Im Jubiläumsjahr 2018 ist es relativ ruhig geblieben, was die Zahl der wissenschaftlichen Diskussionen um »1968« betrifft. Die erschienenen Essays von Detlef Siegfried und Wolfgang Kraushaar zeigen zum einen, dass »1968« in kulturgeschichtliche, transnationale und globale Prozesse zu verorten ist (Siegfried) und zum anderen, dass mittlerweile ein verdichteter und weitgehend akzeptierter Forschungsstand zu »1968« vorliegt (Kraushaar)1. Wie viel Potential jedoch noch im Komplex »1968« liegt, zeigen seitenstarke Detailpublikationen, darunter eine Vielzahl an theologisch-historischen Studien.

Dorothee Weitbrecht verwies schon 2012 auf die große Schnittmenge zwischen globalem Aufbruchprozess der Studierenden und protestantischer Theologie: von Helmut Gollwitzer als Mentor der Studentenbewegung bis hin zur »Theologie der Revolution« in Lateinamerika. Hans Magnus Enzensberger wusste gar von einem Jesuitenpater zu berichten, der eine aufmerksame Marx-Exegese in den 1950er Jahren an der Universität Freiburg betrieb. Kurzum: Vor diesem Hintergrund erscheint eine Mikroperspektive der Evangelisch–Theologischen Fakultäten zu hochpolitisierten Zeiten sehr lohnenswert.

Tobias Sarx, langjähriger akademischer Mitarbeiter an den Untersuchungszentren der Arbeit in Bochum und Marburg, wählt in seiner Studie mit der Evangelisch–Theologischen Fakultät Marburg eine traditionsreiche Universität und stellt ihr mit Bochum eine neue Hochschulgründung entgegen, an der noch keine festen Strukturen entwickelt waren. Die Kirchliche Hochschule (KiHo) Berlin spielt als Vergleichspunkt in der Studie eine »Schlüsselrolle«, da sie weitgehend unabhängig von »strukturellen Zwängen staatlicher Universitäten« war (S. 27). Mit den Universitäten nimmt Sarx nicht nur die »Agitationszentren der 68er« in den Blick, sondern auch die Ausbildungsstätten der zukünftigen Leitungsebene der evangelischen Landeskirchen (S. 20f.). Die Einleitung verortet »1968«, verstanden als Zeitraum von 1967–1975, mit aktueller Literatur in die transnationalen und globalen Prozesse, nimmt sich dafür jedoch zu viel Raum, um dann die Frage zu entwickeln, welchen Einfluss die Proteste auf Kirche und Theologie in der Bundesrepublik hatten. Innerhalb der theologischen Forschung möchte die Studie klären, weshalb »1968« oft marginalisiert wurde und welchen impact die Ideen hatten.

Grundlage der Studie stellt ein beeindruckendes Archivmaterial aus 18 Archiven dar, das ausführlich und leserfreundlich auf 12 Seiten sortiert wurde. Es werden Hochschul-, Ministerial-, Gerichtsakten, Bewegungsdokumente, Nachlässe, landeskirchliche Archive, Akten der Stasi-Behörde und des Bundesarchivs analysiert. 14 Interviews sowie Presseerzeugnisse (hier wäre eine kleine Kommentierung der studentischen Zeitschriften als besondere Quellenform lesenswert) runden das Bild ab. Leider finden sich unter »Literatur« ebenfalls die »Quellen« aufgeführt, was bedeutet, dass hier auch »Die Zeit« oder studentische Zeitschriften wie »AStA-Info« aufgeführt werden.

Die Quellenlage schildert der Autor als sehr gut. Für die besuchten Archive mag dies gelten. Da die Arbeit sich sehr stark auf den SDS konzentriert, wäre hier zumindest auf die daraus resultierende Problematik hinzuweisen. Denn Rudi Dutschke taucht an vielen Stellen auf, allerdings wird der SDS in seiner Fraktionierung an den einzelnen Universitäten nicht weiter problematisiert, die Zeitschrift »neue kritik« wird nicht untersucht und es findet kein Abgleich mit anderen, überregionalen studentischen Zeitschriften statt. Dadurch versäumt es die Studie, die bundesweite Rezeption der geschilderten Positionen zu untersuchen.

