Der vorliegende Sammelband in französischer Sprache enthält die Vorträge eines Studientages vom 11. Mai 2016 am Centre d’analyse et de documentation patristiques in Straßburg (CADP). Die sechs Verfasserinnen verfolgen das Ziel, den Anteil von Frauen an den Wissenskulturen der Spätantike und des Mittelalters vor allem im Bereich des Religiösen näher zu bestimmen und zu deuten. Insbesondere fragen die Forscherinnen nach den Milieus und Kontexten, in denen Frauen ohne männliche Intervention ihre Überzeugungen und Ansichten öffentlich artikulieren und verbreiten konnten, etwa durch die Abfassung und Herausgeberschaft von religiösen Schriften und Briefen, die Komposition geistlicher Musik oder durch spezifische Erziehungspraktiken und spirituelle Führerschaft.
Das Untersuchungsspektrum beschränkt sich erfreulicherweise nicht auf Kulturräume des lateinisch-christlichen Westens, sondern bezieht entsprechend der historisch-geografischen Ausbreitung des frühen Christentums die religiösen Wissenstraditionen in Kleinasien, Afrika sowie im Byzantinischen Reich mit ein. Von besonderer Relevanz erscheint hier die Frage, wie die Synthese von antikem und christlichem Bildungsgut im Hinblick auf die öffentlichkeitswirksame Wissenspräsenz von Frauen zu kontextualisieren ist.
Die reine Statistik ernüchtert zunächst: 3200 männlichen Autoren der griechischen Antike stehen nur etwa 100 namentlich bekannte Autorinnen gegenüber (bzw. 25 römisch-lateinische). In der christlichen Literatur lassen sich weibliche Verfasserinnen fast an einer Hand abzählen. Den Grund sieht Aragione in den juristischen und moralisch-religiösen Restriktionen, denen Frauen sowohl in der Antike als auch im Mittelalter unterworfen waren. Der klassisch-antike Bildungskanon kam Frauen eines gewissen sozialen Niveaus nur innerhalb eng gesteckter familiärer Grenzen zugute. Das Christentum betonte auf der einen Seite die heilsgeschichtliche Bedeutung der Frau und ermöglichte intellektuelle Freiräume insbesondere für geistliche Frauen, zementierte aber auf der anderen Seite gestützt auf die Bibel (1 Tim 2,12; 1 Cor 14,34) und die patristische Literatur die Unterordnung der Frau unter den Mann, die Verdrängung der Frau aus der öffentlichen Sphäre sowie aus allen kirchlichen Ämtern. Frauen wurde in der Folge vielfach das Recht abgesprochen, eigene Werke unter ihrem Namen zu veröffentlichen, so im anonymen »Dialexis montanistae et orthodoxi« aus dem 4. Jahrhundert.
Unter diesen historischen Voraussetzungen stellt sich die Frage nach spezifisch weiblichen Äußerungsformen in der Literatur, Musik und Kunst zu Recht und umso dringlicher. Gibt es ein spezifisch weibliches Repertoire, das eine Vorliebe für bestimmte Genres oder stilistische Besonderheiten erkennen lässt? Existieren speziell weibliche Rezeptions- und Vermittlungsformen von Bildung und Wissen? Und hatten Frauen in einer männlich geprägten Gesellschaft überhaupt Chancen und Möglichkeiten, sich öffentlich zu äußern und ihre eigenen Ansichten zu reflektieren und zu verbreiten?
Gabriella Aragione stellt gleich zu Beginn ihres Aufsatzes klar, dass das genderorientierte Konstrukt einer »langage de femmes« bzw. »écriture de femmes«, verstanden als spezifisch weibliche Linguistik, von der modernen Sprachforschung vor allem durch die Studien von Mary Lefkowitz und Emily Hauser grundlegend revidiert worden ist. Historisch betrachtet bilden Frauen allein schon aufgrund ihres unterschiedlichen sozialen Status keine homogene gesellschaftliche Gruppe. Sprachliche Praktiken, welche angeblich die weibliche Natur und Psychologie reflektieren, sind weniger als Indikator einer femininen Sprache zu begreifen, sondern vielmehr Ausdruck eines männlichen Bildes von der Frau, das von Stereotypen geprägt ist, wie der Reduktion auf einen einfachen, oralen, emotionalen Sprachstil und der Bevorzugung weiblicher Figuren.
