Auch wenn sich erinnerungskulturelle Studien weiterhin großer Popularität erfreuen, gibt es in der Globalgeschichte immer noch wenige Arbeiten, die hierzu vergleichende Ansätze verfolgen. Gerade im Hinblick auf die Auseinandersetzung mit der kolonialen Vergangenheit wird weiterhin ein national-staatlicher Schwerpunkt gesetzt: Entweder um die Integration des Kolonialismus in eine »nationale Erzählung« zu vollziehen1 oder um eine »postkoloniale Dekonstruktion« voranzutreiben, die die »hegemonialen Diskurse der kolonisierenden Gesellschaften« zu entlarven vermag2. Sonja Dinters Dissertation ist demgegenüber als Beitrag im aufstrebenden Feld einer vergleichenden Analyse von Erinnerungskulturen zu verstehen.

Die Historikerin, die an der Universität Kassel promoviert wurde, wählte als Gegenstand ihrer Dissertation »Die Macht der historischen Handlung« die erinnerungskulturellen Auseinandersetzungen um die Sklaverei und ihre Abschaffung in Frankreich und Großbritannien. Für beide Gesellschaften stellt sie dabei einen Wendepunkt in der Sichtbarkeit des Themas seit den 1990er Jahren fest. Im Jahr 1998 organisierte die französische Regierung das erste Gedenken zum 150. Jahrestag der Abschaffung der Sklaverei. 2007 feierte schließlich Großbritannien die 200-jährige Verabschiedung des Gesetzes, das seinen Bürgerinnen und Bürgern den Sklavenhandel verbot. Dinters Studie widmet sich jedoch nicht nur diesen beiden emblematischen Erinnerungsmomenten, vielmehr wurden die Jubiläen von einer wachsenden Anzahl von Ausstellungen, der Einrichtung von Gedenkorten sowie einer zunehmenden Ritualisierung postkolonialen Erinnerns begleitet. Dabei stellt Dinter heraus, dass es vor allem Gedächtnisträgerinnen und Gedächtnisträger, Bürgerinitiativen sowie Kultur- und Medienschaffende waren, die die Debatten anstießen (S. 12).

Indem sie sich auf die Akteurinnen und Akteure konzentriert, wählt Dinter ihren analytischen Zugang über das Konzept der Agency, mit dem sie »den Kampf um die Verteilung von Akteursmacht« beschreibt, der »alle materiellen und symbolischen Dimensionen der Erinnerungsbildung charakterisiert« (S. 47). Synchron und diachron vergleichend, kommt Dinter zu dem Ergebnis, dass sich die Geschichte von Sklaverei und Emanzipation in beiden Ländern in einen lieu de mémoire gewandelt hat, dessen Bedeutung für die nationalen Geschichtsverständnisse von den jeweiligen politischen Eliten nicht mehr ignoriert werden kann (S. 477).

Die Stärke der Arbeit liegt vor allem in der akribischen Darstellung der jeweiligen »nationalen Erinnerungsdebatten« im dritten Abschnitt des Buches. Wenngleich Dinter die Erinnerungsfäden bis zum Zeitpunkt der Fertigstellung der Dissertation im Blick behält, so liegt im britischen Fall der Schwerpunkt dennoch auf dem Jubiläum des Slave Trade Abolition Act von 2007. Nicht nur, dass in diesem Jahr das International Slavery Museum in Liverpool eingeweiht wurde, auch wurden die bis heute andauernden Auseinandersetzungen um die Forderungen nach Entschuldigungen und Reparationen wieder aufgenommen. Im französischen Fall hingegen weitet Dinter den Betrachtungszeitraum vom Jubiläum 1998 bis ins Jahr 2005 aus. Denn dieses Jahr markierte die Auseinandersetzung mit den sogenannten »Erinnerungsgesetzgebungen«, die die »positive Rolle« des französischen Kolonialismus in der Schulbildung zu fixieren suchten. Dies löste in der Folge eine Debatte um die Rolle staatlicher Deutungshoheit in der Geschichtsschreibung aus. Ein weiterer erinnerungskultureller Höhepunkt wurde zudem mit den Aufständen in den banlieues erreicht, die die Narration eines von der Kolonialepoche bis in die Gegenwart reichenden »kolonialen Kontinuums« begünstigten.

