Nein, hier sollte keine Gesamtwürdigung von Person und Werk des Pierre d’Ailly vorgenommen oder dessen Epoche im Spiegel seiner Person unter vorwaltend kirchlich-politischen Aspekten analysiert werden, zumal darüber schon in jüngerer und jüngster Zeit Studien von Bernard Guenée sowie von Hélène Millet und Monique Maillard-Luypaert handelten1. Vielmehr galt es auf der Pariser Tagung im März 2017, deren – sorgfältig redigierte, u. a. mit Auswahlbibliografie, Handschriftenverzeichnis, Personenregister und Zusammenfassungen der Beiträge in Französisch und Englisch versehene – Akten hier anzuzeigen sind, die vielfältigen Aspekte und Facetten der aktiven und schriftstellerischen Tätigkeit eines Mannes zu untersuchen, den man als »esprit universel« und »intellectuel engagé« charakterisieren mag, wie es Jacques Verger, Mitherausgeber und Mitglied der das Kolloquium in der Hauptsache tragenden Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, einleitend tut (S. 10f.).

Da der Alliacus nun auf derart vielen Gebieten von der Theologie und Ekklesiologie bis zur Astrologie und Astronomie Aktivitäten entfaltet hat, da er in der Kirchenpolitik seiner Zeit ebenso wie in der Geschichte der Spiritualität begegnet, bedeutet dies zum einen, dass selbst der vorliegende Band keineswegs das gesamte Themenspektrum zu erfassen vermag – so bleibt z. B. das umfängliche Predigtcorpus zur Gänze ausgeblendet –, und zum anderen, dass ein Gutteil der Beiträge für Leserinnen und Leser eines historischen Fachorgans kaum von primärem Interesse sein dürfte. So erlaube ich mir, die entsprechenden Artikel, d. h. im Wesentlichen die der ersten beiden Sektionen zu übergehen, weil Ausführungen d’Aillys etwa über den bewohnbaren Raum, den wahren Mondzyklus oder eine Studie zum Determinismus in seinem Frühwerk – ungeachtet ihrer jeweiligen Qualitäten – wohl ebenso wenig wie ein Artikel zur Situierung seiner Erkenntnistheorie zwischen Semiologie und Ontologie zum unverzichtbaren Elementarwissen des Allgemeinhistorikers gehören.

Als solcher staunt man aber nicht schlecht über die schier unfassliche Arbeitskraft eines Meisters aller akademischen Klassen, erinnert sich an die vor Jahren von Jean-Patrice Boudet gestellte Frage »Quand dort-il?« und an seine unsereins zumindest etwas beruhigende Antwort, dass der Prälat Vieles einem effizienten und kompetenten Mitarbeiterstab zu verdanken hatte, mit seinem Neffen Raoul Le Prêtre, Archidiakon des Hennegau, an der Spitze2. So hinterließ er ein bis heute nicht völlig erfasstes, geschweige denn ausgeschöpftes Riesenwerk von beeindruckender Qualität und Breite, allein es bleibt, wie ebenfalls einleitend Michel Zink, Literaturwissenschaftler und secrétaire perpétuel der Akademie, anmerkt, ein gewisser Beigeschmack von Klassenstreber und -primus, von Jahrgangsbestem an ENS und ENA, ohne dass d’Ailly nun der Genius schlechthin auf einem seiner vielen Tätigkeitsfelder gewesen wäre (S. 14). Obendrein warf man ihm immer wieder vor, wie John T. Slotemaker am Beispiel der Aufnahme seines Sentenzenkommentars zeigt, dass es ihm, selbst nach den Maßstäben der Zeit, an Originalität mangele, was mit dem weiteren Vorwurf korreliert, bei ihm und seiner Equipe seien die Übergänge zwischen Übernahme und Plagiat sehr fließend.

Auf diese Studie Slotemakers aus dem zweiten Teil sei zumindest hingewiesen, weil sie Allgemeines thematisiert und zudem das negative Bild überzeugend, soweit ich es beurteilen kann, durch den Nachweis relativiert wird, dass d’Ailly zumindest mit der Gesamtstruktur seines Kommentars nichts weniger als eine grundlegende Reorganisation der Sentenzen des Petrus Lombardus intendiert habe und somit höchst originell gewesen sei (S. 129–144).

