Bei dem Internationalen Militärtribunal (IMT) von Nürnberg und dem Prozess gegen die deutschen Hauptkriegsverbrecher 1945/1946 handelt es sich um ein Themenfeld, dessen Bearbeitung sich traditionell Forschende aus Geschichts- und Rechtswissenschaft zur Aufgabe gemacht haben. Dass sich Vertreterinnen und Vertreter anderer Disziplinen hierzu zu Wort melden, muss als die Ausnahme bezeichnet werden. Schon allein aus diesem Grund lohnt sich ein Blick in die Studie von Valéry Pratt, bei der angesichts des fachlichen Hintergrunds des Autors ein solcher Fall vorliegt: Als promovierter Philosoph nähert sich Pratt dem Thema aus einer unkonventionellen Perspektive an.

Mit seinem Buch, das auf seiner an der École des hautes études en sciences sociales (EHESS) abgeschlossenen Dissertation basiert, verfolgt er das Ziel, den philosophischen wie staatsrechtlichen Fachdiskurs um den Hauptkriegsverbrecherprozess und seine Konsequenzen für die weitere Entwicklung des Völkerrechts nachzuzeichnen. Als Akteure hat er dabei nicht nur die an dem Prozess beteiligten Juristen der vier alliierten Siegermächte des Zweiten Weltkriegs im Blick, sondern auch namhafte zeitgenössische Theoretiker wie Hans Kelsen, Carl Schmitt oder Jürgen Habermas, die den Prozess und seine Bedeutung als Außenstehende bewerteten. Deren Schriften sowie die veröffentlichten Nürnberger Prozessprotokolle bilden die Quellen, auf die sich die Studie stützt.

Pratt geht in zwei Schritten vor: Der erste Abschnitt des Buchs befasst sich mit dem Hauptkriegsverbrecherprozess selbst. In vier Kapiteln werden hier Vorgeschichte, Ablauf und Ausgang des Verfahrens behandelt. Allerdings geht es dem Verfasser um keine lückenlose historische Darstellung des gesamten Geschehens. Vielmehr arbeitet er die Grundüberlegungen heraus, die sich in einzelnen, den Prozess betreffenden Schlüsseldokumenten, wie beispielsweise dem Statut des IMT, niederschlugen, und analysiert diese Gedankengänge. Im zweiten Abschnitt steht die Frage nach den dem Prozess zugrundeliegenden Prinzipien und nach ihrer Bedeutung für die weitere Entwicklung des Völkerrechts im Mittelpunkt. Pratt geht hier in drei weiteren Kapiteln auf die großen Streitfragen in der Bewertung des Prozesses ein und orientiert sich auch dabei in seiner Darstellung an zentralen Dokumenten wie der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen vom 10. Dezember 1948. Das Buch endet mit einem Schlussteil, in dem in zwei letzten Kapiteln noch weitergehende, grundsätzliche Überlegungen über die Konstitutionalisierung des Völkerrechts angestellt werden.

Das Hauptverdienst der Studie besteht ohne jeden Zweifel darin, dass sie die tiefgehende Reflexion zeitgenössischer Philosophen und Staatsrechtler über den Hauptkriegsverbrecherprozess und seine Folgen aufzeigt, die in der Geschichtswissenschaft bislang kaum Beachtung gefunden hat. Für den österreichischen Rechtstheoretiker Hans Kelsen arbeitet Pratt beispielsweise minutiös heraus, wie sich dessen Haltung im Laufe der Jahre entwickelte und zu welchen Schlussfolgerungen er gelangte. 1940 in die USA emigriert, forderte Kelsen eine umfassende Reform des Völkerrechts, die ein weltweites Verbot von Angriffskriegen und die Friedenssicherung als Hauptzweck einer solchen Reform gewährleisten sollte. Hierfür akzeptierte er auch das Prinzip einer internationalen Gerichtsbarkeit, der für ihn sogar eine Schlüsselfunktion zukam. Nach der Moskauer Erklärung der alliierten Mächte vom 1. November 1943 brachte Kelsen jedoch Bedenken gegen die Postulierung von individueller Verantwortung und Haftung im Völkerrecht vor, die die Erklärung kennzeichnete.

Aus denselben Erwägungen heraus formulierte er später heftige Kritik an der Einsetzung des IMT und dessen Arbeit. Denn für eine Anklage gegen individuelle Personen vor einem internationalen Gerichtshof, insbesondere wegen Planens und Führens eines Angriffskriegs, wie sie in Nürnberg verhandelt wurde, sah Kelsen im bestehenden Völkerrecht, das allein Staaten als Rechtssubjekte kannte, keine ausreichende Grundlage. Dem Nürnberger Urteil sprach er, in explizitem Gegensatz etwa zu dem amerikanischen Chefankläger vor dem IMT, Robert H. Jackson, seinen Präzedenzcharakter ab und bedauerte, dass dieses seine Legitimität allein aus dem Londoner Abkommen der alliierten Siegermächte vom 8. August 1945 schöpfte. Bei Kelsen handelte es sich damit um einen Staatsrechtler, der die Idee einer Weiterentwicklung des Völkerrechts hin zur Etablierung einer globalen Friedensordnung durchaus befürwortete, sich jedoch gegen das Vorgehen wandte, für das sich die alliierten Regierungen mit der Bildung des IMT entschieden hatten.

In Pratts Darstellung werden Positionierungen wie diejenige Kelsens in aller Differenziertheit herausgearbeitet und in ihren zeitgenössischen Kontext eingeordnet. Damit leistet das Buch einen ebenso aufschlussreichen wie wichtigen Beitrag zur Bewertungs- und Rezeptionsgeschichte des Nürnberger Prozesses gegen die Hauptkriegsverbrecher – eines Prozesses, über den wohl mehr geschrieben und gestritten wurde als über jeden anderen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Matthias Gemählich, Rezension von/compte rendu de: Valéry Pratt, Nuremberg, les droits de l’homme, le cosmopolitisme. Pour une philosophie du droit international, Lormont (Le Bord de l’eau éditions) 2018, 273 p. (La Pensée élargie), ISBN 978-2-35687-400-9, EUR 22,00., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66597