War die nationalsozialistische »Volksgemeinschaft« nur propagandistischer Schein oder gar gesellschaftliche Wirklichkeit? Eine Frage, über deren Antwort die Fachwelt schon seit geraumer Zeit streitet. Dabei wurde seit den 1980er Jahren die Perspektive auf den Alltag in der NS-Zeit geweitet, Graubereiche individuellen Handelns in der Diktatur ausgelotet und ein allgemein differenziertes Verständnis vom Leben der Deutschen zwischen 1933 und 1945 gewonnen. Der Komplexität des Untersuchungsgegenstandes ist es geschuldet, dass die eingangs gestellte Frage allerdings bis dato nicht mit einfachen Erklärungen zu beantworten ist.
Auch Lisa Pine vermeidet trügerische Eindeutigkeiten, sie betrachtet die Gesellschaft im Nationalsozialismus vielmehr aus vielen unterschiedlichen Blickwinkeln, die in ihrer Summe ein facettenreiches Bild der oft widersprüchlichen Lebenswirklichkeit im »Dritten Reich« ergeben sollen. Der dieser Rezension zugrundeliegende Band ist die zweite Auflage des bereits 2007 erschienen Vorläufers. Damals begann eine breitere wissenschaftliche Debatte rund um den Begriff der »Volksgemeinschaft« als Analysekategorie sozialer Bindekräfte sowie gewaltsamer Ausgrenzungsdynamiken in der NS-Zeit1. Mit dem zehn Jahre später veröffentlichten, grundlegend überarbeiteten und aktualisierten Band kann Pine nun die Ergebnisse neuerer Forschungen einbeziehen und damit gleichwohl ihren Leserinnen und Lesern einen Überblick über das Thema wie auch eine Art (Zwischen-)Resümee der wissenschaftlichen Debatte bieten.
Das Buch ist in vier Hauptteile eingeteilt, die sich in insgesamt 18 Kapitel mit je unterschiedlichem Schwerpunkt untergliedern. Dem neuen Forschungsstand Rechnung tragend hat die Autorin ihren Text nicht nur editiert, sondern ihm gleich einen gänzlich neuen Abschnitt vorangestellt. Die knapp gehaltene Einleitung benennt das Ziel des Bandes: einen Überblick zu geben über das mittlerweile auch international weit verzweigte Forschungsfeld, kombiniert mit Auszügen historischer Quellen sowie »fresh insights and interpretations« (S. 1).
Im ersten, von Pine neu geschriebenen Abschnitt geht es um das Werden der NS-»Volksgemeinschaft« (»Creating the ›National Community‹«). Die Autorin tritt hier noch einmal einen Schritt zurück, um den Zusammenhang zwischen dem Aufstieg des Nationalsozialismus, dessen Attraktivität für weite Teile der Gesellschaft und einer allgemeinen Sehnsucht nach Gemeinschaft Anfang der 1930er Jahre deutlich zu machen. Dabei war das Schlagwort der »Volksgemeinschaft« bis 1933 mitnichten allein nationalsozialistisch konnotiert. Im Gegenteil konnten sich viele unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen und Parteien darauf verständigen. Letztlich trugen jedoch vor allem die Krisen der Weimarer Republik und der Vertrauensverlust in die Demokratie dazu bei, dass sich die nationalsozialistische Interpretation von »Volksgemeinschaft« – einer Gleichsetzung der deutschen Nation mit einer rassistisch definierten Gemeinschaft – durchsetzen konnte. Entsprechend beleuchtet Pine zunächst das ideologische Gedankengut sowie die Wählerinnen und Wähler der NSDAP, um anschließend auf Strategien der nationalsozialistischen Regierung zur Sicherung ihrer Macht einzugehen.
