Epistolografische Forschung hat Konjunktur: In den vergangenen 20 Jahren hat das Studium besonders der spätantiken, früh- und hochmittelalterlichen lateinischen Briefsammlungen und der Ars dictaminis einen beachtlichen Aufschwung erfahren, in der Klassischen Philologie wie in der Mediävistik. Für mehrere spätantike Sammlungen (Symmachus, Sidonius, Ennodius und in beeindruckender Intensität Cassiodor) sind neue Ausgaben, gelegentlich auf breiterer handschriftlicher Grundlage, Kommentare, Übersetzungen und Einzelstudien erschienen, während die für den Mediävisten wichtigere Frage ihrer Tradierung und Rezeption im Mittelalter nur selten berührt wurde.
In den Jahren 2015 bis 2018 wurde das weite Forschungsfeld eindrucksvoll in mehreren umfangreichen Sammelbänden ausgeleuchtet und Zwischenbilanz gezogen: Die Bände dokumentieren die mannigfachen philologischen, historischen und literaturgeschichtlichen Fragestellungen, die an den Gegenstand herangetragen werden. Das Interesse konzentriert sich dabei zusehends auf ein innovatives Gebiet des mittellateinischen Briefwesens, die Briefstillehre (Ars dictaminis). Deutlich wird, wie rasch sich ein Berufsstand von Diktatoren und divergierende Schultraditionen ausbildeten, wie Diktatoren ambitioniert an ihrem professionellen Profil arbeiteten und sich als unentbehrliche Kommunikationsfachleute etablierten1.
Auch auf editorischem Feld können Früchte eingefahren werden. Insbesondere französische und italienische, zuletzt auch deutsche Historikerinnen und Historiker sowie Philologinnen und Philologen sind hier mit Ausgaben und grundlegenden Untersuchungen hervorgetreten, in den einschlägigen Reihen der MGH sind einige frische und angestaubte Vorhaben zum Abschluss oder vorangebracht worden. Derzeit entstehen eine ganze Reihe neuer Editionen (frühmittelalterliche Formelsammlungen [Depreux], Alkuin [Veyrard-Cosme], Lupus von Ferrières [M.I. Allen], Hildebert von Lavardin [Orth], Gaufrid von Breteuil [Wasserfuhr]).
Viele über Jahrzehnte brachliegende Themen werden wieder aufgegriffen. Repertorien und Handbücher zur Ars dictaminis und zu einzelnen Sammlungen stehen zur Verfügung, auch klassische Untersuchungen zum Briefstil2 erfahren ein Revival. Editorisch ist ein gewisses Ungleichgewicht unverkennbar: Während für unikal oder selten überlieferte Sammlungen wie die Briefe Wibalds von Stablo oder den »Codex Udalrici« moderne Ausgaben vorgelegt wurden, macht die editorische Erschließung der häufiger überlieferten Sammlungen (Ivo von Chartres, Hildebert von Lavardin, Petrus von Blois) vorderhand nur geringe Fortschritte. Die komplexe handschriftliche Tradition und Genese dieser zum Teil sehr verbreiteten Briefsammlungen, die Überlieferungsgemeinschaften und Nutzungsformen sind dabei ein besonders intrikates und selten intensiver bearbeitetes Forschungsfeld: Die Editorin des hier angezeigten Bandes legte 1993 dazu eine methodisch wichtige Studie vor3. Dieses Ungleichgewicht birgt die Gefahr, dass der epistolografische Mainstream, eine tragende Säule der hoch- und spätmittelalterlichen Briefkultur, aus dem Blick gerät.
Die Briefsammlungen des Nicolaus von Montiéramey (oder: von Clairvaux) gehören zu den Corpora mit geringer Verbreitung. Nicolaus erlangte vor allem als Sekretär Bernhards von Clairvaux eine notorische Bekanntheit. Der Benediktiner Nicolaus ist als Kaplan Bischof Hattos von Troyes greifbar, bevor er sich seit Mitte der 1140er Jahre in Clairvaux aufhielt. Als Fachmann für dictamina wurde er für das »Schreibbüro« Bernhards von Clairvaux rekrutiert (vgl. epist. 15, S. 54). Allerdings kam es 1152 zum Zerwürfnis mit Bernhard, der ihm die unautorisierte Nutzung seines Siegels vorwarf. Nicolaus verließ Clairvaux, leistete in späteren Jahren Schreibberatung auch für Hadrian IV. und Graf Heinrich I. von Champagne. Nach einigen Jahren, mutmaßlich in Italien, sicherlich an der römischen Kurie, kehrte er nach Montiéramey zurück.
