Mit dem vorliegenden Band erschließt Heinz Erich Stiene drei Augustinusbiographien, die bisher nicht in Übersetzung zugänglich waren. Der von Ivo von Chartres verfassten, noch unedierten Vita, die im Wesentlichen aus Exzerpten aus der spätantiken Augustinusvita des Possidius von Calama kompiliert ist, wird ein lateinischer Text beigegeben. Die anderen beiden Biographien, die in der Ausgabe von Schrama1 und in der »Patrologia Latina« zugänglich sind, sind gemäß dem üblichen Format der »Bibliothek der Mittellateinischen Literatur« ohne den Originaltext abgedruckt. Jede Vita ist mit einer kurzen, nützlichen Einführung und einem Überblick über Autor und Werk versehen.

Die Übersetzung wird durch kurze, klug gewählte Anmerkungen, vor allem zur Textgestalt und zu Quellen und Vorbildern, sowie durch gelegentliche sachliche und bibliographische Hinweise ergänzt. Gelegentlich hätten noch kurze Erläuterungen hinzugefügt werden können, etwa zu Augustins Werk »De civitate Dei«, das Rupert in Kap. 48 (S. 108) erwähnt und dabei metaphorisch als »Kriegsgerät« bezeichnet. Sehr hilfreich sind die am Rand der Übersetzung gedruckten Verweise auf die entsprechenden Parallelstellen in den »Confessiones« und der »Vita Augustini« des Possidius. Bibelzitate werden durch Klammern im fortlaufenden Text der Übersetzung gekennzeichnet. Ein Namen- und Sachregister und ein Literaturverzeichnis sind ebenfalls beigegeben.

Das Verdienst der Übersetzung liegt in der Erschließung bisher unzugänglicher Texte durch eine Umsetzung in moderne, gut lesbare Sprache. H. E. Stiene bietet zahlreiche elegante deutsche Wendungen, die jedes Pathos vermeiden und nicht versuchen, künstlich zu archaisieren. Zuweilen werden freiere Wendungen in den Anmerkungen erläutert. Die Übersetzungsleistung muss man umso höher schätzen, als der Verfasser mit lateinischen Editionen konfrontiert war, die eine hohe Zahl von Fehlern aufweisen, die teilweise wohl durch einen Scanvorgang, teilweise auch durch Druckfehler oder Versehen der Herausgeber bedingt waren.

Viele dieser Fehler hat H. E. Stiene in seiner Übersetzung stillschweigend beseitigt, andere, gravierendere durch eine Anmerkung kenntlich gemacht. Dabei löst er auch Fragen, die frühere Herausgeber ratlos zurückgelassen hatten (s. Rupert von Deutz, Kap. 45, S. 107: die vom Editor Schrama mit einem Fragezeichen versehene Lesung scissio löst H. E. Stiene korrekt zu sanctissimo auf, wie seine Übersetzung zeigt). Daher ist die Übersetzung sowohl für Leserinnen und Leser nützlich, die das Lateinische nicht beherrschen, als auch für solche, die am bisher unzureichend edierten lateinischen Originaltext arbeiten wollen. Zu den zahlreichen Verweisen auf Bibelzitate lassen sich noch folgende hinzufügen: zu S. 99 (»seine Mutter aber […] hatte Sorgen gehabt, als sie ihn gebar. Nun aber zählte sie die Beschwernisse nicht mehr, aus Freude, dass der Mann zu Gott geboren war«) vgl. Joh. 16,23; zu S. 138 (»erachtete er das, worin er bis dahin einen Gewinn gesehen hatte, nunmehr als Verlust«) vgl. Phil. 3,7–8; zu S. 150 (»Augustinus aber war bereit, jedem, der es von ihm verlangte, Rechenschaft abzulegen über den Glauben und die Hoffnung, die in ihm war«) vgl. 1 Petr. 3,15.

Gelegentlich sind in der deutschen Übersetzung einzelne Wörter aus dem lateinischen Original ausgefallen. Diese Auslassungen entstellen aber in der Regel nicht den Sinn des Textes, sondern fügen nur zusätzliche Informationen hinzu. Sie sind unten als Corrigendaliste aufgeführt.