Aragione untersucht dazu die »Passio Sanctarum Perpetuae et Felicitatis«, die im Kern die persönlichen Aufzeichnungen der 203 n. Chr. in Karthago hingerichteten Märtyrin Vibia Perpetua aus ihrer Gefangenschaft überliefert. Umsichtig abwägend erläutert Aragione die verschiedenen textlinguistischen Deutungen zur Autorschaft Perpetuas, wobei sie sich kritisch mit dem vermeintlich »weiblichen« Sprachstil der jungen, aus römischem Adel stammenden Christin auseinandersetzt. In der doppelten Rolle als Erzählerin und Protagonistin, so Gabriella Aragione, wählt Perpetua retrospektiv die wichtigsten Episoden aus, die ihre Rolle innerhalb der Gesellschaft und Familie sowie ihren tiefen christlichen Glauben belegen. Perpetua tritt in der »Passio« als starke, unabhängig handelnde Frau auf, die ihrer Sorge um Familie und Mitstreiter Ausdruck verleiht, wobei auffallend kein Ehemann erwähnt wird.
Aragione zufolge entzieht sich der Text geradezu jeder etablierten Kategorisierung im Rahmen traditioneller literarischer Genres. Treffender könne man von einem »carnet de notes« sprechen, das eine theologische Reflexion und Redaktion durch die Autorin selbst erfahren habe. Die Autorschaft Perpetuas hält Aragione vor allem aufgrund des persönlichen, intimen Charakters der Schilderung für plausibel, zumal die Authentizität der Quelle durch den Kompilator des Gesamtwerkes bekräftigt wird. Weibliche Literatur der Antike ist keine Frage des Genres, sondern der Gelegenheit, konstatiert Aragione abschließend, bestimmt durch die Optionen, die Frauen im Laufe ihres Lebens für die Ausübung einer literarischen Tätigkeit offenstanden: Autobiografische tagebuchähnliche Zeugnisse, Gedichte oder Briefe können daher nicht als spezifisch weibliche Genres definiert werden, boten aber wohl am ehesten jene literarischen Freiräume, in denen sich Frauen in der ansonsten strikt legitimierten, männlich determinierten Kultur öffentlich äußern konnten.
Daran anschließend analysiert Annie Noblesse-Rocher zwei von Frauen verfasste Schriften des frühen und hohen Mittelalters im Spannungsfeld von religiöser Bildung und aristokratischer Kultur. Der zwischen 841 und 843 entstandene »Liber manualis« der fränkischen Adeligen Dhuoda, ein christliches Erziehungshandbuch, weist die Verfasserin als eigenständig denkende, wissenschaftlich hoch gebildete Frau und Mutter aus, die ihren Sohn vor den Gefahren und Versuchungen der weltlichen Macht warnt. Die zweite Funktion des »Liber manualis« als lusus tabularum (Lehrbuch für das Würfelspiel) nimmt terminologisch Bezug auf eines der meistrezipierten frühmittelalterlichen Werke, die »Etymologiae« des Isidor von Sevilla. Anknüpfend an Isidor entwickelt Dhuoda eine symbolische Exegese der Zahlen, die sie durch Exzerpte und Zitate aus der Bibel, den Schriften der Kirchenväter sowie aus Werken zeitgenössischer Autoren wie Alkuin und Ambrosius Autpertus untermauert.
