Ein alter Begriff erlebt eine Renaissance: die »internationale Solidarität«. Entwirft der Soziologe Heinz Bude »Die Zukunft einer großen Idee«, wenden sich Historiker deren Vergangenheit zu1. Das hat mit der globalgeschichtlichen Weitung des Fachs, einem Interesse an der postkolonialen Welt, auch dem Hinterfragen von Kalter-Kriegs-Binaritäten zu tun. Aber vielleicht scheint die internationale Solidarität in Zeiten, in denen Selbstverständlichkeiten wie das Recht auf Asyl in Frage gestellt werden, gerade Forscherinnen und Forschern erklärungsbedürftig, die die Kernphase dieses Typs »globalen Engagements« nicht selbst erlebt haben. Es sind vielfach Ergebnisse von Dissertationen, die im hier zu besprechenden, sehr lesenswerten Band zusammengestellt sind, der aus einer Tagung im Jahr 2016 hervorgegangenen ist2.
Anders als auf dieser Tagung – das macht die gut orientierende Einleitung Frank Böschs deutlich – fokussiert der Band weniger auf die Unterstützung der »Anderen« aus der Distanz, das Spenden oder den Konsum fair gehandelter Ware etwa, als auf die Bereitstellung der eigenen Arbeitskraft vor Ort. Es geht um die Motive der »solidarischen« Akteure, um die Praxis selbst und um die Erfahrungen, die beispielsweise die rund 15 000 Bürger der Bundesrepublik machten, die in den 1980er Jahren ins sandinistische Nicaragua reisten und fast den Paradefall der internationalen Solidarität darstellen.
Insofern war es eine gute Entscheidung, den Band mit Christian Helms Beitrag zu beginnen. Er zeichnet die Interessenkonstellation nach, die den von Ortskräften effizient organisierten »Revolutionstourismus« in Nicaragua erst möglich machte: Ökonomisch wenig produktiv, ließ die Anwesenheit der deutschen Freiwilligen sich von der Sandinistischen Nationalen Befreiungsfront (FSLN) propagandistisch ausschlachten. Die Motive der deutschen Helfer waren indes komplex und veränderlich. Aus der Hoffnung auf sinnvolles politisches Tun, auf Abenteuer und authentische Erfahrungen in einer Art konkreter Utopie konnte die »kritische Solidarität« werden. Diese Beobachtung fügt sich gut zu Stefanie Sengers ebenfalls Nicaragua gewidmetem Aufsatz, der anschaulich die wechselseitigen Beobachtungen zwischen Aktivisten aus Bundesrepublik und DDR (denen Kontaktverbote auferlegt wurden) ins Zentrum rückt, ebenso wie ihre unterschiedlichen Handlungsspielräume. Dass sich just die Enttäuschungen von Helfern aus West und Ost oft wenig unterschieden, die Interpretationen letzterer aber stärker reguliert wurden, zeigt sich auch in Eric Burtons Beitrag zu den Brigaden der Freundschaft der FDJ, die in Sansibar, Kuba, Mosambik und Tansania tätig waren. Burton verdeutlicht, welche Widersprüche sich zwischen den Aufgaben vor Ort und staatsoffiziellen Zielmarken auftaten. Sie führten zu Auseinandersetzungen zwischen Funktionären und Freiwilligen, die von der veränderlichen außenpolitischen Agenda der DDR überformt waren.
Ebenfalls den Wandel betont Caroline Moine, wenn sie am Beispiel Helmut Frenz’ die Netzwerke untersucht, die der sich politisierende Pfarrer zur Informationsverbreitung über die von der Regierung der Bundesrepublik lange ignorierten Verbrechen des Pinochet-Regimes in Chile mobilisierte. Dabei zeigt sie, dass für den relativen Erfolg dieses Unterfangens auch die dortige deutschsprachige Bevölkerung eine Rolle spielte. Dass Frenz später zum Generalsekretär der westdeutschen Sektion von Amnesty International wurde, beschert ihm einen zweiten Auftritt im Band. Denn wie Felix A. Jiménez Botta darstellt, war es die Hinwendung zur neutraleren Menschenrechtssprache, die die Skandalisierung der Militärjunta in Agentien unter anderem durch Amnesty ab Mitte der 1970er Jahre auszeichnete, was ebenso wirkungslos wie in der Linken umstritten blieb, deshalb aber nicht als Entpolitisierung betrachtet werden sollte.