Im Mittelpunkt stand dabei stets die Herstellung gesellschaftlicher Homogenität und Konformität, die mittels der Vision von der NS-»Volksgemeinschaft« als einem vom »Führer« definierten höheren, noch zu erreichenden Gemeinwohl durchgesetzt werden sollte. Neben der Gleichschaltung des öffentlichen Lebens wurden ab 1933 politische Gegnerinnen und Gegner verfolgt und missliebige Personen ausgegrenzt. Terror und Zwang gingen eng einher mit einer Propaganda, die die Angst vor dem »Fremden« schürte – Feindbilder, die die Herrschaft der NSDAP legitimieren und für Zusammenhalt unter den Gemeinschaftsmitgliedern sorgen sollten. Doch Zwang allein erklärt nicht die hohe Bereitschaft vieler Menschen, sich bereitwillig anzupassen und sich aktiv für die Ziele des NS-Regimes einzubringen. Pine verweist hier auf die vielfältigen Wechselwirkungen zwischen Druck und Freiwilligkeit, die nicht zuletzt von den Verheißungen des Begriffs »Volksgemeinschaft« herrührten: das Versprechen einer besseren Zukunft, die Überwindung der Klassengegensätze und die Chance auf soziale Teilhabe – wohlgemerkt nur für diejenigen, die nach der rassistischen Logik als »Deutsche« galten und auch nur dann, wenn sie sich dem Willen des »Führers« unterordneten.
Um genau diese Menschen dreht sich der zweite Abschnitt (»Inside the ›National Community‹«). Dabei zeigt Pine schlüssig auf, dass die Gesellschaft im Nationalsozialismus nicht einmal annähernd so konform und homogen war, wie sie sich das NS-Regime wohl gewünscht hätte. Widersprüche und Ambivalenzen, die zum guten Teil selbst in der nationalsozialistischen Ideologie und der nur allzu vagen Definition der NS-»Volksgemeinschaft« begründet lagen, prägten den Alltag der »Volksgenossinnen« und »Volksgenossen«. Das begann bereits bei den vom Regime propagierten Rollenvorstellungen von Mann und Frau, deren Durchsetzung die politische Führung nicht immer konsequent handhabte. Insbesondere die Frauen, die das Regime gern weitestgehend auf die Hausfrauen- und Mutterrolle reduziert hätte, erhielten mit dem Zugang zu (niederen) politischen Ämtern auch vielfältige Möglichkeiten zur Teilhabe und Selbstermächtigung. Zudem setzte der Staat verschiedene (v. a. finanzielle) Anreize und lockerte traditionelle Konventionen (z. B. durch Liberalisierung des Scheidungsrechts) in der Hoffnung, so die Geburtenrate steigern zu können – was nur mäßig gelang, den Frauen aber ein Stück weit Unabhängigkeit ermöglichte.
Trotz Kampagnen gegen Doppelverdiener-Haushalte vermochte die NS-Regierung auch nicht zu verhindern, dass Frauen (begrenzt) weiter einer Arbeit nachgingen. Spätestens mit Beginn des Kriegs war dies sogar unausweichlich, um die zum Heer eingezogenen Männer zeitweilig an ihren Arbeitsplätzen zu ersetzen. Dabei kann Pine am Beispiel der Arbeitsdienstpflicht für Frauen sehr gut zeigen, wie sehr die Rhetorik von der »Volksgemeinschaft« ab 1939 Risse bekam: Weil sich insbesondere reiche Frauen dieser Pflicht erfolgreich entziehen konnten, traten die eigentlich überwunden geglaubten Klassenschranken deutlich zutage.