Noch zwei weitere Artikel aus den, wie gesagt, hier unberücksichtigten ersten beiden Sektionen seien wenigstens kurz erwähnt, da sie mit ihren Ausführungen zur Seel- und Selbst(vor)sorge auch Historica mit in den Blick nehmen: Monique Maillard-Luypaert beschäftigt sich mit Stellungnahmen d’Aillys zu zwei Vorfällen mit Bluthostien in seinem Bistum Cambrai, die ihn in der Praxis vorsichtiger als in seinem theologischen Œuvre erscheinen lassen (S. 145–162). Und wenn der Bischof sich schon zu Lebzeiten seine steinerne Memoria angelegen sein ließ, fällt das nicht sonderlich aus dem zeitgenössischen Rahmen, wohl aber, dass über 600 Jahre später eine heftige Gelehrtenkontroverse um die Rekonstruktion des – bis auf die Platte nicht erhaltenen – Grabmals entbrannte, die hoffentlich nunmehr mit dem Hinweis von Ludovic Nys auf den Vorbildcharakter der d’Ailly bekannten Ruhestätte des Kardinals Jean de La Grange in Avignon ihr Ende gefunden hat (S. 163–182). (Am Rande: Jean-Bernard de Vaivre machte jüngst wahrscheinlich, dass für das Grabmal, welches der burgundische Hofbischof und erste Kanzler des Ordens vom Goldenen Vlies Jean Germain wenig später für seinen Vater im Dijoner Karmel errichten ließ, wohl wiederum jenes des Alliacus in Cambrai beispielgebend war3.)

Mit der dritten Sektion »L’ecclésiologie« wird nun vollends der Schritt ins Leben der Zeit getan, wo d’Ailly nicht zuletzt auf vielen Konzilien, allen voran zu Pisa und Konstanz, anzutreffen ist. Bénédicte Sère, in dieser Materie durch ihre 2016 publizierte thèse einschlägig ausgewiesen4, stellt die entscheidende Frage: »Pierre d’Ailly fut-il un conciliariste?« (S. 211–231) und zeigt einen in Politik und Kirche engagierten Gelehrten und Würdenträger, der allenfalls konziliar, doch nie konziliaristisch gesonnen war, der seine Stellungnahmen mit einem vorsichtig-einschränkendem pro nunc versah (S. 215), der sich bei der entscheidenden Konstanzer Abstimmung über »Haec Sancta«, die Magna Charta des Konziliarismus, absentierte. Kurz, er stand für »un conciliarisme de circonstance et non un conciliarisme de conviction« (S. 222). Als ihn Bonifaz Ferrer des opportunistischen Lavierens auf dem Pisanum bezichtigte, ließ er 1412 eine Sammlung von Belegen unter Einschluss seiner bereits 1409 publizierten »Propositiones« erstellen, die ihn als lupenreinen Konziliaristen erweisen sollten (»Apologia concilii Pisani«). Damit schaffte es Petrus der Vielgewandte tatsächlich, so Sère, dass selbst Gelehrte vom Rang eines Francis Oakley oder Christopher Bellitto der Mär des engagierten Konziliaristen aufsaßen.

Auf dem Basler Konzil fand d’Ailly, wenig erstaunlich, nur ein schwaches Echo, wie Emilie Rosenblieh konstatiert (auf deren thèse über das Basiliense die Fachwelt übrigens sehr wartet) (S. 233–252). Denn im Endkampf zwischen Papst und Synode war die eindeutige Stellungnahme und kein relativierend-mäanderndes »Sowohl als auch« gefragt. Ähnlich verhält es sich im von konfessionellen Parteiungen zerrissenen Böhmen: Auf hussitischer Seite stand der Größte der Kardinäle, als den ihn Hus in zwei Briefen bezeichnete, für die Überheblichkeit und Falschheit der Konstanzer Väter; allerdings galt er wegen seines offenbar begrenzten Engagements in der Causa nicht als Hauptfeind, zumal er bei Hieronymus von Prag nach dessen »Retractatio« zur Milde neigte. Für die Altgläubigen erschien er – bei besagt schwachem Echo – dagegen in positivem Licht, und bei solchem Schwarz-Weiß blieb es in der Folge, wobei auf katholischer Seite eine gewisse Werkrezeption erfolgte, allen voran seiner – tatsächlichen wie unter seinem Namen firmierenden – spirituellen Traktate bei den Kartäusern; der Buchdruck sollte dann für eine gewisse Verbreitung der geografischen und astrologischen Opera sorgen.

