten von 1949 bis 1969, zumal es sich bei den betrachteten Innenministerien nicht nur um Fachressorts mit eng begrenzten Aufgaben handelt, sondern um wichtige Querschnittsressorts, denen eine Schlüsselrolle für die öffentliche Sicherheit, Gesetzgebung und Verwaltung zukam.
Anders als beim Auswärtigen Amt15 oder beim Reichsjustizministerium16 ist die Rolle des Reichsinnenministeriums im Nationalsozialismus (und auch davor) bisher allenfalls partiell erforscht17. Es ist daher schade und eigentlich kaum nachvollziehbar, weshalb das BMI den Forschungsauftrag auf die Kontinuitäten der Nachkriegszeit begrenzt hat und sich die Historikerinnen und Historiker dieser Beschränkung gebeugt haben. Andreas Wirsching und Frank Bösch benennen dieses Defizit in ihrer Einleitung freimütig, indem sie hervorheben, dass das Reichsinnenministerium eigentlich »bisher kaum erforscht« sei »und eine Analyse dieses Ressorts für die Weimarer Republik und den Nationalsozialismus eine weitere Untersuchung erforderlich gemacht hätte« (S. 23).
So beschränkt sich ihre Studie auf die Untersuchung von Kontinuitäten und stützt sich hierbei auf das in biografischen Studien – darunter diejenige des Autors – überlieferte Forschungswissen. Hierbei wird die Chance einer eigenen Untersuchung und Bewertung vergeben, mit der Folge, dass eine umfassende Untersuchung von »Kontinuitäten« gerade in der Sachpolitik leider weitgehend auf der Strecke bleibt: Das Autoren-/Autorinnenkollektiv der »Hüter der Ordnung« erhielt keinen Raum, eigene Antworten auf die Fragen zu geben, welche Bereiche – außerhalb der NS-Juden- und »Euthanasiepolitik« sowie der Expansions- und Unterdrückungspolitik im Zweiten Weltkrieg – spezifisch »nationalsozialistisch« waren oder vielleicht auch schon auf Entwicklungen im Kaiserreich oder in der Weimarer Zeit zurückgingen, wie dies die Forschung etwa für den Bereich der »Fürsorge«-18 oder der »Zigeunerpolitik«19 annimmt.
Die Untersuchung bloßer personeller Kontinuitäten ist demgegenüber naturgemäß einfacher: hier reicht oft ein Blick in die Geschäftsverteilungspläne vor und nach 1945, um festzustellen, welche Akteure – und in seltenen Fällen Akteurinnen – ihre Karrieren nach 1945 an gleicher oder ähnlicher Stelle fortsetzen konnten. Die wirklich spannende Frage, ob sich hierbei ihre politischen Überzeugungen und Zielsetzungen verändert haben und warum dies geschah oder inwiefern alte Überzeugungen auch die Nachkriegspolitik prägten, lässt sich jedoch ohne deren gründliche Untersuchung im Kontext des Vorgängerressorts nur ungenügend beantworten.
Dieses grundlegende – aus den politischen Vorgaben der Auftragsforschung resultierende Problem – wird auch nicht dadurch geheilt, dass die Studie für sich in Anspruch nimmt, durch eine deutsch-deutsche Perspektive besonders innovativ zu sein, da dies Vergleichsmöglichkeiten für die unterschiedlichen Neuanfänge in Ost und West geboten habe. Die Beobachtung, dass sich Ost- und West-Deutschland nicht isoliert voneinander entwickelten und miteinander interagierten, ist nicht neu und verspricht 30 Jahre nach dem Untergang der DDR nur noch einen begrenzten Erkenntnisgewinn. So ist es auch kaum verwunderlich, dass die Studie hier letztlich Bekanntes bestätigt: Die personellen NS-Kontinuitäten in der DDR-Innenverwaltung waren deutlich geringer als im Westen, und ja, der dort beschrittene Weg macht deutlich, dass man wohl auch im Westen ohne schwer belastetes NS-Personal eine leistungsfähige Verwaltung hätte aufbauen können.