Die Studie liest sich entsprechend detailliert und gleicht aufgrund ihrer starken Untergliederung eher einer Dissertation. Aufgrund des hohen Detailgrades stellt das Buch eine wichtige Aufarbeitung für den Komplex Theologie und »1968« dar. Der Autor bemüht sich trotz der Details um Thesenstärke. Etwas schade ist, dass einige Antworten mit den Dimensionen »neue Umgangsformen«, »neues Lebensgefühl« und »neuer theologischer Richtungen« diesen detaillierten Anspruch nicht untermauern können. So erklärt Sarx den Erfolg von »1968« bei den Theologiestudenten durch die Entdeckung gesellschaftlicher Missstände, den Traum eines harmonischen Zusammenlebens und den Spaßfaktor politischer Unternehmungen (S. 566) – hier hätte eine Habilitationsschrift noch eine tiefergehende Analyse bieten können und auch detaillierter mit der »Theologie« argumentieren können. Auch der »nicht zu unterschätzende Einfluss auf Theologie und Kirche« (S. 567) von »Befreiungstheologie« und »Feministischer Theologie« sollte detaillierter aufgezeigt werden.

Wichtige und starke Aspekte führt die Arbeit im Hauptteil auf: der frühe Beginn von »1968« schon ab 1963, die Rezeption von Wilhelm Reich, die östlichen Besucher in theologischen Kreisen und die gerade sprachliche Frontstellung mit dem Ziel, den »Gegner« etwa durch Titulierungen als »Faschist« unbedingt zu besiegen (S. 114ff.). Sehr anschaulich werden der Vorwurf einer theologischen Sympathie für die RAF und der Berliner »Kirchenstreit« des Jahres 1974 (S. 405) sowie die innerkirchlichen Folgen eines kommunistischen Engagements dargestellt. Am Fall von Rolf Trommershäuser zeigten sich die großen studentischen solidarischen Protestwellen an der Universität Marburg, die eine Versetzung und Entfernung Trommershäusers aus dem kirchlichen Dienst hervorriefen (S. 203). Der Analyseteil der Arbeit ist stets kritisch und benennt beidseitige Motivationslagen. An einigen Stellen wäre es wünschenswert, wenn die Studie detaillierter auf den Forschungsstand eingehen würde, etwa zum Thema »Isolationsfolter« der RAF (inklusive kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff). Einige spannende Erkenntnisse könnte die Studie zudem noch stärker hervorheben: dass etwa der Rektor der KiHo, Walter Schmithals, mit einem Flugblatt die Kritik des AStA beantwortete, zeigte, wie schnell und wie sehr sich die Kommunikation veränderte (S. 342).

Kritisch verweist der Autor darauf, dass der Marxismus eigentlich keine gute Symbiose mit der Theologie darstellte, da er die Existenz von Gott ablehnte (S. 575). Die Frage, ob »1968« nun prägend für die protestantische Theologie ist, umschifft die Studie leider ein wenig mit dem starken Fokus auf den SDS und der wie erwähnt etwas unterbelichteten theologischen Dimension. Ein Vorteil der verwendeten Interviews ist, dass Motivationen zum Engagement um »1968« bewertet werden können. So bekannte der Theologe Manfred Seitz etwa, dass die Studierenden auf die Missstände des amerikanischen Militäreinsatzes in Vietnam aufmerksam gemacht haben. Andere Interviewpartner äußerten, dass es ein Glück war, dass die Ideen von »1968« nicht erfolgreich waren, etwa in der Forderung nach einer Kulturrevolution nach chinesischem oder albanischem Vorbild. Damit bewegt sich die Arbeit auf einem aktuellen und kritischen Niveau, auch wenn Spezialliteratur zur Kulturrevolution und der Studentenbewegung fehlt. Aufgrund des Detailwissens und der Informationsfülle stellt die Studie eine wichtige Komponente der Deutung von »1968« dar, auch wenn die theologischen Bezüge in den Schlusskapiteln hätten stärker hervorgestellt werden können.

1 Vgl. zu diesen und weiteren Publikationen: Silja Behre, Regards croisés sur les 50 ans de »1968« en France et en Allemagne, in: Francia 46 (2019), S. 319–329.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Kristof Niese, Rezension von/compte rendu de: Tobias Sarx, Reform, Revolution oder Stillstand? Die 68er-Bewegung an den Evangelisch-Theologischen Fakultäten Marburg, Bochum und der Kirchlichen Hochschule Berlin, Stuttgart (Kohlhammer) 2018, 624 S. (Konfession und Gesellschaft. Beiträge zur Zeitgeschichte, 52), ISBN 978-3-17-034449-5, EUR 60,00., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66600