Doch was passierte mit denjenigen, die aus der »Volksgemeinschaft« ausgeschlossen waren? Und wer waren diese Menschen überhaupt? Diesen Fragen geht Pine im dritten Abschnitt (»Outside the ›National Community‹«) nach. Dabei zeigt sie schlüssig auf, dass das NS-Regime bei der Ausgrenzung von Minderheiten weitgehend an Stereotype und Ressentiments innerhalb der Mehrheitsgesellschaft anknüpfen konnte, die lange vor 1933 gepflegt worden waren. Entsprechend, so die Autorin, hätten sich auch nur wenige Deutsche dem gewaltsamen Ausschluss von jüdischen Deutschen, Sinti und Roma, Homosexuellen, Behinderten und sozialen Außenseiterinnen und Außenseiter aus der Gemeinschaft entgegengestellt, deren Diskriminierung und schließlich Ermordung aktiv befördert, im mindesten aber billigend in Kauf genommen. Als Ausnahmen nennt die Autorin einzelne Solidarisierungsaktionen mit der jüdischen Minderheit sowie Proteste gegen die staatlich angeordnete Ermordung von Kranken und Behinderten. Wer sich nicht zu den nationalsozialistischen Zielen bekannte und diese aktiv bekämpfte, stellte sich nach der Logik des NS-Regimes außerhalb der NS-»Volksgemeinschaft«, wurde brutal verfolgt und ermordet.
Entsprechend klein war die Gruppe der politischen Opposition, der Pine ein Unterkapitel widmet, in dem sie auch die Debatte um den Widerstandbegriff anreißt. Die Autorin macht dabei deutlich, wie weit das Spektrum von Verweigerung reichte: von jugendlicher Renitenz über religiös motivierte Resistenz bis hin zu politischem und militärischem Widerstand. Altbekannte (Helden-)Geschichten werden hier erzählt, so die der »Weißen Rose«, allerdings erfährt man weder etwas Genaueres zu Verweigerungshandeln im Alltag noch zum Widerstand der von Pine leider vorrangig als passives Opfer dargestellten jüdischen Minderheit2. Dies ist wohl dem dann doch zu eng gefassten Widerstandsbegriff, mit dem Pine hier operiert, geschuldet.
Im vierten Abschnitt (»Cultural Life and the ›National Community‹«) geht es um die Durchdringung der Gesellschaft mit der nationalsozialistischen Weltanschauung durch die Hoch- und Massenkultur. Unmittelbar nach der Machtübernahme 1933 besetzte die politische Führung die Schlüsselpositionen in allen kulturellen Institutionen mit politisch zuverlässigen Personen. Presse, Rundfunk, Film und Theater wurden dabei gezielt als Propagandamedien aufgebaut und instrumentalisiert. Sie sollten nicht nur regimefreundlich berichten, sondern insbesondere über Unterhaltung die Idee der NS-»Volksgemeinschaft« an die breite Masse vermitteln. Dabei setzten die Machthabenden insbesondere auf das moderne Massenmedium Radio. Ziel war die Schaffung von gesellschaftlicher Konformität und Legitimierung der politischen Maßnahmen. Während des Kriegs lenkten Unterhaltungsprogramme von der Not des Alltags ab. Gleichzeitig ermöglichte das Radio aber auch Zugang zu unzensierten Informationen – das Abhören sogenannter »Feindsender« war jedoch verboten und wurde entsprechend hart bestraft.
In Kunst, Architektur, Literatur und Musik stand hingegen die »kulturelle Reinigung« von »schädlichen« Einflüssen im Vordergrund. So bekämpfte das NS-Regime die »entartete Kunst« beispielsweise des Expressionismus und verteufelte den schlichten Bauhaus-Stil als »undeutsch«. Allerdings zeigte sich das staatliche Agieren hier nicht immer konsequent. Das macht Pine am Beispiel des sozialen Wohnungsbaus deutlich, der – zwar unter neuen ideologischen Vorzeichen – Tendenzen aus der Weimarer Zeit fortsetzte. Auch musste das Regime oft genug Zugeständnisse machen, wie im Fall des Jazz, den die Machthabenden als »jüdische Musik« brandmarkten, ihn allerdings aufgrund seiner weitreichenden Beliebtheit in der Bevölkerung duldeten.
