Es gab im politisch aufgeheizten Klima der Zwischenkriegszeit nicht viele Politiker, Wissenschaftler und »öffentliche Intellektuelle« in Deutschland, die einen kühlen Kopf bewahrten und sich nicht von aggressiv-machtpolitischen, nationalistischen und anti-westlichen Stimmungen mitreißen ließen. Aber einige wenige gab es doch. Mit einem von ihnen, dem zwischenzeitlich nahezu in Vergessenheit geratenen Moritz Julius Bonn, befasste sich eine gemeinsam vom Hamburger Institut für Sozialforschung und dem Archiv des Liberalismus der Friedrich-Naumann-Stiftung ausgerichtete Tagung. Aus ihr ging dieser anregende und perspektivenreiche, von gelegentlichen Redundanzen allerdings nicht freie Sammelband hervor.

Bonn erscheint in den Beiträgen in der Tat als »omnipräsente Figur« mit vielfältigen Kontakten, ein »liberaler homo politicus, aufklärerisch, mit brillanter Auffassungsgabe und von klaren Überzeugungen durchdrungen« (S. 10), wie die Herausgeber Grothe und Hacke in ihrer knappen und resümierenden Einleitung schwärmen. Als Nationalökonom, Politikberater, Finanz- und Wirtschaftsexperte bewies Bonn oft erstaunlichen Weitblick, etwa im Hinblick auf die Notwendigkeit einer supranationalen Kooperation der europäischen Staaten. Und doch teilte er mit weniger weitblickenden Zeitgenossen den Irrtum, dass »die Verbesserung der Konjunktur« die »politisch-moralische Abirrung« des Nationalsozialismus gewissermaßen von selbst erledigen würde (S. 15).

Die elf Beiträge konzentrieren sich auf fünf Bereiche beziehungsweise Schwerpunkte des Wirkens des liberalen Denkers: sein praktisches und theoretisches Verhältnis zur Weimarer Demokratie, seine Kapitalismusanalyse, seine Vorstellungen einer kooperativen internationalen Ordnung, seine Auseinandersetzung mit der kolonialen Bürokratie und dem Imperialismus und schließlich seine Beziehungen zu prominenten Zeitgenossen. Auf diese Weise entsteht ein vielschichtiges Bild Bonns, das insbesondere verdeutlicht, dass es eben doch möglich war, »Demokrat und Patriot zugleich« zu sein (S. 21), wie Grothe in seinem Aufsatz über »Zeitanalyse und Zukunftssicht« in den publizistischen Arbeiten Bonns konstatiert.

Auch in der Reparationsfrage, in die er als Sachverständiger im Dienste mehrerer Reichsregierungen zwischen 1919 und 1922 direkt involviert war, plädierte er für eine auf »Interessenausgleich statt auf Konfrontation« bedachte Politik (S. 50) und geriet damit zwangsläufig in einen eklatanten Gegensatz zu »wichtigen reparationspolitischen Meinungsträgern oder sogar zum einschlägigen Mainstream« seines Heimatlandes (S. 68), wie Stefan Grüner in einem Vergleich der Reparationskonzepte von Bonn und Paul Reynaud zeigen kann.

Mehrere Autoren gehen auf Bonns Amerikabild ein, das zwar von einer »widerspruchsvollen Mannigfaltigkeit« (S. 83) geprägt war, so Nicolas Berg, aber doch eindeutig idealisierende Züge aufwies. So bezeichnete Bonn den »hundertprozentigen Amerikanismus«, wie er sich im »fremdenfeindlichen und gewaltbereiten Ku-Klux-Klan« manifestierte, als »unamerikanische(s)«Phänomen (S. 86) – eine Interpretation, die angesichts seitheriger Erfahrungen recht optimistisch erscheint. Überhaupt scheinen in der Auseinandersetzung mit Amerika im Allgemeinen und Woodrow Wilson im Besonderen einige Aspekte auf, die am Image Bonns als »Stimme liberaler Vernunft« (Hacke) etwas kratzen. Hier erweist sich Bonn doch als »Kind seiner Zeit«, das, so Volker Depkat, »von der Rechtmäßigkeit und Notwendigkeit des deutschen Krieges gegen eine Welt von Feinden überzeugt« war (S. 145) und wie viele Zeitgenossen der Idee eines Gegensatzes von »deutscher ›Kultur‹ und westlicher ›Zivilisation‹ das Wort redeten.«

Gleichwohl bleibt Bonn, das verdeutlichen alle Autorinnen und Autoren des verdienstvollen Bandes, ein leuchtendes Beispiel dafür, dass Alternativen zum verhängnisvollen machtpolitisch-nationalistischen Denken und Handeln in der Weltkriegsepoche nicht erst im Rückblick konstruiert werden können, sondern dass sie bereits bei – wenn auch wenigen – klugen und ›vernünftigen‹ Zeitgenossen verbreitet waren.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Ewald Grothe, Jens Hacke (Hg.), Liberales Denken in der Krise der Weltkriegsepoche. Moritz Julius Bonn, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2018, 231 S. (Staatsdiskurse, 36), ISBN 978-3-515-12234-4, EUR 46,00., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66585