Das Kloster Hirsau am Ostrand des nördlichen Schwarzwaldes gilt in der mediävistischen Forschung als Vorzeigekloster, in dem zur Zeit des sogenannten Investiturstreits weitreichende reformpolitische Ziele umgesetzt werden konnten. Möglich wurde das vor allem wegen der Förderung durch die Stifterfamilie, die Grafen von Calw, und durch das Wirken des charismatischen Abtes Wilhelm (1069/71-1091). Im Zentrum der Diskussionen, die seit den 1950er Jahren besonders in der deutschsprachigen Mittelalterforschung geführt worden sind, standen vorrangig vier Dokumente, deren Entstehung für die Zeit der Gregorianischen Reform reklamiert werden: zwei undatierte und nicht original überlieferte Urkunden, nämlich das Diplom Heinrichs IV. (DH IV 280) und das Privileg Papst Gregors VII. (JL 5279) sowie zwei narrative Texte, die Gründungsberichte im »Codex Hirsaugiensis« sowie die Vita des Abtes Wilhelm. Besondere Beachtung fanden dabei die im Königsdiplom garantierte freie kanonische Wahl und Einsetzung des Abtes durch die Mönche und die Mitspracherechte des Konvents bei der Ausübung des Vogteiamtes durch die adligen Stifter. Dieses sogenannte »Hirsauer Formular« gilt als Kronzeugnis für die Reformforderungen nach kirchlicher libertas.

Ist die (zweite) Gründung Hirsaus durch die Grafen von Calw und die Rolle Abt Wilhelms in der Forschung unstrittig, so haben besonders das »Hirsauer Formular« (HF) und die inhaltlichen Widersprüche im Vergleich mit dem Papstprivileg und der Vita Wilhelms zu kontroversen Meinungen in der Forschung geführt. Hier ist jedoch seit ungefähr 25 Jahren eine Art von Stagnation zu verzeichnen.

Um dieser Forschungssituation neue Impulse geben zu können, unterzieht Denis Drumm in seiner Tübinger Dissertation aus dem Jahr 2015 die schriftliche Überlieferung Hirsaus einer Revision, indem er sie nicht nur als Quelle für Versuche betrachtet, die Umstände der Gründungs- und Reformzeit zu rekonstruieren, sondern sie auch als Zeugnisse eines Bemühens versteht, ein bestimmtes Bild der eigenen Vergangenheit und Gegenwart zu zeichnen.

Anfangs skizziert der Autor die Situation des Klosters zu Beginn des 12. Jahrhunderts. Der Nachfolger Wilhelms, Abt Gebhard von Urach (1091–1105), hatte zunächst das Kloster im Sinne seines Vorgängers geführt, in wirtschaftlicher und klosterbaulicher Hinsicht große Erfolge erzielt, bis er mit dem Machtwechsel von Heinrich IV. zu dessen Sohn eine prokönigliche Position bezogen zu haben scheint. Als er von Heinrich V. als Bischof von Speyer und gleichzeitig als Abt von Lorsch eingesetzt wurde, drängte ihn der Hirsauer Konvent aus seinem Amt. Die tatsächlichen Gründe für diesen Vorgang sind bis heute nicht geklärt; in dieser »Umbruchszeit« siedelt D. Drumm seine Untersuchungen an.

Diese beginnen mit dem vierten Kapitel (»Vergleichende Betrachtung ausgewählter Erzählungen«) und unterziehen die bis für die Zeit um 1105 vorliegende Überlieferung zu Hirsau einer inhaltlichen Analyse, in der besonders die Motive und Prozesse ihrer Entstehung bzw. Herstellung thematisiert werden. Im Ergebnis geht es dabei zunächst um eine Korrektur der in den ausgewählten »Erzählungen« berichteten Ereignisse, um diese dann für die Anfang des 12. Jahrhunderts einsetzende Suche nach einem neuen klösterlichen Selbstverständnis bereitstellen zu können. Dabei zeigt es sich, dass fast alle Schriftzeugnisse bis heute ungeklärte Fragen und widersprüchliche Aussagen enthalten.

