Offenstadts Buch ist besonders in Deutschland Gegenstand von Kontroversen geworden, die sich ideologisch erklären und in erster Linie ideologisch operieren. Dem Autor wird vorgeworfen, dass er die DDR nie bereist hat und er deshalb die DDR gar nicht kennen würde; andere kritisieren die Interpretationen Offenstadts als Verklärung der DDR oder als Geschichte ihrer Delegitimierung, während es doch hilfreicher sei, über die erste erfolgreiche deutsche Revolution von 1989 zu schreiben. Von ihr ist in dem Buch nicht die Rede. Das stimmt. Aber darin besteht auch nicht das Ziel des Autors. Welches Anliegen verfolgt Nicolas Offenstadt mit seinem Buch und lässt es sich wirklich nur ideologisch lesen?

Das Interesse des Historikers Nicolas Offenstadt an der DDR speist sich aus seiner politischen Sozialisation, die ihn als jungen linken Intellektuellen einerseits für das sozialistische Gesellschaftsprojekt des 20. Jahrhunderts in Mittel- und Osteuropa eingenommen hatte, die ihn andererseits jedoch angesichts ihres diktatorischen Charakters und der Unfähigkeit zu freiheitlichen Reformen eher belastet und zugleich daran gehindert hatte, den anderen deutschen Staat zu bereisen.

Dennoch gilt das Interesse des Autors der DDR und ihrem »Verschwinden«. »La RDA occupe cependant une place à part dans le bloc des pays de l’Est notamment liée à l’héritage, objectif, mais aussi travaillé, valorisé et retravaillé, de tout le socialisme allemand, celui de théorie comme celui des luttes de la social-démocratie (avant Weimar) et du mouvement ouvrier« (S. 17). Das doppelte Erbe, das des Sozialismus der Gründerväter Marx und Engels und des antifaschistischen Kampfes, dieses Erbe macht für Offenstadt die Frage nach den Erinnerungen an die DDR besonders reich und umstritten. Den Willen, ein anderes Deutschland, ein antifaschistisches, das sich unaufhörlich auf die deutsche Arbeiterbewegung und ihre großen Persönlichkeiten wie Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg bezog, wie auf unzählige antifaschistische Widerstandkämpfer, all das macht für Offenstadt das Erbe der DDR in der Erinnerung und im kollektiven Gedächtnis nicht reduzierbar auf ihre Führung oder auf die Fehler des Regimes. Mit diesem Horizont, den der Autor seinen Leserinnen und Lesern nicht verschweigt, geht er Spuren der DDR im vereinigten Deutschland nach.

Dieser Horizont, der die Traditionen der deutschen und internationalen Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstands einschließt, ist damit anders und weiter gespannt, als die DDR-Forschung der letzten 30 Jahre, wie sie in Deutschland selbst, unter der Ägide westdeutscher Historiker, mit dem Fokus auf die DDR als Diktatur in vielen Facetten vorgelegt worden ist. Zudem ist der Zugang des Autors originell, wenn er jeder materiellen Spur nachgeht, der er bei seinen vielen Reisen durch Städte und Dörfer im Osten Deutschlands begegnet, zunächst unabhängig von einer Kenntnis ihrer Bedeutungen. Die Unerfahrenheit des Autors (in Bezug auf die DDR), sein Außenblick wirken hier als ein nicht zu unterschätzender Vorzug. Erfahrungswissen im Umgang mit bekannten Objekten schränkt den Blick auf ihren Wandel und deren Bewertungen oftmals ein. Offenstadt begegnet den Spuren in diesem Sinne »unwissend« und offen, ja sensibel. Pinocchio, der Esel im Zoo, der als Figur der Bremer Stadtmusikanten seit den 1980er Jahren in der DDR Karriere gemacht hatte, ist ebenso interessant für Offenstadt wie die vielen Alltagsgegenstände, denen der Autor auf Trödelmärkten oder auf dem Verkaufsportal eBay begegnet. Mocca Fix, ein Glas Erbsen aus DDR-Produktion, Vita Cola, Tassen und Teller mit Mustern aus Kahla, Eiscremepulver, Personenwaagen etc. sind für den Autor ebenso wichtig wie Medaillen, Abzeichen, Uniformen oder wie die auf verschmutzten Dachböden oder auf schlammigen oder verstaubten Fußböden aufgefundenen Personalakten in den noch immer anzutreffenden brachliegenden Gebäuden; ebenso entfernte Erinnerungstafeln, Denkmäler oder Straßenschilder.