Beobachter unkten bei der Auftragsvergabe durch das unionsgeführte BMI, dass es den Auftraggebern politisch wohlmöglich darum gegangen sei, durch die Einbeziehung der DDR Parallelen zwischen den autoritären Strukturen des »Dritten Reiches« und der DDR sichtbar zu machen. Gerade diese vermeintliche politische Erwartung erfüllt die Studie jedoch nicht. Vielmehr machen die Autorinnen und Autoren die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen und Strukturen in Ost und West sehr deutlich. Das DDR-Postulat von der staatlichen Diskontinuität – mit allen ihren Folgen, etwa bei der Verweigerung der Entschädigung von Opfern des Holocaust – wird heutzutage freilich ebenso kritisch hinterfragt wie die herrschende Kontinuitätslehre im Westen, die in der Bundesrepublik einen Rumpfstaat des Reiches sieht.
Inhaltlich analysiert die Studie die Biographien des leitenden Personals ab der Ebene der Referatsleiter (Frauen in Führungspositionen waren im Untersuchungszeitraum sowohl im Innenministerium der DDR wie auch im Westen sehr rar) und untersucht, welche Folgen sich aus der Personalauswahl für die Verwaltungstätigkeit der Behörde ergaben. Die Verfasserinnen und Verfasser stellen Biographie- und Karriereverläufe in Ost und West dar, um hieran einen möglichst differenzierten Belastungsbegriff zu entwickeln. Hier hätte man sich gewünscht, dass die typischen Exkulpationsnarrative der Betroffenen noch kritischer hinterfragt worden wären. So hat die jüngere Forschung deutlich gemacht, dass SS-Ehrenränge oder etwa die Mitgliedschaft in der Reiter-SS keinesfalls immer so harmlos waren wie sie von den Zeitgenossen unter dem Eindruck der alliierten Strafverfolgung und Entnazifizierung dargestellt wurden20. Viele erfanden für sich nachträglich – und glaubten im Zuge ihrer erfolgreichen Integration in die Nachkriegsgesellschaft wohl später oftmals auch selbst daran – eine Zugehörigkeit zum Widerstand oder eine »innerliche Gegnerschaft zum Nationalsozialismus«21.
Dies ging einher mit einem eigentümlichen diktaturimmanenten Selbstverständnis von »Anständigkeit«22: »Dass jemand ›dabei gewesen‹, aber ›dennoch anständig‹ geblieben sei«, war – wie Ulrich Herbert überzeugend dargelegt hat – ein bereits während der NS-Zeit »zum Teil nur künstlich stilisiertes, zum Teil echtes und insgeheimes Verständigungskriterium« unter Eingeweihten, durch das deutlich gemacht werden sollte, ob sich jemand hatte »tatsächlich verbiegen lassen« oder unterhalb der unvermeidlichen Pflichterfüllung einen geraden Sinn, Hilfsbereitschaft oder Menschenfreundlichkeit hatte erhalten können. Solche Unterscheidungen hätten in Diktaturen innerhalb von Gruppen mit klarem, wenn auch nicht unbedingt explizitem Ehrenkodex präzise funktioniert und hätten sich auch nach dem Krieg als preiswerte Selbsterhöhung förmlich angeboten. Zudem habe in diesem Begriff auch noch etwas anderes mitgeschwungen: »das Motto der inneren Distanz, der emotionalen Unbeteiligtheit an dem Schrecklichen, an dem man mittat, das […] insinuierte, selbst der an Verbrechen Beteiligte könne, wenn er nur die bürgerlichen Sekundärtugenden bewahre, ›anständig‹ bleiben«23. Auch Himmler strapazierte diesen Begriff 1943 bei seiner Posener Rede, um das »Ethos« seiner Männer anlässlich des Völkermordes zu unterstreichen.