Mithin war und blieb d’Ailly in Böhmen, wie es Olivier Marin treffend auf den Punkt bringt, der Kardinal mit den zwei Gesichtern (S. 253–271). Mutatis mutandis gilt das auch für d’Ailly selbst als Theologen und Kanonisten. Mit Letzterem beschäftigt sich Fabrice Delivré in einem aus Handschriften geschöpften, nicht gerade leicht zu lesenden Aufsatz (S. 185–210). So argumentierte er bei der Legitimierung der Pisaner Synode oder im Kontext des Kardinalats durchaus juristisch; er darf als einer der Wiederentdecker von Pseudo-Dionysius gelten und rekurrierte mithin stärker als sein Schüler Gerson aufs Kirchenrecht, wobei aber am grundsätzlichen Primat der Theologie auch bei ihm kein Zweifel bestehen kann.

Sehr Vieles zum Thema »Postérités« der vierten Sektion bietet Monica Brînzel mit Blick auf die von d’Ailly selbst testamentarisch verfügte Verbreitung und Zirkulation seiner Texte (S. 275–299), wobei sie, mit all ihrer bei der Edition des Sentenzenkommentars gesammelten Erfahrung, von den drei Überlieferungsschwerpunkten Paris, Vatikan und Cambrai ausgeht, um eine Vielzahl unterschiedlichster Themen abzuhandeln, wie etwa in Auseinandersetzung mit einer früheren These von Gilbert Ouy das der angeblichen Unterschriften des Alliacus unter seine Texte oder das der Rekonstruktion der persönlichen Bibliothek des Gelehrten und das des Umstands einer auffällig reichen Überlieferung seiner Werke im Reich, die wohl im Zusammenhang mit derjenigen der Opera Gersons zu sehen ist – vor allem Köln mit seiner Universität und den Kartäusern rückt da in den Fokus. Auch wenn der Beitrag »Würfe und Sprünge« aufweist, sollten sich die einschlägigen Spezialisten gerade in Deutschland dessen Lektüre angelegen sein lassen, zumal er eine »Liste additionelle« mit Werken d’Aillys vornehmlich in deutschen und polnischen Handschriften enthält, was aber Manuskripte von Autun und Chicago über Porto und Rouen bis Toledo und Uppsala kurzerhand mit einschließt. Straffe Ordnung sieht anders aus, aber ertragreich ist dieser Artikel allemal.

Und er bleibt wie der gesamte Band natürlich einem kleinen Spezialistenkreis vorbehalten, was auch für den Artikel von Laura Ackerman Smoller gilt (S. 301–320), die schon 1994 in Princeton eine Monografie über die christliche Astrologie des Pierre d’Ailly vorgelegt hat5. Allein ihr jetziges Thema hat, wie schon die Zahl der einschlägigen Google-Einträge beweist, den Namen des Alliacus mehr als alles Andere weit über gelehrte Zirkel hinaus bekannt gemacht: Es geht um seine 1414 getroffene Voraussage des Weltendes für 1789. Mochten auch Astrologen des 16. Jahrhunderts dies in 1788 und 1814 korrigieren, mochte die Prophezeiung in der Französischen Revolution keine Rolle spielen, so weckte sie doch noch im 19. Jahrhundert neues Interesse, zumal sich Alexander von Humboldt mit dem Einfluss d’Aillys auf die apokalyptischen Erwartungen des Columbus beschäftigte, was offensichtlich viele Neugierige bis heute anzieht.