In chronologischer Abfolge behandelt der Autor zunächst die erste karolingerzeitliche Gründung Hirsaus mit der Überführung der Aurelius-Reliquien und der fraglichen Rolle der Stifter (Erlafrid und Bischof Noting); sodann die zweite Gründung des Klosters um 1050, für die in der bisherigen Forschung die Mitwirkung Papst Leos IX., eines Verwandten der Grafen von Calw, geltend gemacht worden ist. Durch erneute Berechnung des Reiseweges von Leo IX. gelangt D. Drumm zu dem Ergebnis, dass der Papst im Jahr 1049 nicht im Schwarzwald gewesen sein kann1. Dessen Mitwirkung als »Reformpapst« an der zweiten Gründung lag jedoch im Interesse der um 1100 tätigen Schreiber der Gründungsberichte (enthalten im »Codex Hirsaugiensis«), denen es um die Glorifizierung der eigenen Geschichte ging. Auch die in der Vita Wilhelms geschilderten Ereignisse (z. B. die Romreise Abt Wilhelms zu Papst Gregor VII.) passen nach D. Drumm besser in die Zeit, in der die Mönche Hirsaus aufgrund der Politik Abt Gebhards ihren Klosterbesitz gefährdet und die eigene Situation durch die Einflussnahme des Diözesanbischofs bedroht sahen. Die gleichzeitig auf laikaler Seite einsetzende hirsaufeindliche Politik spiegele sich ebenfalls in Aussagen des ersten Gründungsberichts und in der Vita Wilhelms wider.

Was eine zeitliche Einordnung des berühmten »Hirsauer Formulars« angeht, plädiert D. Drumm für eine Neudatierung auf die Zeit um 1105. Er trennt damit die beiden in der Forschung in direktem Zusammenhang gesehenen Dokumente königlicher und päpstlicher Provenienz. Für das Papstprivileg bleibt es bei der von Pius Engelbert vorgeschlagenen Einordnung in das Jahr 1074 (S. 105). Doch das Königsdiplom mit seiner viel diskutierten Frage der Investitur des Abtes ohne eine Mitwirkung des örtlichen Bischofs wird vom Autor als Teil der Geschichtsschreibung jener »Umbruchszeit« gesehen, in der es um die Idealisierung der Vergangenheit und um einen Appell an deren Schutzwirkung für das Kloster gegangen sei.

Im fünften Kapitel der Arbeit werden zwei Zeugnisse einer »externen Schriftproduktion« (S. 139) herangezogen, die Vita Herlucas von Paul von Bernried (1131) und die der Paulina des Mönchs Sigeboto (zwischen 1133 und 1159/1164). Diese Ausweitung über das Zentrum der Schriftproduktion in Hirsau hinaus solle beispielhaft zeigen, wie die Erinnerung an die Glanzzeit des Reformklosters in den nächsten Generationen der Geschichtsschreiber tradiert worden sei.

In den beiden Schlusskapiteln hebt der Autor mehrmals hervor, dass es nicht vorrangiges Ziel gewesen sei, nach »wahren« oder »falschen« Aussagen in der schriftlichen Überlieferung Hirsaus zu suchen, sondern »zusätzlich zur klassischen Quellenkritik die Funktionalität der einzelnen Quellen in den Fokus zu rücken« (S. 172). Dazu gebe es »kaum konkrete Anwendungsbeispiele aus dem Bereich der Klostergeschichte« (S. 175).

Nun ist auch die Erforschung monastischer Strukturen und Ereignisse schon viel weiter gediehen, als dies D. Drumm glauben machen will. Abgesehen davon, dass schon Martin Chladenius im 18. Jahrhundert darauf hingewiesen hat, dass die Unterschiedlichkeit der Sicht auf ein Ereignis es ermöglicht, über die subjektive Berichterstattung einer Quelle hinauszugehen, ist es in der modernen Geschichtswissenschaft längst üblich, die (monastischen) Quellen in ihrer Multifunktionalität zu untersuchen. Gerade für die Region und Epoche, um die es hier geht, gibt es neuere Abhandlungen, die zeigen, dass Schriftzeugnisse besonders in Situationen entstanden sind, in denen sich Konflikte zwischen den Klöstern und ihren Stiftern ereignet haben und für deren Problemlösung die Klöster sich schriftlicher Unterstützung bedienen wollten. Solche Arbeiten sind von D. Drumm nicht oder nur marginal berücksichtigt worden.