Die Studie »Hüter der Ordnung« reduziert die Selbstwahrnehmung der Beteiligten demgegenüber fast ausschließlich auf ihr Selbstverständnis als vermeintlich unpolitische Experten, Beamte, die in jedem System ihren Dienst getan und ihre Pflicht erfüllt hätten. Hierbei war für viele die Kontinuität des Antikommunismus ein wichtiges Mittel, um sich mit dem neuen »Weststaat« zu identifizieren. Inwieweit dies auch eine tatsächliche, positive Identifikation mit dem neuen Staat des Grundgesetzes bedeutete, darf zumindest für die Anfangsjahre bezweifelt werden. Offenbar reichte es aber aus, wieder eine effiziente Verwaltung aufzubauen, die sich erst später – unter dem Druck der parlamentarischen Öffentlichkeit und der Presse, aber auch der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes – langsam demokratisierte.
Aufbauend auf der Forschung von Rudolf Morsey und Udo Wengst24 legt die Studie »Hüter der Ordnung« eingangs dar (S. 57–68), welche Rolle ehemalige Beamte des NS-Reichsinnenministeriums beim Aufbau der Bonner Ministerialbürokratie spielten. Namentlich Stuckarts rechte Hand im Bereich des Rasse- und Staatsangehörigkeitsrecht Hans Maria Globke25, der ehemalige Mitarbeiter des Reichssportführers von Tschammer und Osten, Hans Ritter von Lex, sowie Erich Keßler26, Kurt Jacobi27 und Otto Ehrensberger28. Globke und von Lex waren immerhin keine NSDAP-Mitglieder sondern nur Mitglieder von Unterorganisationen wie NSV oder NSRB gewesen. Die behauptete aktive Gegnerschaft zum Nationalsozialismus scheint bei all diesen Herren angesichts ihrer Positionen und Karriereverläufe jedoch als nachträgliche wohlfeile Selbsterhöhung: So scheiterten beispielsweise Globkes Bemühungen um einen NSDAP-Beitritt trotz eines warmen Referenzschreibens seines Vorgesetzten Stuckart an seiner ehemaligen Zentrumsmitgliedschaft; aus Sicht der Parteikanzlei war diese ein Indiz für seine Nähe zum politischen Katholizismus. Dies behinderte Globkes Karriere im RMdI jedoch kaum. Er übernahm zusätzliche Aufgaben und wurde vom Kriegsdienst freigestellt.
Diese Ausgangsbedingungen und die Tatsache, dass die Personalpolitik bei nunmehr unionsnahen ehemaligen RMdI-Beamten lag – heute würde man von Seilschaften sprechen –, führten dazu, dass sich schließlich bis 1970 knapp zwei Drittel des gesamten Leitungspersonals im BMI aus Beamten (es waren auch damals weit überwiegend Männer) rekrutierte, die bereits im NS-Regime Verwaltungserfahrungen gesammelt hatten. Für den Medizinalbereich sind die alten Verbindungen, die auch T4-Ärzte einschlossen, sehr anschaulich anhand einer dem Buch beigefügten farbigen Grafik illustriert. Bei diesen Verwaltungsexperten – außerhalb des Medizinalwesens überwiegend Juristen – handelte es sich oftmals (etwa ein Viertel) um ehemalige Angehörige der Verwaltung der besetzten Gebiete, für die das RMdI das Personal stellte. Die Wahrscheinlichkeit, dass sie im »Osten« – wie Wilhelm Hagen als Leiter des Gesundheitsamtes in Warschau oder Gerhard Scheffler als Oberbürgermeister von Posen – am Holocaust oder an Germanisierungsverbrechen mitwirkten, war sehr hoch, auch wenn sie sich nicht immer umfassend belegen lässt. Das gilt auch für Beamte mit einer zum Teil oppositionellen Einstellung wie Hagen, der zunächst nach der Machtübergabe 1933 als SPD-Mitglied aufgrund des Berufsbeamtengesetzes entlassen worden war und der sich im Krieg bei Hitler für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse für die polnische Bevölkerung einsetzte. Das hinderte ihn nicht daran, sich an der Drangsalierung und Ermordung der Juden im Warschauer Ghetto zu beteiligen.