Nur an sehr wenigen Stellen wird man die Aussage des lateinischen Textes anders verstehen müssen. In der Augustinusvita des Rupert von Deutz (Kap. 53, S. 111) erkundigen sich die Bischöfe des von den Vandalen heimgesuchten Afrika bei Augustinus, ob es ihnen erlaubt sei, ihre Gemeinden zurückzulassen und zu fliehen. Sie begründen diesen Wunsch, wie schon in der Augustinusvita des Possidius, damit, dass diejenigen Laien, die möglicherweise den Ansturm der Vandalen überlebten, danach nicht ohne Priester für die gottesdienstlichen Handlungen bleiben dürften. Daher sei es wichtiger, dass sich die Bischöfe retteten, als jemand aus dem gemeinen Volk. (Diese Ansicht lehnte Augustinus übrigens vehement ab. Eine Flucht von Klerikern sei nur erlaubt, wenn speziell ihnen eine Gefahr drohe, die einfachen Gemeindemitglieder dagegen nichts zu befürchten hätten.) In der Übersetzung des Verfassers ist der Kontrast zwischen den einfachen Laien (den Männern aus dem Volk) und den Priestern, auf dem die Argumentation der Bischöfe beruht, aufgehoben, sodass plötzlich überlebende Laien kirchliche Ämter ausfüllen sollen. Dies ist schon deshalb nicht möglich, weil das von Rupert verwendete Verb carere (»etwas entbehren«) nicht »ein Amt ausfüllen« bedeuten kann.

In der Augustinusbiographie des Philipp von Harvengt (Kap. 30, S. 163) ist von einer wundersamen Krankenheilung die Rede, die Augustinus durch Gebet und ein von ihm präpariertes Öl an einer jungen Frau bewirkt. In der Übersetzung von H. E. Stiene betet Augustinus »und bestrich mit dem Öl, das er zur Hand hatte, seine Tränen. Dieses Öl schickte er an die besagte junge Frau«. Der Wortlaut des lateinischen Textes zeigt aber, dass nicht die Tränen mit Öl bestrichen werden, sondern dass Augustinus Tränen in das Öl fallen lässt (instillavit), das er dann verschickt. Dieselbe Wundererzählung findet sich, wie H. E. Stiene richtig anmerkt, fast wortgleich (allerdings von einem anonymen presbyter bewirkt) in civ. Dei 22,8. Auch an dieser Parallelstelle träufelt der Priester seine Tränen in das Öl, und nicht umgekehrt.

Gelegentlich weist H. E. Stiene auch auf ungelöste Probleme der Forschung hin und liefert so eine nützliche Vorlage für die weitere Erforschung der Texte. Für einen dieser Fälle erlaube ich mir an dieser Stelle, einen eigenen Vorschlag vorzubringen. In Kap. 32 der Augustinusvita des Rupert von Deutz (S. 103, Anm. 50) fragt sich der Verfasser zu Recht, wie die handschriftlich überlieferte und schon vom Editor Schrama inkriminierte Lesart oppipare aufzufassen sei. Der Kontext zeigt, dass das Adverb oppipare (»reichlich«, insbesondere von reichlichen Mahlzeiten) hier nicht richtig sein kann. Rupert beschreibt das Streitgespräch zwischen Augustinus und dem Manichäer Fortunatus, in dem Fortunatus unterliegt. Er verstummt und gibt an, er wolle sich mit anderen Gelehrten beraten, und wenn er dann weiterhin keine Gründe finde, mit denen er Augustinus widerlegen könne, wolle er selbst zum katholischen Glauben übertreten. Zwischen der Nachricht, dass Fortunatus besiegt schweigt, und der Ankündigung der Beratung ist die offenbar kausale Partizipialkonstruktion oppipare non audens eingeschoben, die H. E. Stiene S. 103 mit »weil er nicht wagte, weiter selbstherrlich aufzutreten« übersetzt, was er jedoch selbst als Deutungsversuch kennzeichnet.

Ein bloßes Adverb als Ergänzung zu audere wirft in der Tat grammatische Probleme auf: Es fehlt eine finite Form, die das »Auftreten« oder ein sonstiges Verhalten, auf das sich das Adverb beziehen könnte, bezeichnet. Dieses Problem wäre beseitigt, wenn man die in den beiden zugrunde liegenden Handschriften einheitlich überlieferte und, wie ein Blick in die Handschriften zeigt, auch deutlich geschriebene Form oppipare nicht als Adverb, sondern als Infinitiv eines Kompositums obpipare auffasst. Das Simplex pipare ist in der Bedeutung »schimpfen«, »schelten« belegt (siehe Thesaurus Linguae Latinae, Bd. X/1, S. 2190, Zeile 21–47).

