Für die Herausgeber, Autoren und Autorinnen des vorliegenden Sammelbandes stellte der Kalte Krieg ein binär gedachtes Ordnungssystem dar, dessen »Konstruktion und Verfestigung« sich alternative Dynamiken und Widerstände gegenüber stellten, die zu rekonstruieren es gelte. Wie weit die bipolare Ordnung denn tatsächlich reichte, welche konkurrierenden Systemlogiken entworfen wurden, wo Ordnungen des Kalten Krieges transzendiert und aufgehoben wurden, ist die ehrgeizige Fragestellung eines in der Summe anregenden, aber auch bohrende Rückfragen provozierenden Bandes. Denn es ist angesichts der Energien, die der Ost-West-Konflikt in der historischen Forschung freigesetzt hat, ein höchst ehrgeiziges, Widerspruch geradezu provozierendes Unterfangen, »die« Forschung einer bestimmten Haltung zu bezichtigen.
Das Herausgeberteam spricht mit selbstbewusster, wenn auch adverbial abgeschwächter Geste davon, es gelte die Geschichte des Ost-West-Konflikts »zumindest in einer erweiterten Perspektive jenseits der ausgetretenen Pfade zu denken« (S. 1). Doch welche Forschenden beschreiten diese »ausgetretenen Pfade« heute noch so, wie dies zum Zeitpunkt der primären Historisierung des Kalten Krieges in den 1970er und 1980er Jahren der Fall gewesen sein mag? Ross und Reiter nennt Mitherausgeber Frank Reichherzer, der für die Einleitung als Autor zeichnet, leider nicht. Auch wenn mir diese revisionistische Grundhaltung sympathisch ist, möchte ich einwerfen, dass der Band sich an einem Bild des Kalten Krieges abarbeitet, das zwar in der breiten Öffentlichkeit sehr präsent ist sowie Darstellungen in Schulbüchern und Medien prägt. Doch, mit Verlaub: In weiten Teilen der Historiografie sind monolithische, rein binäre Sichtweisen des Kalten Krieges wenig aktuell.
In der Perspektive geht der Band über eine Kritik binärer Konzepte des »Kalten Krieges« sogar noch hinaus. Er deute eine breitere, intellektuell fruchtbare Perspektive »multipler Modernen« an, die dann nur ansatzweise entfaltet werden kann. Es geht auch um eine umfassendere Auseinandersetzung mit der westlichen Moderne, mit ihren vermeintlich klaren Linien und Ordnungsvorstellungen, weshalb konsequenterweise mehrere Einzelbeiträge auf Entwicklungen in der sogenannten »Dritten Welt« fokussieren, so die Artikel zu »Blockfreien« (Jürgen Dinkel), Vorstellungen von »Interdependenz« (Martin Deuerlein) und »einer Welt« (David Kuchenbuch) sowie Organisationen wie UNCTAD (Michel Christian) oder ASEAN (Andreas Weiß). Besonders anregend sind die Beiträge von Kuchenbuch und Deuerlein.
Denn methodisch lassen sich Herausgeber, Beiträgerinnen und Beiträger von der »Figur des Dritten« inspirieren, die in der Literaturwissenschaft, ausgehend nicht zuletzt von dem bekannten Konstanzer Graduiertenkolleg dieses Namens, seit gut zwei Jahrzehnten intensiv diskutiert wird. Erfreulicherweise orientieren sich die Einzelbeiträge mehrheitlich an diesem übergreifenden theoretischen Rahmen, was dem Band Kohärenz verleiht. Wie jedoch die literaturwissenschaftliche Forschung herausgearbeitet hat, betritt mit der »Figur des Dritten« im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts ein Topos die literarische Bühne, der die hochmodern-westlichen binären Codes radikal in Frage stellt1. Dass das nichtbinäre Denken »jenseits des Kalten Krieges« in den 1970er und 1980er Jahren auch im politischen Feld mehr Plausibilität erhielt, spiegelt die Mehrheit der Beiträge übrigens in den jeweils gesetzten chronologischen Einschnitten wider oder sie beschäftigen sich ohnehin nur mit der Epoche seit 1970.
So interpretiert Jan Hansens Beitrag zur Diskussion über das »Ende der Ideologien« ein 1981 veröffentlichtes Buch des mit Altbundeskanzler Willy Brandt eng verbundenen Journalisten Peter Bender, der zu den intellektuellen Wegbegleitern der Neuen Ostpolitik gehörte. Wie Hansen natürlich weiß, wurde die Diskussion über das »Ende der Ideologien« schon 1960 von Daniel Bell angestoßen, der sich wiederum auf andere Vorbilder beziehen konnte: »Das Nachdenken über Alternativen zum Ordnungssystem Kalter Krieg war so alt wie der Konflikt selbst« (S. 175).
Auch wenn der Kalte Krieg als System binärer Ordnungsvorstellungen in Politik, Wirtschaft, Sicherheit und Kultur fast unablässig hinterfragt wurde, so war die machtpolitische und intellektuelle Potenz sowie auch physische Präsenz dieser gedachten Ordnung so stark und fast unwiderstehlich, dass sich selbst Neutrale dem Sog des binären Denkens nur schwer entziehen konnten. Die »Blockfreien« arbeiteten sich an den ideologischen Blöcken ab oder nutzten den Ost-West-Konflikt opportunistisch aus (von Mobutu bis Mugabe) wie auch die Schweiz der 1950er Jahre nachgerade eine Hochburg des Antikommunismus war, so Silvia Berger Ziauddins Beitrag zum Atombunkerbau in der Eidgenossenschaft. Seit den späten 1960er Jahren mehrte sich Kritik am Schutzraumbau, die sich dann in der Friedensbewegung der 1980er Jahre in der Schweiz voll entfaltete. Dieser wie auch andere Beiträge zu Orten und gedachten Räumen des Kalten Krieges untermauern aber dann doch die klassische Chronologie von der Etablierung eines binären Systems in den 1950er Jahren, das seit den 1960er Jahren dann zunehmend von anderen Sachlogiken und »Megatrends« überlagert wurde, so Annette Vowinckels Beitrag zum Schönefelder »Staatsflughafen« der DDR und Phillip Wagners Beitrag zu Austauschprozessen zwischen Stadtplanern Ost und West. Dies gilt auch für die Zusammenarbeit zwischen Ost und West im Bereich der Geheimdienste zur Bekämpfung des Terrorismus (Emmanuel Droit) und der islamistischen Herausforderung (Grischa Sutterer) seit den 1970er Jahren.