Direkt aus dem ehemaligen RMdI stammte jedoch nur etwa ein Zehntel der Mitarbeiter des BMI. Diese fanden sich allerdings oftmals auf Schlüsselpositionen wieder und konnten alte Verbindungen fruchtbar machen. So etwa der Stuckart-Protégé Harry von Rosen-von Hoewel. Die Darstellung seiner kometenhaften Nachkriegskarriere fällt in den »Hütern der Ordnung« leider nur sehr knapp aus, da seine Personalakte den Bearbeiterinnen offenbar nicht vorlag29. Von Rosen-von Hoewel trat 1950 als Oberregierungsrat wieder in die Dienste des BMI und avancierte binnen kürzester Zeit zum Senatspräsidenten beim Bundesverwaltungsgericht und zum Oberbundesanwalt. Er strauchelte über einen Streit mit einem Kollegen, sein außerdienstliches Engagement für die Automatenindustrie – das Wochenmagazin Der Spiegel nannte ihn »Automaten-Harry«30 – und schließlich auch noch eine Publikation aus der NS-Zeit, die in der von Stuckart herausgegebenen juristischen Postille »Die Verwaltung« das Polenstatut behandelte31, und wurde schließlich entlassen. Er war 1940 von Stuckart ins RMdI geholt worden und diente ihm als Co-Autor für staatsrechtliche Skripte, die in der Reihe »Schaeffers Grundrisse« erschienen und unter anderem die Judenpolitik des »Dritten Reiches« in kurzer, anschaulicher Form thematisierten32.
Der Grad der Belastung des BMI-Personals ist frappierend: So waren ca. zwei Dutzend der leitenden BMI-Mitarbeiter ehemalige SS-Angehörige. Insgesamt umfasste das Ressort zudem deutlich mehr ehemalige SA- und NSDAP-Mitglieder als die meisten anderen Bonner Ressorts. Obgleich vor 1933 eingetretene »Alte Kämpfer« eigentlich nicht eingestellt werden sollten, kamen immerhin 14 von diesen im Laufe der 1950er-Jahre in Leitungspositionen – wie nicht zuletzt Bundesinnenminister Hermann Höcherl, der bereits 1931 der NSDAP beigetreten war. Hatte 1950 noch kein Abteilungsleiter im BMI der NSDAP angehört, waren zehn Jahre später alle sechs ehemalige Parteigenossen.
Ähnlich wie im Bundesjustizministerium33 vollzog sich diese Entwicklung, obwohl die Leitungsebene des BMI zunächst nicht mit Männern besetzt war, die den Nationalsozialismus aktiv befürwortet hatten: Weder Gustav Heinemann noch Robert Lehr waren als Gefolgsleute des Nationalsozialismus in Erscheinung getreten. Selbst Staatssekretär Ritter von Lex, der trotz seiner früheren BVP-Mitgliedschaft auch im »Dritten Reich« an verantwortlicher Stelle (Olympiavorbereitung 1936) seine Karriere fortsetzen konnte und verschiedenen NSDAP-Gliederungen angehörte (s. o.), scheint zumindest kein entschiedener Parteigänger gewesen zu sein. Trotzdem stellte er schwer belastetes Personal ein und förderte es. Gerade Heinemann zeigte sich dann auch irritiert über die ungehinderte Integration der ehemaligen »braunen Beamten«: Ein Grund für Heinemanns Rücktritt 1950 wird von den Bearbeiterinnen und Bearbeitern daher auch nicht nur in dessen Widerstand gegen die Wiederbewaffnung Westdeutschlands gesehen, sondern auch in dessen Unmut über die Personalentwicklung in der Bonner Ministerialbürokratie.