So konstatiert etwa Thomas Hildbrand in seiner Arbeit über das Kloster Allerheiligen in Schaffhausen, einem von Abt Wilhelm reformierten Kloster, dass die Schriftproduktion des Klosters (u. a. auch ein Privileg Gregors VII.) sich auf die Zeit um 1100 konzentriert, in der es zu Auseinandersetzungen der Mönche mit den regionalen Adligen um die Ausübung des Vogteiamtes gekommen ist2. Ein anderes Beispiel ist die Edition des Traditionsbuches von Reichenbach, des ersten von Hirsau um 1082 gegründeten Priorats. Darin stellt Stephan Molitor die Gründungsnarratio in einen direkten Funktionszusammenhang mit der politischen Situation des Priorats. In ähnlicher Situation wie in Hirsau drohte Reichenbach um 1100 die Wegnahme seiner Ressourcen durch den Vogt Gottfried von Calw. »Aus dem Bestreben nach Sicherung des Klosterbesitzes« und aus Mangel an Privilegien griff man für eine im Jahr 1115 vollzogene Schenkung auf die Gründungsurkunde der Abtei Cluny aus dem Jahre 910 zurück, »vor allem, wie anzunehmen ist, um sich gegebenenfalls der Wirkung der Poenformel bedienen zu können«3. Im Blick auf die Gründungszeit Clunys stellte man einen Gegenwartsbezug her, der sich nicht an Hirsau oder Abt Wilhelm als Garanten, sondern an dem für die Zeitgenossen bedeutendsten Reformkloster orientierte.

Durch die Einbeziehung solcher Abhandlungen hätte die Möglichkeit bestanden, auch für die Analyse eines Hirsauer Geschichtsbildes zu einem Perspektivwechsel zu gelangen. Wie Hans-Werner Goetz anmerkt, geht es dem Autor nämlich »immer wieder um die Diskussion des tatsächlichen Geschehens«. »Dadurch werden Fragen nach dem Geschehen und nach dem Geschichtsbild vermischt4.« Eine intensivere Methodenreflexion zum »Geschichtsbild« setzt erst in den allgemeinen Bemerkungen des Schlussteils ein, während das einführende Kapitel über die »Methodik der Arbeit« keine einzige Fußnote zu den »Vordenkern« der dort ausgebreiteten Theorien enthält (S. 35–38).

Insgesamt hätte der Dissertation eine gründliche Überarbeitung vor Drucklegung gutgetan. So werden Textanalysen mitunter nicht mit wörtlichen Zitaten belegt (z .B. S. 72: Vergleich der narratio des HF mit den Annalen Bertholds von Reichenau; S. 89: zu den urkundlichen Quellen der päpstlichen Reisewege) oder durch Literatur nachgewiesen, die nicht adäquat oder veraltet ist.

- Die »regionale Verbreitung des Heiligenkultes« (S. 14) Wilhelms etwa liest der Autor nur aus süddeutschen Necrologien (!) ab, ohne offenbar den Unterschied zwischen Martyrolog und Necrolog zu verstehen und ohne neuere Editionen (z. B. in der MGH) zu berücksichtigen (S. 13).

- Bei der Nennung der narrativen Quellen (S. 15) fehlt die Berücksichtigung der Edition der neu aufgefundenen kleinen Hirsauer Annalen, ein Schriftzeugnis, das in der »Zeitebene III. Die Zeit um 1100« (S. 71f.) entstanden ist und das die Quellenbasis für die Zeit der Translation des Aurelius und der ersten Gründung Hirsaus um 830 bereichert hätte5.

- Die Analyse des narrativen Teils des HF hätte mehr als hier erfolgt von der neuen kritischen Edition der »Constitutiones Hirsaugienses« profitieren können6. Denn schon Stephan Molitor hatte im Jahr 1997 in seiner Edition des Reichenbacher Schenkungsbuches auf die notwendige kritische Edition der »Constitutiones« hingewiesen, um die Echtheit des HF endgültig klären zu können: Er meinte, diese »steht und fällt mit einem Passus aus diesen Consuetudines« [Passus zur Stabübergabe bei der Wahl des Abtes]7. Statt die Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der »Consuetudines« detailliert in seine Überlegungen einzubeziehen, gibt D. Drumm die neuesten Forschungen paläographischer Art wieder, die Stephan Molitor zum Zwecke einer neuen Untersuchung des HF unternommen hat (S. 120, Anm. 685; S. 120–122)8.

Zur Frage der Verbandsbildung der Hirsauer Bewegung, die durchgängig im Kontrast zu einem expansiven »Zentralismus« Clunys angeführt wird, übernimmt der Autor Urteile der älteren Literatur (S. 163f., 167f., 178f.). Für die fragliche Region und Epoche liefert jedoch schon die kürzlich erschienene, vom Autor nicht berücksichtigte Dissertation von Florian Lamke eine grundlegende Revision solch veralteter Forschungsmeinungen; in einem zusammenfassenden Kapitel »Konfliktlösungen im Investiturstreit am Oberrhein, 1. Konfliktlösungen und das Wirken der Cluniacenser« konstatierte F. Lamke: Es »lassen sich keine belastbaren Indizien für die Vermutung anführen, der Bewegung sei ein intentional expansiver Charakter zu eigen gewesen«9.