Für das Kompositum sind mir keine Belege bekannt, jedoch wäre es eine gut verständliche Analogiebildung zu Verben wie oblatrare, das von Rupert mehrfach für die gegen Augustinus gerichteten Reden der Häretiker gebraucht wird (Kap. 29: oblatratores veritatis; Kap. 38: si quid […] oblatrassent). Überhaupt werden deren Äußerungen in der Vita öfter mit Tierlauten verglichen, so etwa mit dem Quaken von Fröschen, das spätestens seit Ovids lykischen Bauern mit der Konnotation von Schmähungen verbunden war (vgl. Kap. 37 über die Donatisten und andere häretische Gruppen: sicut coaxantes ranae […] conquiescunt). Der unterlegene Fortunatus wagte nach diesem Verständnis also nicht mehr, »gegen Augustinus zu piepen«.

Ein Grundproblem, dem sich H. E. Stiene ausgesetzt sah, ist die oben erwähnte schwankende Qualität der bisher vorhandenen lateinischen Editionen der drei Viten. Eine Sichtung und Kollation aller erhaltenen Manuskripte lag außerhalb der Möglichkeiten und der Zielsetzung der Arbeitsübersetzung. Die im Folgenden aufgeführte Corrigendaliste bezieht sich daher auch nur auf solche Stellen, an denen in dem vom Verfasser zugrunde gelegten Text in der deutschen Übersetzung Teile verloren gegangen sind oder eine andere Übersetzung erwogen werden sollte. Sie versteht sich als Hilfe für eine noch künftig zu leistende kritische Edition oder zweisprachige kritische Ausgabe und schmälert nicht das große Verdienst, dass drei mittelalterliche Viten eines der bedeutendsten Kirchenväter des Westens nun erstmals in deutscher Sprache zugänglich sind. Die vorliegende Übersetzung mit ihren zahlreichen Verweisen und Erläuterungen wird dabei nicht nur für Forscher auf dem Gebiet des Mittelalters, sondern auch für Klassische Philologen, die im Gebiet der Spätantike arbeiten, von großem Nutzen sein.

 

Corrigenda et Addenda: Ivo von Chartres, Vita Sancti Augustini

Kap. 2, S. 28: Es fehlen in der Übersetzung die Adjektivformen beata und gentili, die Augustinus’ Mutter als Christin und seinen Vater als Nichtchristen kennzeichnen.

Kap. 19, S. 58: Es fehlt das steigernde etiam, mit dem Augustinus’ Mutter ausdrückt, dass Gott ihr mehr gegeben habe, als sie erhoffte: nicht nur die Bekehrung ihres Sohnes, sondern sogar seine Abkehr von der Welt.

Kap. 19, S. 58: Im Satz si qua etiam contraxit per tot annos post aquam salutis fehlt in der Übersetzung der Ausdruck per tot annos.

Kap. 30, S. 72: Beim Ausdruck ex utroque divino testamento, veteri et novo ist in der Übersetzung die Bezeichnung veteri et novo ausgefallen.

 

Rupert von Deutz, Vita Sancti Augustini

Kap. 43 S. 107: »wonach die Donatisten in keinem Punkt häretisch sein durften«, sollte heißen: »Wonach es nirgends häretische Donatisten geben dürfe«, denn es geht um das mit kaiserlicher Hilfe durchgeführte Religionsgespräch von Karthago (Juni 411), nach dem die donatistische Kirche offiziell zu einer häretischen Gemeinschaft erklärt wurde (vorher galt sie als Schisma) und nur noch im Verborgenen weiterexistierte.

In Kap. 52, S. 110 (über den Tod des Augustinus) ist der Ausdruck iam iam ut petierat migraturus »als er bereits im Begriff war, aus dieser Welt zu scheiden, wie er gewünscht hatte« in der allgemeinen Formulierung »als er selbst bereits erkrankt war« aufgegangen.

 

Philipp von Harvengt, Vita beati Augustini

Im Prolog, S. 129 ist der Einschub an die künftigen Leserinnen und Leser si qui tamen lecturi estis ausgefallen.

Prolog, S. 129: Die Übersetzung ahmt in geschickter Weise das Wortspiel um den Begriff legendo colligere nach. Dem fällt allerdings die Bedeutung von colligere zum Opfer, die an dieser Stelle wohl nicht »auflesen«, sondern »geistig erfassen« sein muss.

