Das kleine Städtchen Isny im Allgäu ist noch heute stolz auf »seinen« Kardinal Franz Ehrle und ehrt ihn mit zwei Gedenktafeln. Doch wer war dieser schwäbische Jesuit, den Mediävisten als Herausgeber mittelalterlicher Handschrifteneditionen zwar heute noch kennen, dessen Person, Leben und Werk allerdings bisher ungleichmäßig und unzureichend erforscht sind? Um diese Frage zu beantworten, organisierten die Herausgeber des anzuzeigenden Bandes, Andreas Sohn und Jacques Verger von der Pariser Sorbonne, im Februar 2015 eine zweitätige Tagung in Rom, deren Beiträge im vorliegenden Band zusammengeführt werden. Sie führte gleichsam ein Symposium fort, das die Herausgeber im Dezember 2012 in Paris zum Leben und Werk des Dominikanerpaters Heinrich Denifle (1844–1905) organisiert hatten1. Beide Veranstaltungen »sind thematisch aufeinander bezogen und miteinander verzahnt« (S. 18).
Ehrle wurde am 17. Oktober 1945 in Isny geboren. Die schulische und jesuitische Ausbildung durchlief er in Feldkirch im Vorarlberg, Gorheim bei Sigmaringen, Friedrichsburg bei Münster und Maria Laach in der Eifel. Von dort aus ging er kulturkampfbedingt ins englische Ditton Hall bei Liverpool. Nach der Priesterweihe am 24. September 1876 wurde er kurzzeitig in der Seelsorge eingesetzt. Daran schloss sich eine Tätigkeit bei der jesuitischen Kulturzeitschrift »Stimmen aus Maria Laach«, den späteren »Stimmen der Zeit« an, die von Schloss Tervueren bei Brüssel aus redigiert wurden.
Die Öffnung der vatikanischen Archive für die wissenschaftliche Forschung durch Leo XIII. 1880/1881 löste ein regelrechtes »Goldfieber« (S. 17) in der europäischen Wissenschaftslandschaft aus. Die Ordensleitung schickte Ehrle nach Rom, wo er nicht nur auf Denifle traf, mit dem er viele wissenschaftliche Interessen teilte, sondern auch eine Karriere in der Römischen Kurie antrat. 1890 erhielt er einen Sitz im Verwaltungsrat der Vatikanischen Bibliothek, von 1895 bis 1914 war er deren Präfekt. Wegen des Ersten Weltkriegs musste Ehrle Rom zeitweise verlassen. 1922 berief Pius XI. ihn ins Kardinalskollegium, 1929 wurde er Kardinalbibliothekar und -archivar der Römischen Kurie. 1934 verstarb Ehrle hochbetagt.
Die gesammelten Beiträge gliedern sich in vier Themenbereiche. Im ersten Abschnitt »Ehrle und der Jesuitenorden« sieht Klaus Schatz dessen Einfluss auf den Jesuitenorden darin, dass durch ihn die Ordensgeschichte ein wissenschaftliches Großprojekt wurde und dass er den Weg zeigte, wie die Hochschule Sankt Georgen gegründet werden konnte. Andreas R. Batlogg untersucht Ehrles Zeit als Chefredakteur der »Stimmen der Zeit» in München zwischen November 1916 bis September 1917, in der er zur Römischen Frage und zur Friedensinitiative Benedikts XV. publizierte.
Im zweiten Abschnitt »Ehrle und die vatikanische Bibliothek« gibt Bernard Ardura einen Überblick über die Päpste, unter denen Ehrle wirkte, mit Blick auf die Frage, inwiefern Leo XIII. (1878–1903), Pius X. (1903–1914), Benedikt XV. (1914–1922) und Pius XI. (1922–1939) die historischen Wissenschaften förderten. Schließlich setzte sich die protestantisch dominierte Geschichtswissenschaft äußerst kritisch mit der Geschichte der katholischen Kirche auseinander, um die weltanschaulich und konfessionell motivierte Kämpfe ausgefochten wurden.
Um in dieser Auseinandersetzung bestehen zu können, sah sich die katholische Kirche gezwungen, selbst Historiker hervorzubringen, die nicht nur die Schätze, die im vatikanischen Geheimarchiv und in der vatikanischen Bibliothek schlummerten, hoben, sondern diese mit der historisch-kritischen Methode bearbeiteten. Ehrle wurde zu einem der wichtigsten Protagonisten der katholischen Geschichtswissenschaften. Christine Maria Grafinger zeigt, wie es Ehrle als Präfekt gelang, die Apostolische Bibliothek umfangreich zu modernisieren und an die Spitze der internationalen wissenschaftlichen Bibliotheken zu führen. Vincent Viaene kann durch einen Vergleich zwischen Ehrle und seinem Nachfolger im Amt des Präfekten, Giovanni Mercati (1919–1936), den geradlinigen Charakter des Managers Ehrle aufzeigen.