Während die genannten Beiträge geografisch auf die Zielorte deutscher Solidarität fokussieren, wechseln die restlichen Aufsätze den Schauplatz. So widmet sich Anja Schade den exilierten Mitgliedern des südafrikanischen ANC in der DDR, die dort je nach Lebensalter und Ankunftszeitpunkt unterschiedliche Erfahrungen machten; in ihrem Gastland erkannten sie mal einen sozialistischen Modellstaat, mal eine rassistische Gesellschaft. Vor andere Herausforderungen, so Sophie Lorenz, stellte die SED-Kader die Reise Angela Davis’ in die DDR. Nur mit Mühe gelang es, die US-Bürgerrechtlerin, die der antiautoritären Linken und dem schwarzen Nationalismus nahestand, in den orthodoxen Marxismus-Leninismus einzugemeinden, wobei an kommunistisch-afroamerikanische Verbundenheitsvorstellungen der Zwischenkriegszeit angeknüpft wurde. Das passt zu Kim Christiaens Apell, Solidarität nicht nur als Sache der westlichen Zivilgesellschaft zu sehen. Kommunisten aus Osteuropa schmiedeten Allianzen, die von der Assoziation autoritärer Regimes in Spanien, Portugal oder Griechenland mit dem Putsch in Chile zehrten. Aber auch die Netzwerke, die osteuropäische Dissidenten mit Apartheidgegnern in Südafrika knüpften, hebt er hervor. So wichtig der Hinweis auf die Existenz dieser Netzwerke ist, so diffus bleibt leider, was ihre Resultate waren.
Das unterscheidet Christiaens Beitrag von der akribischen Archivarbeit der anderen Beiträge, deren praxeologischem Empirismus jedoch eine gewisse Abstinenz gegenüber der Begriffsarbeit gegenübersteht. Hier besteht einer von vielen Ansätzen, die der Band zum Weiterdenken liefert. Schon das Inhaltsverzeichnis zeugt von einem pragmatischen Umgang mit Attributen wie »international«, »transnational« und »global«. Nun könnte man aber erstens fragen: Handelt es sich nur um ein im geografische Sinne globales (faktisch »bilaterales«, dabei komplex in die Systemkonkurrenz verwobenes) Engagement? Oder spielte nicht in vielen Fällen ein »globalitäres« Denken hinein, das sich aus einem kosmopolitischen Ethos, aus einer Menschheitsidee speiste?
Das ist zweitens auch eine Frage nach begriffs- und ideengeschichtlichen Kontinuitäten. Der Band erweckt zuweilen den Eindruck, die internationale Solidarität sei ein Phänomen des späten 20. Jahrhunderts. Aber schon der Begriff »Internationalismus« hat eine lange Geschichte; ideologische Kontinuitäten reichen weit zurück, wie Christiaens zeigt, der auf die kaum verblasste Erinnerung an den Spanischen Bürgerkrieg hinweist. Umso interessanter ist der Bedeutungsverlust der internationalen Solidarität, der sicher nicht nur von der Wahlniederlage der Sandinisten 1990 herrührte. Böschs Einleitung legt nahe, dass die »bürgerliche Solidarität« der 1980er Jahre mit den Verfolgten kommunistischer Regimes (»Boatpeople«, Opfer des Afghanistankriegs) einem Konzept die Mobilisierungskraft nahm, das schon zuvor zwischen christlichen und sozialistischen Wertehorizonten schillerte.
Womöglich spielte aber auch die Einsicht darin hinein, wie kontingent der Erfolg des eigenen Engagements war, gerade wenn es um die Beeinflussung von Aufmerksamkeitsökonomien »zuhause« ging, die es sich – dritte Anregung – genauer zu untersuchen lohnte. Viele Rückkehrer wurden zu nachgefragten Praktikern der »politischen Bewusstseinsbildung«, deren Erforschung noch aussteht.
Viertens wäre interessant, was ein komparatistischer Ansatz zu leisten vermag, über den im Sammelband überzeugend operationalisierten Vergleich zwischen Bundesrepublik und DDR hinaus. Wie verhielt sich die oft erwähnte NS-Sühne der deutschen Helfer zu den auf präsentere Weise postkolonial geprägten Fällen Frankreichs oder der Niederlande? Das sind Fragen, die nur den Gesamteindruck einer anregenden Zwischenbilanz zu einem zu lange »unterforschten« Feld bestärken, zu dem nun empirisch gesättigte, praxeologisch reflektierte und für die Offenheit von Übersetzungsprozessen sensibilisierte Studien vorliegen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
David Kuchenbuch, Rezension von/compte rendu de: Frank Bösch, Caroline Moine, Stefanie Senger (Hg.), Internationale Solidarität. Globales Engagement in der Bundesrepublik und der DDR, Göttingen (Wallstein) 2018, 264 S. (Geschichte der Gegenwart, 18), ISBN 978-3-8353-3208-9, EUR 24,90., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66575