Weniger bekannt sind die »Problemata« der Äbtissin Heloise, ein Katalog von 42 exegetischen Fragen an ihren Lehrmeister Petrus Abaelardus, der den Anteil geistlicher Frauen an der monastischen Reformbewegung des 12. Jahrhunderts bezeugt. Heloise bezieht nicht nur das gesamte biblische und patristische Wissen ihrer Zeit in die Argumentation ein, sondern rezipiert auch das klassisch-antike Erbe. Das dritte Beispiel fällt als Werk eines männlichen Autors etwas aus dem Rahmen: Péronne d’Armentières, Hauptfigur im Versroman »Le livre du Voir-dit« (»Das Buch von der wahren Dichtung«, 1362) des Guillaume de Machaut, wird von Noblesse-Rocher als Zeugnis für den Bildungsgrad der Frau in der aristokratisch-ritterlichen Kultur des Spätmittelalters gelesen.
Florence Jullien behandelt den Einfluss geistlicher Frauen auf die Entwicklung des syrischen Klosterwesens zwischen dem 6. und 9. Jahrhundert. Dabei treten Frauen weniger über selbst verfasste Schriften, als durch Referenzwerke wie Historiografien, Chroniken, kanonische Rechtssammlungen, Hagiografien und Briefwechsel als Klostergründerinnen, Diakonissinnen, spirituelle Lehrmeisterinnen und geistliche Erzieherinnen in Erscheinung. Julliens minutiöse Spurensuche nach diesen »voix sans paroles« gewährt zugleich einen faszinierenden Einblick in das Quellenkorpus der syro-orientalischen Kirche.
Beat Föllmi befasst sich mit hymnologischen Werken byzantinischer Dichterinnen und Komponistinnen des 9. Jahrhunderts, die sowohl eine sichere Beherrschung der antik-griechischen Musiktheorie und -praxis, als auch eine detaillierte Kenntnis theologischer und liturgischer Texte erkennen lassen. Lediglich einige Verfasserinnen wie Thekla oder Cassia, beides geistliche Frauen, stechen aus der Anonymität der Verfasserinnen hervor. Insbesondere die hymnologischen Kompositionen der Nonne und Klostergründerin Cassia aus Konstantinopel sind aufgrund ihres Umfangs – 49 bekannte liturgische Gesänge und Hymnen – und ihrer Qualität außergewöhnlich. Föllmi betont, dass jeweils besondere Umstände die dauerhafte Nachwirkung weiblichen Schaffens sicherten, im Fall von Cassia etwa die Freundschaft zum Konstantinopler Gelehrten und Klostergründer Theodorus Studita (759–826).
Luana Quatrocelli untersucht am Beispiel der Theodora Rhaoulaina (ca. 1240–1300) Dynamiken der Wissensgewinnung und kulturelle Handlungsspielräume gelehrter Frauen im Byzanz des 13. Jahrhunderts. Die mehrfach verwitwete Theodora, Nichte des byzantinischen Kaisers Michael VIII. Palaiologos, nahm aktiv an den kirchenpolitischen Debatten ihrer Zeit teil und korrespondierte als Gegnerin der unitarischen Politik des Kaisers mit allen wichtigen Gelehrten ihrer Zeit, wie dem Hagiografen Constantine Akropolites oder dem Konstantinopler Patriarchen Gregor II. von Zypern. Nach ihrem Rückzug in ein klösterliches Leben kam Theodora eine entscheidende Bedeutung in der Bewahrung des klassisch-antiken und byzantinischen kulturellen Erbes zu. Auf die Fähigkeiten Theodoras als versierte Handschriftenkompilatorin und -editorin verweisen vor allem zwei von ihr redigierte Manuskripte: Vaticanus gr. 1899 mit 43 Reden des griechischen Schriftstellers Aelius Aristides von Smyrna und Mosquensis Muz. 3649 mit einer Zusammenstellung rhetorischer und philosophischer Texte. Quatrocelli begreift diese Handschriften als Zeugnis für Theodoras Zugang und systematisch-wissenschaftlichen Umgang mit dem zur Verfügung stehenden Wissen ihrer Zeit.