Diese Vielfalt bzw. Verschiedenheit der »Objekte«, die noch dazu selten oder gar nicht Gegenstand der einen oder anderen zeremoniellen Gedächtniskultur geworden sind und gerade nicht in erster Linie ideologischen Prämissen gehorchen, diese Vielfalt und der methodische Ansatz laden zu einer kulturanthropologischen Lesart von Offenstadts Buch ein. In seiner Methodik folgt Offenstadt Urbex, der Stadtexploration. Ausgangspunkte sind dabei eigene Beobachtung, Wahrnehmung, und Erstaunen. Die Spur macht den Kern der Konzeption des Autors aus. Eine Spur verweist auf etwas Verlassenes und sie beherbergt zugleich Widerstand. Die Spur zeigt ein Überdauern an, auch wenn sich im Umkreis »alles« ändert. Erst in Verbindung mit dem Gebrauch beziehungsweise Nichtgebrauch der materiellen Objekte offenbaren sich die Spuren als Symptome für einen soziokulturellen Wandel. Und um diesen geht es Offenstadt.

Wenn Nicolas Offenstadt zunächst wie ein Ethnologe diesen Spuren seine Aufmerksamkeit widmet, so muss er sie als Historiker anschließend befragen: nach ihrer Geschichte, ihren individuellen und kollektiven Gebrauchsweisen in der Vergangenheit, die unsichtbar, aber latent in den Spuren präsent bleiben. Zu erforschen sind auch die sozialen Beziehungsgeflechte und Kräfteverhältnisse, die diese Gebrauchsweisen ermöglichten. Schließlich erhalten die Objekte im sozialen Prozess ihren Gebrauchswert wie auch ihren symbolischen Wert. Sodann geht es dem Historiker um die Gegenwart, und um die Frage nach neuen Gebrauchsweisen derselben Objekte bzw. nach den Bedeutungen ihres Nichtgebrauchs, nach der Bedeutung des Brachliegens.

Offenstadts Buch ist eine materielle Kulturgeschichte, allerdings nicht der DDR, sondern des Systemwandels in seinen kulturellen Dimensionen und Folgen. Diese Dimensionen sind in Abhängigkeit von der Art der materiellen Objekte mehr oder weniger ideologisch markiert, aber sie lassen sich nicht auf Ideologie reduzieren. Wenn Offenstadt von Siegern und Besiegten spricht, dann meint er damit den Sieg des neuen über das alte politische und Gesellschaftssystem.

Für die kulturellen Dimensionen des Systemwandels bleiben die Fragen nach dem Verhältnis von Verlust, Widerstand und kreativer Neuschöpfung in der Schwebe. Offenstadt interpretiert das »Brachliegen« einstmals gebrauchter Objekte als ein Zeichen ihrer Delegitimierung. Es geht zum Beispiel um Gegenstände, die vormals mit ideellem Wert besetzt waren wie etwa Urkunden, Medaillen etc., die diesen verlieren und im Höchstfall noch einen Warenwert oder Erinnerungswert erhalten. Die Schwelle zum Verlust jeglichen Wertes durch Vernichtung tragen diese Spuren jedoch ebenso in sich. Wer mag dem widersprechen? Gegenstände, die nicht mehr gebraucht werden, sind ihres Gebrauchswertes beraubt. Sie stehen jedoch auch bereit für neue Gebrauchsweisen. Der Historiker selbst hat einen Teil von ihnen neu gebraucht, als er sie »sammelte« und zum Gegenstand seiner Untersuchung machte. Andere kaufen sich solche Objekte als Erinnerungsstücke, mag es zur Erinnerung an einen touristischen Besuch sein oder zur Erinnerung an das Land, in dem man eine Zeitlang gelebt hat. Manche dieser Objekte gehen in Museen ein, die Besucher inzwischen weltweit anziehen.