In einem 2015 publizierten, von Lena Wahlgren-Smith noch nicht rezipierten Aufsatz wird er von Anne-Marie Turcan-Verkerk mit Recht als »professionnel du dictamen« in den Jahren 1140–1158 tituliert4. Patricia Stirnemann und Dominique Poirel5 brachten einige Jahre zuvor das verbreitete, um die Mitte des 12. Jahrhunderts kompilierte »Florilegium Angelicum« mit Nicolaus in Verbindung. Es weist mit flores aus den Briefen des Hieronymus, Plinius, Sidonius, Seneca, des Ennodius und Gregors des Großen einen bemerkenswert hohen Anteil an epistolografischem Material auf. Stirnemann und Poirel glaubten Indizien zu sehen, die für eine Zuschreibung zumindest des Prologs an Nicolaus von Montiéramey sprächen. Sie räumten freilich ein, noch nicht sicher sagen zu können, ob er sein eigenes Florileg, zumal die selteneren Texte darin, auch benutzt habe.
Der epistolografische Kontext würde freilich deutlicher werden, eine Einschätzung, die Turcan-Verkerk und Wahlgren-Smith (S. XXVI, XXXIIf.) nur zu gerne aufgreifen, ohne einen Vergleich der Zitate in den Briefen Nicolaus’ mit den Exzerpten des Florilegs überhaupt nur anzugehen. Offensichtlich ist Nicolaus mit der Kunst der dictamina vertraut, und Turcan-Verkerk glaubte einen Zusammenhang mit der ältesten französischen Ars dictaminis aus den 1150er Jahren (»Aurea gemma Gallica«) zu erkennen. Als einer der ersten hochmittelalterlichen Epistolografen hat Nicolaus einen einleitenden Brief an die Spitze der von ihm selbst redigierten Sammlung gestellt, in dem aus Plinius, Sidonius und Cassiodor vertraute Motive aufscheinen (epist. 1, S. 2–5): Im stressigen Umfeld der dictamina-Schmiede musste er die Auftraggeber und Adressaten bedienen, für sorgfältige Ausführung blieb keine Zeit. Nicolaus arbeitete in der Tat gerne mit Textbausteinen und Zitaten und montierte mitunter centonenartig, explizit oder stillschweigend Versatzstücke aus alten und neuen, eigenen und fremden Briefen.
Angeregt durch Timothy Reuter († 2002), reifte die vorliegende Ausgabe seiner Briefe über viele Jahre heran6. Die Editorin konnte sich zum einen auf die Arbeiten von Giles Constable und Julian Haseldine zu Petrus Venerabilis und Peter von Celle stützen, mit denen Nicolaus korrespondierte (vgl. auch S. 289–296), zum anderen auf grundlegende Aufsätze und nachgelassene Materialien von John Benton vor allem aus den 1960er Jahren. In einer ausführlichen Einleitung (S. XI–XCVII) werden zunächst Biografie und Œuvre Nicolaus’ referiert und dabei en passant chronologische Detailfragen erörtert (S. XIII–XXXIV), bevor die Briefe und Sammlungen selbst Gegenstand der Untersuchung werden (S. XXXIV–XLI). Der Abschnitt über Nicolaus’ Netzwerke und seine Freundschaftspflege (S. LIV–LXXXI) lenkt den Blick wieder zurück. Er ist auf weiten Strecken eine Paraphrase der Briefe.
Wahlgren-Smith konzentriert ihr editorisches Unternehmen auf die innerhalb der Sammlungen tradierten Briefe und sieht von den in anderen Kontexten, unter den Briefen des Petrus Venerabilis und Peters von Celle oder als dictamina in der Korrespondenz Bernhards, erhaltenen ab. Sie unterscheidet zwei von Nicolaus selbst veranstaltete, eigene wie in fremdem Namen geschriebene Briefe umfassende Sammlungen: Die ältere »Clairvaux collection« vom Ende der 1140er Jahre (epist. 1–53, S. 2–257), die er einem prominenten Mitbruder in Clairvaux, Henri de France († 1175), widmete, liege in zwei Redaktionen vor, deren jüngere stilistisch überarbeitet (etwa in den Salutationes), um einige Sachbetreffe reduziert, aber um die Korrespondenz mit Peter von Celle in einer theologischen Frage erweitert worden sei. Die jüngere und kleinere »Champagne collection« (epist. 56–60, S. 260–279) sei um 1160 zusammengestellt worden und über den Entwurfsstatus nicht hinausgekommen (S. LXXXIII: »a preliminary or early draft version«), wie schon Benton annahm. Die hier fehlenden Nummern 54 und 55 sind für zwei Schreiben an Petrus Venerabilis reserviert (S. XXXVf.), die unter dessen Briefen bewahrt und von Constable gedruckt wurden.