Catherine Vanderheyde thematisiert abschließend bildliche Darstellungen gelehrter Frauen in der byzantinischen Kunst des 4. bis 14. Jahrhunderts, die eine thematisch-ikonografische Entwicklung erkennen lassen. Spätantike und frühmittelalterliche Fresken, Statuen und Grabmäler sowie Miniaturen in Handschriften weisen deutlich auf den Einfluss der gräko-romanischen Kultur hin und zeigen vor allem Repräsentationen von Kaiserinnen und hochrangigen aristokratischen Frauen, ausgestattet mit den Insignien ihrer Macht (Krone, Zepter, Palla). Im Vordergrund steht die gesellschaftliche oder politische Stellung der Frau, weniger ihre Gelehrsamkeit. Nach der ikonoklastischen Krise des 9. Jahrhunderts verschiebt sich die Thematik hin zum Religiösen: In der Versinnbildlichung und symbolischen Überhöhung des orthodoxen Glaubens werden Formen weiblicher Bildung und Gelehrsamkeit vor allem über die Rolle von Frauen als Klostergründerinnen und religiösen Stifterinnen in einem sozial privilegierten Milieu definiert.
Die jeweils mit ausführlichem Quellen- und Literaturverzeichnis erschlossenen Studien leisten einen wichtigen Beitrag zum Verständnis spezifisch weiblicher Wissensstrategien und gewinnen gerade durch den Vergleich verschiedener christlicher Kulturräume über Epochengrenzen hinweg an Profil. Dabei werden etablierte Leitsätze und Paradigmen einer genderausgerichteten Sprach- und Kulturwissenschaft von den Autorinnen versiert unter die Lupe genommen und auf der Basis neuen bzw. in Teilen unbekannten Quellenmaterials hinterfragt, relativiert und bewertet.
So erscheint hier auch der sozio- und genderlinguistische »Zwei-Kulturen-Ansatz« (Maltz/Borker 1982; Tannen 1991) nicht anwendbar, nach dem Männer und Frauen zwei grundsätzlich verschiedenen Kommunikationsprinzipien folgen. Frauen kommunizieren insofern wie Männer, als sie sich derselben Genres und rhetorischen Stilmittel bedienen. Die Quellenlage limitiert allerdings den vergleichenden Zugriff auf unterschiedliche soziale Milieus, sodass es fast durchweg dem Adelsstand angehörende geistliche Frauen sind, die sich in ihren individuellen Äußerungen konkret fassen lassen. Der Faktor Geschlecht erscheint in der Gesellschaft der Spätantike und des Mittelalters untrennbar gekoppelt an den sozialen Status bzw. religiösen Stand, was den Grad der Partizipation an historischen Wissenskulturen erklärt. Die aristokratische Laienkultur des Mittelalters kennt nur wenige weibliche, aber eben auch wenige männliche Autoren. Insofern könnte man im Fall des Fürstenspiegels der Dhuoda sogar auf eine herausragende Rolle aristokratischer Frauen als Vermittlerinnen von Bildung und Wissen schließen. Vibia Perpetuas Aufzeichnungen wiederum, deren Authentizität auch in der theologischen Forschung nicht mehr bestritten wird, gewinnen ohne Zweifel Modellcharakter als eines der ersten autobiografischen Zeugnisse christlichen Märtyrertums überhaupt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Valeska Koal, Rezension von/compte rendu de: Gabriella Aragione, Beat Föllmi (dir.), Femmes de savoir et savoir des femmes. Littérature et musique religieuses entre l’Antiquité tardive et le Moyen Âge, Turnhout (Brepols) 2019, 199 p., 9 n/b, 15 ill. en coul. (Cahiers de Biblia Patristica, 20), ISBN 978-2-503-58167-5, EUR 45,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68290