Im dritten Abschnitt »Ehrle während seines Kurienkardinalats« zeigt Stefan Gatzhammer, dass der Kardinal ab 1922 unter anderem in der Kongregation für die Außerordentlichen Kirchlichen Angelegenheiten, schwerpunktmäßig aber in der Ritenkongregation tätig war. Eine Analyse der 20 Nennungen Ehrles in der Online-Edition der Nuntiaturberichte des Münchener Nuntius Eugenio Pacelli hätte hier weitere Erkenntnisse über sein Wirken als einziger deutscher Kurienkardinal bringen können2. Stefan Heid untersucht Ehrles Tätigkeit als Kardinalprotektor des Campo Santo Teutonico, der bei der Neubesetzung des Rektorenpostens 1930–1934 eine wichtige Rolle spielte.
Im vierten Abschnitt »Ehrle und sein Werk« untersucht Jacques Verger die Zusammenarbeit zwischen Ehrle und Denifle in dem von ihnen herausgegebenen siebenbändigen »Archiv für Literatur- und Kirchengeschichte des Mittelalters«. Hierin legten die beiden Forscher ausschließlich ihre eigenen Arbeiten vor – im Falle von Ehrle meist Editionen von Handschriften aus der Vatikanischen Bibliothek –, wodurch sie schnell genau das publizieren konnten, woran sie gerade arbeiteten. Verger macht vier Forschungsschwerpunkte Ehrles aus, denen jeweils ein weiterer Beitrag gewidmet ist. Isabelle Mandrella betrachtet Ehrles Forschungen zur Geschichte der Scholastik, die sein Hauptinteresse darstellte. Heinz-Dieter Heinemann fragt nach dem Platz Ehrles in der franziskanischen Ordensforschung im Kontext konfessioneller, geschichtswissenschaftlicher und ordenshistoriographischer Initiativen seiner Zeit.
Donatella Nebbai betrachtet Ehrles Forschungen zur Geschichte der päpstlichen Bibliothek. Hélène Millet untersucht Ehrle als Historiker des Großen Abendländischen Schismas und des letzten avignonesischen Papstes Benedikts XIII. Zwei Beiträge zu weniger zentralen Forschungsfeldern Ehrles schließen den Band ab. Carlo Frova widmet sich einer Studie Ehrles zur italienischen Universitätsgeschichte, genauer gesagt der Edition der Bologneser Universitätsstatuten von 1360–1500. Michaela Sohn-Kronthaler analysiert eine Monographie Ehrles zur Armenfürsorge, die sie in den Diskurs zur sozialen Frage im 19. Jahrhundert einordnet.
Während die einzelnen Beiträge auf Deutsch, Italienisch oder Französisch verfasst sind, liegen die Abstracts zusätzlich auch auf Englisch vor, wobei beim Abstract des Beitrags Batloggs ein falscher englischer Text abgedruckt wurde. Einleitung und Zusammenfassung der Herausgeber liegen sowohl auf Französisch als auch auf Deutsch vor. Ein Personen- und ein Ortsnamenregister runden den Band ab.
Durch die Lektüre ergibt sich ein facettenreiches Bild von Ehrles umfangreicher Forschungs- und Editionstätigkeit sowie seines Wirkens innerhalb der römischen Kurie und vor allem der Vatikanischen Bibliothek. Mit dem Band erhält Ehrle eine Ehrung, die man in jeder Bibliothek und nicht nur im allgäuischen Isny studieren kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Sascha Hinkel, Rezension von/compte rendu de: Andreas Sohn, Jacques Verger (dir.), Le cardinal Franz Ehrle (1845–1935)/Franz Kardinal Ehrle (1845–1935). Jésuite, historien et préfet de la Bibliothèque vaticane/Jesuit, Historiker und Präfekt der Vatikanischen Bibliothek. Actes du colloque de Rome (19–20 février 2015/Akten der Tagung in Rom (19.–20. Februar 2015), Rome (École française de Rome) 2018, 351 p. (Collection de l’École française de Rome, 551), ISBN 978-2-7283-1328-0, EUR 27,00., in: Francia-Recensio 2019/3, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.3.66602