Das Kapitel zur Stilistik der Briefe (S. XLI–LIV) führt deutlich über die ältere Forschung hinaus und zeigt eindrucksvoll, in welchem Umfang Nicolaus mit antiken und hochmittelalterlichen Briefsammlungen vertraut war und sie für seine eigenen Stücke ausbeutete. Dazu gehören auf der einen Seite Seneca und Sidonius Apollinaris, auf der anderen Seite markant Hildebert von Lavardin und verständlicherweise Bernhard von Clairvaux. Hildebert zitiert Nicolaus als prudens (epist. 33, S. 126), Sidonius nennt er gar rhetorum splendor (epist. 49, S. 218). Seltener sind Parallelen zu den Briefen des Ambrosius, Hieronymus und Ennodius, des Petrus Damiani oder Anselms.
Die Überlieferung der beiden Sammlungen ist schmal (S. LXXXI–XC). Die überarbeitete Fassung der »Clairvaux collection« ist vollständig nur in der Ausgabe Jean Picards (1609–1610, nach einer verlorenen Handschrift aus Troyes) greifbar: Leider werden deren bibliografische Angaben an keiner Stelle vollständig mitgeteilt. Mit ihr verwandt ist die fragmentarisch erhaltene Handschrift Paris, Bibl. nat. de France, latin 3012 (Sigle P; 3. Viertel 12. Jh.). Einziger Textzeuge der ersten Redaktion der »Clairvaux collection«, gefolgt von den wenigen Stücken der »Champagne collection« ist die vielleicht aus Troyes stammende Handschrift Berlin, SB–PK, Phill. 1719 (Sigle B; Anfang 13. Jh.; Digitalisat unter http://resolver.staatsbibliothek-berlin.de/SBB0000802400000000).
Bemerkenswert ist hier der Überlieferungskontext: Nicolaus’ Briefen stehen solche Hildeberts und des Symmachus voran. Wahlgren-Smith ediert die jüngere Redaktion der »Clairvaux collection« nach Picard und P (zu den Editionsprinzipien S. XC–XCVII). In Zweifelsfällen wird zur Konstituierung des Textes die Handschrift B herangezogen, deren Lesarten in der Regel im kritischen Apparat notiert werden. Die Rubriken bei Picard und in P, die die Adressaten nennen, werden allesamt in den Apparat verbannt (S. XCV).
Der lateinische Text der Briefe wird mit einer englischen Parallelübersetzung geboten und durch einen kritischen Apparat und Anmerkungen zu den Vorlagen, Parallelen und zur historischen Situierung erschlossen. Der Editionstext ist weder durch eine Zeilenzählung noch durch eine Einteilung in nummerierte Paragrafen gegliedert. Das erschwert die Arbeit mit den zahlreichen Binnenverweisen erheblich, die immer nur auf einen Brief als Ganzes zielen. Der Wortlaut der Quellen wird nicht mitgeteilt, und so wird oft nicht recht deutlich, wo ein Zitat beginnt: das ist misslich bei einem Autor, der sich systematisch mit fremden Federn schmückt – nur Bibelstellen werden markiert.
Gleichwohl wird seine epistolografische Technik durch die knappen Nachweise allein schon hinreichend deutlich. Der recht zuverlässig überlieferte lateinische Text selbst ist nach Wortlaut und Interpunktion gut eingerichtet und folgt der Orthografie von P bzw. B. Soweit mir hier ein Urteil zusteht, scheint auch die englische Version eine gediegene Leistung zu sein. Sie ist gut lesbar und trotzdem nahe am lateinischen Wortlaut, dessen Verständnis Nicolaus’ mitunter etwas preziöser Stil gelegentlich erschwert.
Einige Anmerkungen, Ergänzungen und Lesefrüchte seien zusammengetragen:
Epist. 1 (S. 2) lässt non sunt in unum corpus mea primum voluntate compacte an Cassiodor, Variae praef. 1 (ed. Mommsen, S. 3) dicta mea […] in unum corpus redigere suadebant denken.
Epist. 2 (S. 7, Anm. 14 u. S. 298) verweist Wahlgren-Smith auf die »Moralis Philosophia« Hildeberts: gemeint ist das »Moralium dogma philosophorum«, dessen Zuschreibung an Hildebert angezweifelt wird (in der Ausgabe Holmbergs findet sich die Stelle S. 14).