Und bis heute, bis hin zu Trump und Pence, begegnet, zum Teil in völlig entstellter Form, wie Jacob Schmutz ausführt (S. 321–350), ein auf die »Principia« von d’Aillys Sentenzenkommentar zurückgehendes, verkanntes Element amerikanischen Verfassungsdenkens, das der judikativen Macht als Ausdruck der Gesetze Gottes einen absoluten Vorrang einräumt. Zu solch juridischem Theozentrismus führt kein Weg, wie früher angenommen, von d’Ailly über Luther, sondern vielmehr über die calvinistische Theologie der Niederlande und Englands, welche ihrerseits ausgerechnet auf die spanische Gegenreformation rekurrierte. Hier wurde d’Ailly als Exponent eines extremen Voluntarismus missverstanden; was ihm als Ausnahmeregiment letzter Instanz galt, erhoben die Puritaner zur Regel: Die in der Bibel offenbarte lex divina steht über jeder Verfassung.

Ohne nun alle Winkel des d’Aillyschen Kosmos ausleuchten zu wollen und können, wird der Band seinem hier eingangs skizzierten Grundanliegen gerecht. Das trifft auch auf die »Conclusion« von Jean-Patrice Boudet zu (S. 351–366), die nicht nur viele Themen unter dem Leitbegriff eines »polymathe« d’Ailly nochmals aufgreift, sondern auch mit der Betonung der astrologischen und eschatologischen Perspektiven gerade in dessen Spätwerk stärker bzw. neu einen Faktor betont, den er aus der Krise des Großen Abendländischen Schismas erwachsen sieht. Bezieht man noch seine Vorhersage des Weltendes mit ein, mag der Alliacus durchaus auch in jener Geschichte apokalyptischen Denkens verortet werden, aus dessen mittelalterlichem Wurzelgrund, wie zuletzt Johannes Fried demonstriert hat6, mit der Antrieb für die Wissenschaft der Moderne erwuchs.

1 Bernard Guenée, Entre l’Église et l’État. Quatre vies de prélats français à la fin du Moyen Âge, Paris 1987, S. 125–299; Hélène Millet, Monique Maillard-Luypaert, Le schisme et la pourpre. Le cardinal Pierre d’Ailly, homme de science et de foi, Paris 2015.
2 Jean-Patrice Boudet, Un prélat et son équipe de travail à la fin du Moyen Âge: remarques sur l’œuvre scientifique de Pierre d’Ailly, in: Didier Marcotte (Hg.), Humanisme et culture géographique à l’époque du concile de Constance autour de Guillaume Fillastre. Actes du colloque de l’université de Reims, 18–19 novembre 1999, Turnhout 2002 (Terrarum orbis. Histoire des représentations de l’espace: textes, images/History of the Representation of Space in Text and Image, 3), S. 127–150, hier S. 127.
3 Tombeaux, témoignages héraldiques et épigraphiques. Autour de Jean Germain, in: Delphine Lannaud, Jacques Paviot (Hg.), Jean Germain (v. 1396–1461), évêque de Chalon, chancelier de l’ordre de la Toison d’or. Actes de la journée d’étude, Chalon-sur-Saône, le 27 novembre 2018, Chalon-sur-Saône 2019, S. 94–101 [im Erscheinen].
4 Bénédicte Sère, Les débats d’opinion à l’heure du Grand Schisme. Ecclésiologie et politique, Turnhout 2016 (Ecclesia militans, 6). Siehe speziell zu Pisa auch Hélène Millet, Pierre d’Ailly et le concile de Pise (1409), in: Académie des Inscriptions et Belles-Lettres. Comptes rendus année 2014, S. 809–837; und jüngst auch Florian Eßer, Schisma als Deutungskonflikt. Das Konzil von Pisa und die Lösung des Großen Abendländischen Schismas (1378–1409), Wien, Köln, Weimar 2019, S. 868 s. v., bes. S. 638-643.
5 Laura Ackerman Smoller, History, Prophecy, and the Stars. The Christian Astrology of Pierre d’Ailly, 1350–1420, Princeton, NJ 1994.
6 Johannes Fried, Aufstieg aus dem Untergang. Apokalyptisches Denken und die Entstehung der modernen Naturwissenschaft im Mittelalter, München 2001; ders., Dies irae. Eine Geschichte des Weltuntergangs, München 2016.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Jean-Patrice Boudet, Monica Brînzel, Fabrice Delivré et al. (dir.), Pierre d’Ailly. Un esprit universel à l’aube du XVe siècle, Paris (De Boccard) 2019, 420 p., 32 ill. en coul. (Actes de colloque), ISBN 978-2-87754-380-4, EUR 38,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68293