Personal, das im Nationalsozialismus verfolgt worden war, lässt sich dagegen unter den 317 leitenden Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen buchstäblich an einer Hand abzählen: zwei wegen ihrer »jüdischen Herkunft« zwangspensionierte Beamte sowie drei entlassene SPD-Mitglieder. Diese wenigen hatten zum Teil Alibifunktionen: Der aus dem chilenischen Exil »heimgeholte« Franz Herrmann leitete als Jude und NS-Gegner seit 1952 die Unterabteilung Wiedergutmachung, die sich u.a. mit den Entschädigungen der 1933 »verdrängten« Beamten befasste. Karl Brunke, ein SPD-Mann, wurde unter Heinemann Inspekteur der Bereitschaftspolizei der Länder. Bei anderen wie der Ärztin und Referatsleiterin Maria Daelen wird die angebliche Verbindung zum »Widerstand« – ein beliebtes Exkulpationsnarrativ – nicht substanziell erhärtet. Vielmehr lässt der Verweis auf den zwielichtigen Hans Bernd Gisevius – selbst Angehöriger rechter Kampfgruppen und NSDAP-»Maikäfer« (Beitritt zum 9. Juni 1933)34, der sich durch seine Memoiren und OSS-Verbindungen zum Helden und Globke zu einem späten Mann des Widerstands stilisierte –zweifeln und zeigt nur allzu deutlich, wie schwierig der Begriff »Widerstand« in diesem Kontext ist.
In der DDR verlief die Entwicklung anders: Das Führungspersonal kam aus dem sowjetischen Exil und frisch geschulte, oftmals junge Mitarbeiter, die auch wegen ihres Alters unbelastet waren, übernahmen die mittlere Führungsebene. Auch mit diesen administrativ unerfahrenen Mitarbeitern wurde das Ministerium des Innern (MdI) rasch Teil eines wirksamen Repressionsapparates, der eine Polizeiverwaltung und Administration aufbaute, die die Machtstellung der SED sicherte. Nur in den zivilen und wissenschaftlichen Abteilungen stützte sich auch das MdI der DDR stärker auf etablierte Experten, die zum Teil auch NS-belastet waren. Der Anteil ehemaliger NSDAP-Mitglieder in Leitungspositionen im MdI der DDR war jedoch – wie zu erwarten – deutlich geringer als im Westen: Auf der Leitungsebene (vom Referatsleiter aufwärts) betrug er 1950 sechs Prozent. Allerdings stieg er im Sicherheitsbereich 1955 auf rund elf Prozent. Anders als im Westen, wo die biographischen Angaben der Mitarbeiter oder Verdachtsmomente nach 1949 nur selten verfolgt wurden, fanden im Osten von Beginn an Überprüfungen der Vergangenheit statt, die auch in den 1950er-Jahren fortgeführt wurden. Für die DDR wurden diese Überprüfungen auch zu einem propagandistischen Mittel, um ihre moralische Überlegenheit gegenüber der Bundesrepublik zu unterstreichen, während zugleich der Repressionsapparat im Innern ausgeweitet wurde.
Heute gilt es, Liberalität und Zivilisation gegen immer heftigere populistische Anfeindungen zu verteidigen. Darum sind den »Hütern der Ordnung« viele Leser zu wünschen. Denn diese Studie macht nur allzu deutlich, wie mühsam der Aufbau eines demokratischen und liberalen Rechtsstaates nach 1949 war und wie wichtig es ist, diesen zu erhalten und weiter zu entwickeln, damit aus Sicherheits- keine Repressionsapparate werden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Hans-Christian Jasch, Rezension von/compte rendu de: Frank Bösch, Andreas Wirsching (Hg.), Hüter der Ordnung. Die Innenministerien in Bonn und Ost-Berlin nach dem Nationalsozialismus, Göttingen (Wallstein) 2018, 837 S., 69 Abb. (Veröffentlichung zur Geschichte der deutschen Innenministerien nach 1945, 1), ISBN 978-3-8353-3206-5, EUR 34,90., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66574