Mit einem solchen Verständnis von Kulturgeschichte ist Offenstadt den Auffassungen des Kulturhistorikers Michel de Certeau nahe. Auch für de Certeau erschließt sich Kultur vor allem durch Objekte und ihre verschiedenen Gebrauchsweisen, die er als Praxis des bricolage beschreibt. Wenn sich der Blick von den Objekten auf die Praktiken ihres Gebrauchs verlagert und dabei auf die Gegenwart richtet, so erfährt der Leser bei Offenstadt darüber hinaus etwas von den mentalen Befindlichkeiten insbesondere Ostdeutscher, die in der DDR einen Teil ihrer Sozialisation erlebt haben. Denn Offenstadt lässt nicht nur Dokumente, sondern auch Menschen zu Wort kommen, die mit den »brachliegenden« Objekten leben, die sie auf Schritt und Tritt, mehr oder weniger bewusst, an ein anderes, an ihr anderesLeben erinnern.

Es ist gerade die Vielstimmigkeit von Erinnerungen, die jene Objekte provozieren, die Offenstadt zu Wort kommen lässt. Mit diesen Erinnerungen, die sich an die Objekte binden, tritt eine kulturelle Schwellenerfahrunghervor, die das Hier und Jetzt noch mit dem Damals verbindet. Da Erinnerung der Verortung bedarf, provozieren die Orte und Gegenstände immer neu die Erinnerung an das andere Leben, das in fast allen Facetten, politisch, ökonomisch, ideologisch, aber auch persönlich und privat anders war. Es sind emotional getragene Erfahrungen oft umfassender lebensweltlicher Brüche, die in der Begegnung mit diesen Spuren und Objekten »ein Gesicht« erhalten.

Es sind diese Spuren, die in ihrer Gleichzeitigkeit von Vergehen, Widerstand und Möglichkeit für Neues Momente und Facetten des kulturellen Wandels repräsentieren. Offenstadts Buch ist insofern eine Momentaufnahme, die den Blick auf kulturelle Dimensionen eines politischen Systemwechsels richtet. Die zeitliche Diskrepanz zwischen Mauerfall, deutschem Einigungsprozess einerseits und der Fortexistenz der Spuren »des verschwundenen Landes« andererseits, macht die unterschiedlichen Entwicklungsrhythmen von politischem Systemwechsel und seinen kulturellen Implikationen deutlich sichtbar.

Da Offenstadt am Anfang seines Buches den Leserinnen und Lesern sein Interesse für die Erinnerung an die Arbeiterbewegung und den antifaschistischen Widerstand kundtut, wundert es nicht, dass der Autor in seiner Kulturgeschichte des Systemwandels diesen Fragen ein eigenständiges Kapitel mit dem Titel »Effacer la RDA?« widmet, das fast 100 Seiten umfasst (S. 133–230).Offenstadt dokumentiert darin an vielen konkreten Beispielen, unter Betonung lokaler Differenzierung, eine weitgehende »Entlassung« einst offiziell in der DDR verehrter Vertreter der Arbeiterbewegung und des antifaschistischen Widerstands aus dem Kanon des kollektiven Gedächtnisses im heutigen Deutschland. Dieses Kapitel verlangt eine besondere Betrachtung und Diskussion, allerdings war es in den Reaktionen auf Offenstadts Buch bislang keiner Rede wert.

Noch sind die von Offenstadt aufgefundenen Spuren sichtbar, als Spuren des Alten in Form des Ruinösen, als Verschwinden, das dauert. Die Vermutung liegt nahe – und die kritische Aufnahme des Buches unter deutschen Historikerinnen und Historikern bestätigt sie (siehe z. B. »Süddeutsche Zeitung« vom 26. Mai 2019) – dass ein solches Buch derzeit nur »von außen« kommen konnte. Der Vorzug von Nicolas Offenstadts Buch ist, dass der Autor seinen Blick thematisiert, ohne jedoch selbst in das Ringen um Deutungshoheit über das Leben vor, während und nach dem Systemwechsel im Osten Deutschlands involviert zu sein. In den kontroversen Lektüreweisen des Buches bleiben solche »Deutungskämpfe« jedoch präsent.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Dorothee Röseberg, Rezension von/compte rendu de: Nicolas Offenstadt, Le pays disparu. Sur les traces de la RDA, Paris (Éditions Stock) 2018, 250 p. (Essais – Documents), ISBN 978-2-234-07789-8, EUR 22,50., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66595