Dinter schließt ihr Buch mit einer vergleichenden Interpretation der beiden Fallstudien. Dabei wird deutlich, dass für beide Fälle eine nationalstaatliche Integration des Sklaverei-Narrativs erfolgte – diese sich allerdings in Großbritannien kohärenter vollziehen ließ als im französischen Fall. Das liegt gemäß Dinter nicht nur an den besser zu Mythen zu stilisierenden Akteuren, wie William Wilberforce und als Pendant der Schwarze Abolitionist Olaudah Equiano, sondern auch an der Möglichkeit, die Fortschrittlichkeit der britischen Nation herauszustellen, die als erste die Abschaffung der Sklaverei in Europa vollzog (S. 367, 370). Dass in Frankreich die Sklaverei unter Napoleon wieder eingeführt wurde, erweist sich dabei nicht als alleiniges Problem in der Entwicklung linearer Fortschrittsnarrative. Im direkten Vergleich mit Großbritannien wird deutlich, dass »die Abolition des Sklavenhandels und die effektive Abschaffung der Sklaverei […] nicht nur später erfolgten, sondern auch unter dem Eindruck der den Ton angebenden britischen Politik« (S. 372).

Dennoch entfaltete die Auseinandersetzung mit der Sklaverei in Frankreich eine stärkere geschichtspolitische Wirkung als in Großbritannien, da hier vor allem staatliche Gestaltungsmacht zum Tragen kam – wie am Beispiel der Loi Taubira von 2001 deutlich wird, die die Sklaverei zu einem »Verbrechen gegen die Menschheit« erklärte (S. 481). In Großbritannien hingegen erlangte die Auseinandersetzung mit der Sklaverei und deren Abschaffung eine größere erinnerungskulturelle Bedeutung im gesellschaftlichen Bewusstsein seiner Bürgerinnen und Bürger (S. 487).

Trotz dieser spannenden Befunde kann Dinter ihren eigenen Ansprüchen, mittels einer Kontrastierung der Fälle, um deren »spezifische Muster und Strukturen erst deutlich hervortreten« zu lassen (S. 25), nicht vollständig gerecht werden. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn die »vergleichende Interpretation« den Verstrickungen britischer und französischer Erinnerungskultur systematischer nachgegangen wäre, um somit den eigenen Anspruch einer global erzählten Verflechtungsgeschichte einzulösen.

Dennoch ist es der große Verdienst der Arbeit, die stetig wachsende Bedeutung kolonialer Vergangenheiten für die kollektive Gedächtnisbildung der gegenwärtigen europäischen post-kolonialen Gesellschaften zu unterstreichen. Indem sie einen akteurszentrierten Blickwinkel an ihren Untersuchungsgegenstand anlegt, problematisiert Dinter die vorherrschenden »Opfer«-Narrative, die sich vor allem in der erinnerungskulturellen Etablierung einer an moralischen Prämissen orientierten Sprachwahl manifestieren. Dabei werde die Betrachtung einer auch in der Gegenwart reproduzierbaren »Ökonomie der Macht« zugunsten einer auf Humanismus und Menschenrechten fokussierten »Mahnung zu besonderer Wachsamkeit« aufgegeben (vgl. S. 497). Dinter verortet mit ihrer Vergleichsstudie die Erinnerung an die Sklaverei in einem europäischen Rahmen, womit sie einen wichtigen Beitrag zur weiterhin notwendigen Provinzialisierung postkolonialer Erinnerungskulturen leistet.

1 Nicolas Bancel, Pascal Blanchard, The Meanders of Colonial Memory, in: Pascal Blanchard, Sandrine Lemaire, Nicolas Bancel, Dominic Thomas (Hrsg.), Colonial Culture in France since the Revolution, Bloomington, IN 2014, S. 399–410, hier S. 400f.
2 Jürgen Zimmerer, Kolonialismus und kollektive Identität. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, in: ders. (Hrsg.), Kein Platz an der Sonne. Erinnerungsorte der deutschen Kolonialgeschichte, Frankfurt a. M. 2013, S. 9–39, hier S. 32.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sahra Rausch, Rezension von/compte rendu de: Sonja Dinter, Die Macht der historischen Handlung. Sklaverei und Emanzipation in der britischen und französischen Erinnerungskultur seit Ende der 1990er Jahre, Bielefeld (transcript) 2018, 544 S. (Histoire, 35), ISBN 978-3-8376-4325-1, EUR 49,99., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66582