In Kap. 4, S. 133 wird der bei Migne gebotene Text vade, inquit, mulier, ita vive ohne Anmerkung mit »Geh, Frau, so wahr du lebst« wiedergegeben. Die Übersetzung scheint den in diesem Kontext auffälligen Imperativ vive stillschweigend in vivas zu korrigieren. Hier wäre eine entsprechende Erläuterung sinnvoll gewesen.

In Kap. 7, S. 135 (Augustinus studiert die Heilige Schrift) scheint die Übersetzung »obwohl er sich bemühte […], das Gelesene oder Gehörte dem Buchstaben nach zu verstehen« nahezulegen, dass auch das Verständnis des wörtlichen Schriftsinns Augustinus Schwierigkeiten bereitete. Dies ist nach dem lateinischen Text aber nicht der Fall. Vielmehr bemüht sich Augustinus, das, was er dem wörtlichen Schriftsinn nach gelesen oder gehört hatte, nun auch geistlich zu verstehen.

Kap. 13, S. 142: In der Aussage, dass der Prophet »reich beschenkt wurde mit der Ernte an Korn, Wein und Öl« fehlt der Zusatz »heilsam«/»des Heils« (salutaris), der die Aufzählung als Metapher kennzeichnet.

In Kap. 18, S. 149 fehlt in der Beschreibung der klösterlichen Lebensweise, die dem Vorbild der Apostel nachempfunden ist, der Zusatz ut omnia scilicet essent eis communia.

Kap. 21, S. 151: Statt »einen Brief an den Primas der Bischöfe von Karthago« muss es lauten: »einen Brief an den Primas der [sc. nordafrikanischen] Bischöfe (nämlich den Bischof) von Karthago« (primati episcoporum Carthaginiensi). Vgl. dazu u. a. Possid. vita Aug. 8,2. Diese Rolle war vermutlich schon zu Cyprians Zeit anerkannt2.

Kap. 27, S. 159: Der Satz Fateor enim vobis de pretiosa veste erubesco ist in der Übersetzung ausgefallen.

Kap. 27, S. 159: Der Begriff imitator apostolicus wird mit »Nachfolger der Apostel« übersetzt, was den Gedanken an eine Sukzession wecken könnte. Gemeint ist aber ein vorbildliches Leben in der Nachahmung und damit gleichsam »in der Nachfolge der Apostel«. Vgl. ebenso Kap. 33, S. 173.3.

Kap. 29, S. 162: Übersetzt wird »was manchen noch schlimmer schien«; der lateinische Text bietet aber nullis gravius videbatur »was niemandem schlimmer schien«. Falls der Verfasser eine Konjektur nonnullis intendierte, sollte dies vermerkt werden.

Kap. 33, S. 167: Bei der Darstellung der Engel, die von Christus zu den Sterbenden, die ihn fürchten, gesandt werden, heißt es im lateinischen Text, die Engel würden in circuitu timentium geschickt. Der Ausdruck lässt an die Vorstellung denken, dass die Engel schützend um die Gläubigen herumstehen, weniger daran, dass sie »mitten unter alle, die ihn fürchten« gesandt werden.

Kap. 33, S. 170: »als die schon aufgegangene Morgensonne die verblassenden Sterne vertrieb«: Der lateinische Text hat lucifer (»Morgenstern«). Von der Morgenröte der Sonne ist erst kurz danach die Rede.

1 Martijn Schrama, The Office in Honour of Saint Augustine: an Unknown Work of Rupert of Deutz, in: Augustiniana 54 (2004), S. 589–651.
2 Siehe Alfred Schindler, Ernst Dammann s. v. Afrika, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 1 (1995), S. 640–747, hier S. 646f.
3 Zu dem Begriff imitator bei Possidius s. Anja Bettenworth, Literarisches Schaffen als imitatio Christi in der Augustinusvita des Possidius, in: Anja Bettenworth, Dietrich Boschung, Marco Formisano (Hg.), For Example. Martyrdom and Imitation in Early Christian Texts and Art, Paderborn 2019 (Morphomata, 43) (im Druck).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Anja Bettenworth, Rezension von/compte rendu de: Drei Augustinus-Biographien des XII. Jahrhunderts. Ivo von Chartres – Rupert von Deutz – Philipp von Harvengt. Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Heinz Erich Stiene, Stuttgart (Hiersemann) 2019, XII–179 S. (Bibliothek der Mittellateinischen Literatur, 16), ISBN 978-3-7772-1905-9, EUR 164,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68325