Die Autorin gelangt zum treffenden Schluss, dass die Idee der »Volksgemeinschaft« – obwohl nicht realisiert – einer großen Anzahl Menschen Handlungsspielräume ermöglichte, wenn sie sich den Zielen des NS-Regimes unterordneten. Gerade weil die NS-»Volksgemeinschaft« nicht klar definiert war, konnten sich die unterschiedlichsten Akteurinnen und Akteure auf sie verständigen (und den Begriff zu ihren jeweiligen Gunsten interpretieren). Umgekehrt bedeutete dies, dass es keine totale Kontrolle des Staates über die Gesellschaft geben konnte. Letztlich bestimmte jede/r Einzelne zu einem guten Stück weit selbst, wie er oder sie den Volksgemeinschaftsbegriff konkret mit Leben füllte, wann und wie er oder sie sich für nationalsozialistische Ziele einbrachte. Schlussendlich blieb der Traum von der »Volksgemeinschaft« unverwirklicht, aber allein der Versuch seiner Umsetzung zeitigte reale Konsequenzen: Die Rechtfertigung des eigenen Handelns zur Erreichung eines vermeintlichen (vom »Führer« definierten) Gemeinwohls setzte einen radikalen Ausgrenzungsprozess in Gang, der Millionen Menschen das Leben kostete.
An vielen Stellen des Bandes finden sich interessante Dokumente und Fotos zur Unterfütterung von Pines Ausführungen. Während die Autorin auf die Dokumente ausreichend Bezug nimmt, vermeidet sie es leider, die Bilder kritisch in ihre Analyse einzubinden und als historische Quelle zu hinterfragen. So erfährt man abseits der spärlichen Quellenangaben und Bildunterschriften fast gar nichts über Ursprung und eigentlichen Zweck (Propaganda?) der Fotos; beim Coverbild fehlt der Quellenhinweis völlig oder ist so gut versteckt, dass Lesende ihn auf Anhieb nicht finden. Sehr schade, dass die Bilder von Pine offensichtlich rein illustrativ genutzt werden; damit verschenkt die Autorin wertvolles Potenzial. Denn hier hätte es sich gelohnt, genauer hinzusehen – insbesondere die Details (z. B. handschriftliche Ergänzungen) sind äußerst aufschlussreich und hätten Pines Analyse noch mehr Tiefenschärfe verliehen.
Auffällig ist ebenfalls, dass die Autorin überwiegend Titel angloamerikanischer Autorinnen und Autoren oder ins Englische übersetzte Titel einiger deutschsprachiger Forschender zitiert. Dadurch kommt die dynamische Debatte, die in der deutschen Geschichtswissenschaft während der letzten zehn Jahre geführt wurde, leider ein wenig zu kurz. Das kann man der Autorin allerdings nur halb zum Vorwurf machen. Vielmehr zeigt es, dass die deutsche beziehungsweise kontinentaleuropäische und die angloamerikanische Forschung längst nicht so vernetzt sind, wie es bei diesem Thema wünschenswert wäre.
Insgesamt liefert Pine einen allgemein verständlichen und soliden Einstieg in die Alltags- und Gesellschaftsgeschichte des »Dritten Reichs«, der zwar aufgrund der Themenfülle notgedrungen an vielen Stellen an der Oberfläche bleiben muss, aber zum weiteren Nachdenken und -forschen anregt. Lisa Pines Überblick über die NS-»Volksgemeinschaft« sei daher allen Studierenden und interessierten Laien ans Herz gelegt und auch die Rezensentin hat noch das ein oder andere Interessante hinzugelernt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christine Schoenmakers, Rezension von/compte rendu de: Lisa Pine, Hitler’s »National Community«. Society and Culture in Nazi Germany. Second Edition, London (Bloomsbury Publishing) 2017, XIV–365 p., 26 b/w fig., ISBN 978-1-4742-3877-9, GBP 19,99., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66596