Im Aufbau der Arbeit wirken die ständigen Kapitel der »Zwischenergebnisse« und »Ergebnisse« wegen der Redundanzen ermüdend. Stattdessen wäre etwas mehr Opulenz im Nachweis der Quellenarbeit wünschenswert gewesen. Auch fehlt eine sorgfältige Endkorrektur des Textes und des Literaturverzeichnisses. Die zahlreichen Fehler im Bereich der Orthographie und der Interpunktion sind störend. Wer sich über das bis Anm. 950 zitierte Werk von Schreiner, »Codex Hirsaugiensis«, wundert, wird nur bei genauer Lektüre des Kapitels »Quellenlage« feststellen, dass es sich um Schneider, »Codex Hirsaugiensis«, handelt (S. 11, Anm. 2). Bei dem als »noch unveröffentlicht« angegebenen Werk der »Urkunden Heinrichs V. und der Königin Mathilde« wäre es hilfreich gewesen, auf die Adresse der digitalen Vorab-Edition zu verweisen (S. 186). Im Literaturverzeichnis fehlen Titel, die in der Arbeit zitiert werden (z. B. Kohnle, »Abt Hugo«, Anm. 304); andererseits enthält es zahlreiche Titel, die nicht im Text nachgewiesen sind.

Insgesamt eine mutige, aber in der Ausarbeitung schwächelnde, nicht gänzlich überzeugende Neuinterpretation der Quellenzeugnisse Hirsaus.

1 Diese Berechnungen beruhen auf der Vorlage von Joachim Dahlhaus, Urkunde, Itinerar und Festkalender. Bemerkungen zum Pontifikat Leos IX., in: Bernard Barbiche, Rolf Große (Hg.), Aspects diplomatiques des voyages pontificaux, Paris 2009 (Studien und Vorarbeiten zur Gallia Pontificia, 6), S. 7–30. Nicht berücksichtigt ist: Joachim Johrendt, Die Reisen der frühen Reformpäpste. Ihre Ursachen und Funktionen, in: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte 96 (2001), S. 57–94.
2 Thomas Hildbrand, Herrschaft, Schrift und Gedächtnis. Das Kloster Allerheiligen und sein Umgang mit Wissen in Wirtschaft, Recht und Archiv (11.–16. Jahrhundert), Zürich 1996, S. 138–149.
3 Stephan Molitor (Bearb.), Das Reichenbacher Schenkungsbuch, Stuttgart 1997 (Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Reihe A. Quellen, 40), S. 78; S. 91–94: Textvergleich mit der Urkunde Clunys, S. 155–159. Drumm zitiert diese Arbeit allerdings nur für zusätzliche Hinweise zur Bewertung der Rolle Abt Gebhards, S. 42f. mit Anm. 229.
4 Vgl. Hans-Werner Goetz, Rezension zum Buch von Denis Drumm, in: Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung 126 (2018), S. 176f., hier S. 177.
5 Rudolf Pokorny, Das Chronicon Wirziburgense, seine neuaufgefundene Vorlage und die Textstufen der Reichenauer Chronistik des 11. Jahrhunderts, in: Deutsches Archiv 57 (2001), S. 63–93, 451–499.
7 Molitor (Bearb.), Das Reichenbacher Schenkungsbuch (wie Anm. 3), S. 35, Anm. 133.
8 Dass die von Hirsau nach Corvey versandte Abschrift der »Constitutiones« den Passus der Selbstinvestitur aus dem HF enthält, beweist nicht, dass diese Bestimmung im Kloster Corvey tatsächlich gelebt worden ist (S. 169). Denn die »Consuetudines« aus der Zeit des Hochmittelalters hatten zunächst nur eine informative und keine normierende Funktion. Das ist inzwischen Konsens in der Forschung. Siehe Christoph Dartmann, Die Benediktiner von den Anfängen bis zum Ende des Mittelalters, Stuttgart 2018, S. 90f.
9 Florian Lamke, Cluniacenser am Oberrhein. Konfliktlösungen und adlige Gruppenbildung in der Zeit des Investiturstreits, Freiburg 2009 (Forschungen zur oberrheinischen Landesgeschichte, 54), S. 419–438, S. 421.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Maria Hillebrandt, Rezension von/compte rendu de: Denis Drumm, Das Hirsauer Geschichtsbild im 12. Jahrhundert. Studien zum Umgang mit der klösterlichen Vergangenheit in einer Zeit des Umbruchs, Ostfildern (Jan Thorbecke Verlag) 2016, 208 S. (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde, 77), ISBN 978-3-7995-5277-6, EUR 28,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68304