Der Kampf gegen die binären Codes fand überwiegend, wenn auch nicht ausschließlich auf dem intellektuellen Feld statt, weshalb die große Mehrheit der Beiträge auch der intellectual history zugeordnet werden kann. Auch die in mehreren Beiträgen auftretenden Experten und Politikberater changierten zwischen opportunistischer Mimikry und Korrekturversuchen. Wie tief sich jedoch »die jahrzehntelang eingeübten binären Ordnungsvorstellungen« auch in Expertendiskurse eingegraben hatten und das Jahr 1990 noch überdauerten, reißen Sophia Dafinger in einem Aufsatz zu »Experten des Luftkriegs« an (S. 104) wie auch Isabell Schrickel in einem Beitrag zum »International Institute for Applied Systems Analysis«. Frank Reichherzers Aufsatz zur Trilateral Commission unterstreicht die Schwierigkeiten, die sich einer Gruppierung stellten, die seit den 1970er Jahren Probleme »jenseits des Kalten Kriegs« bearbeitete. Heike Wieters wiederum charakterisiert humanitäre NGOs als »hochgradig ambivalenten Akteur […], der je nach Kontext als störender ›Dritter‹ oder aber als Addendum und Stabilisator einer binären Ordnungslogik fungieren konnte« (S. 161 f.). Es kommt also darauf an – so die differenzierende Quintessenz des großangelegten Versuchs zum Revisionismus, den der Band beabsichtigt.
Zweifellos kann und will kein Sammelband Vollständigkeit erzielen und die Einleitung nennt »das Fehlen der Felder Sport, Religion und Kunst«, für die keine Beiträge gefunden worden seien, als bedauerliche Lücke (S. 8, Anm. 14). Der folgende Verweis auf fehlende Aspekte und Themen mag daher rezensionstechnisch lahm wirken und wurde überdies von den Herausgebern antizipiert. Dennoch möchte ich auf zwei oder drei Komplexe verweisen, die angesichts der Konzeption und Fragestellung auffällige Lücken darstellen. Hierzu Beiträge einzuwerben, wäre ein leichtes gewesen und hätte mehr argumentative Wucht erbracht als etwa eine weitere Darstellung zum »Kalten Krieg auf der Aschenbahn«, wie sie die Herausgeber selbst vermissen.
Ich meine die sozialen und Protestbewegungen, die sich angefangen mit den Friedensbewegungen schon der 1940er und 1950er Jahre der »Teilung der Welt« entgegenstemmten; daran schloss die nonkonformistische »Neue Linke« an, die vor dem Hintergrund der Dekolonisierung seit den frühen 1960er Jahren die Achse der Weltgeschichte von der Ost-West auf die Nord-Südrichtung drehen wollte. Zwar scheiterte mit »1968« dieser Anspruch krachend. Doch die daraus hervorgegangene »Dritte Weltbewegung« sowie der Postkolonialismus setzten diese politischen und intellektuellen Linien in den 1970er und 1980er Jahren sehr wirkmächtig fort. Das postkoloniale Theorieangebot taucht in dem einen oder anderen Beitrag auch auf. Insbesondere die »neulinke« Kritik am Kalten Krieg wäre aufgrund ihrer zentralen Bedeutung für die hier bearbeitete Fragestellung schon einen eigenen Artikel wert gewesen wie auch die unorthodoxen Sozialisten des »Ostens« leider fehlen (mit dem »Prager Frühling« als ereignisgeschichtlichem Höhepunkt).
Überhaupt ist der Band überwiegend aus westlich-atlantischer Perspektive konzipiert, unter Einschluss zwar der »Dritten Welt«. Sichtweisen auf die »Figur des Dritten« von innerhalb des sowjetischen Imperiums fehlen fast vollständig. Schließlich bleibt auch die Entspannungspolitik in ihren amerikanischen und europäischen Varianten weitgehend außen vor, obwohl diese es sich zur Aufgabe gemacht hatte, den Status quo des Kalten Krieges zu überwinden. Dieter H. Kollmers Artikel zur Rüstung kann diese Lücke nicht füllen, obwohl er die Paradoxie herausarbeitet, dass sich die Staaten aufgrund dominanter wirtschaftlicher Interessen gerade im sicherheitspolitischen Arkanbereich der blockbildenden Binarität zu entziehen versuchten. Wenn der Band die in der Einleitung formulierten Ansprüche daher auch nur partiell erfüllen kann und in der Durchführung etwas kurz springt, so wirft er in der Summe doch wichtige Fragen auf und hat für die weitere Debatte hohes Anregungspotential.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Philipp Gassert, Rezension von/compte rendu de: Frank Reichherzer, Emmanuel Droit, Jan Hansen (Hg.), Den Kalten Krieg vermessen. Über Reichweite und Alternativen einer binären Ordnungsvorstellung, Berlin (De Gruyter Oldenbourg) 2018, VIII–317 S., ISBN 978-3-11-048180-8, EUR 59,95., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66599