Epist. 28 (S. 102) hat die virtutum fabrica ein Vorbild bei Gregor dem Großen (Moralia in Iob 28, 9 u. 31, 38).
Epist. 28 (S. 102) gäbe es für qui se opponeret murum pro domo Israhel auch ein Pendant bei Hildebert (epist. II 33, Migne PL 171, 256C).
Epist. 35 (S. 134) wird unter Anmerkung v-v auf textkritische Beiträge von Mohr und Anderson zu Sidonius, epist. 7, 9, 1 verwiesen: Beide Namen tauchen in der Bibliografie nicht auf. In der zitierten Edition von Luetjohann wird auf diese Stelle nicht eingegangen.
Epist. 40 (S. 174) quem poterit altiori vulneri vulnerare gibt zumindest B das zu erwartende vulnere.
Epist. 40 (S. 178) mag das Wortspiel amans / amens von Bernhard von Clairvaux inspiriert sein (in der Vorrede zu »De consideratione«).
Epist. 42 (S. 184) entlehnt aus Hildebert, epist. II 17 (Migne PL 171, 226C) Oro vos orare pro me, curam agere de me, compassione esse iuxta me. Aus epist. II 2 (Migne PL 171, 208C) kommt der Schlussgruß Vale, frater, et dilige me diligentem te.
Epist. 43 (S. 186) hat auch der Passus et personalis reverentia deperit, cum ceperit familiaris amicitia perorare ein Gegenstück in epist. 55, die als Nr. 179 nur in Constables Ausgabe der Briefe des Petrus Venerabilis zu finden ist7.
Epist. 56 (S. 260) wird für das platonische Diktum von den Philosophenkönigen auf Platon als Quelle verwiesen. Die lateinischen Vermittler wie Boethius (Consolatio philosophiae 1, pr. 4, 5) wären interessanter gewesen: An anderer Stelle zieht Nicolaus die »Consolatio« heran.
Epist. 56 (S. 260) dürfte Quid est enim homo sine litteris nisi sepulchrum anime rationalis, viventis et sepulte? auf Seneca, epist. 82, 3 otium sine litteris mors est et hominis vivi sepultura rekurrieren.
Epist. 57 (S. 264) bedient sich einer Wendung aus Briefen Hildeberts, darunter epist. III 1 (Migne PL 171, 283C: in sacrarium tuae familiaritatis suscipere).
Epist. 59 (S. 272) wird für die Wendung rarus quidem, iuxta philosophum, ad recipiendas amicicias, ad retinendas constantissimus auf Sueton, Aug. 66, 1 verwiesen. Freilich kann die Formulierung nur durch eine Zwischenstufe wie Ps.Aurelius Victor, Epitome de Caesaribus 1, 16 oder die Historiae Frechulfs von Lisieux (2, 1, 4) vermittelt worden sein.
Epist. 59 (S. 272) erinnert manibus fortune nauseantis expositus an Sidonius, epist. 1, 7, 12 veluti vomitu fortunae nauseantis exsputus (ed. Christian Luetjohann, MGH Auct. Ant., Bd. 8, S. 12).
Von den S. 270 unter der Rubrik »Five Exordia« aus B gedruckten Stücken (zu ihrem Status S. LXXXIVf.) sind nur 2 und 3 Exordia im eigentlichen Sinne, die übrigen sind kurze Briefe. Im ersten ist mit B accedentes statt accendentes zu lesen, im fünften thaides (B korrigiert aus taides) statt tribades. Gemeint sind Prostituierte (nach der Hetäre Thais), und damit bestätigt sich die Vermutung, die Wahlgren-Smith S. 271, Anm. 6 an das verlesene tribades knüpft. S. 270 wurde der textkritische Exponent a zudem versehentlich doppelt eingesetzt.
In fünf Appendices (S. 281–296) werden Detailfragen untersucht: das Engagement Nicolaus’ im Vorfeld des Zweiten Kreuzzugs (epist. 14 u. 29), in einem Streit zwischen dem Bischof von Alet und Marmoutiers, die Identität des in epist. 37 genannten Bischofs von Lucca (Wahlgren-Smith plädiert für den 1146/1147 amtierenden Gregor) und die Korrespondenz mit Peter von Celle. Erschlossen wird die Ausgabe durch eine Bibliografie (S. 297–305, mit kleineren Versehen, nicht ganz vollständig und teils mit veralteten Editionen), ein beeindruckendes Verzeichnis der Zitate (S. 307–319), in dem die zahlreichen Belege aus Briefen des Sidonius, Hildeberts und Bernhards von Clairvaux herausragen, und einen »general index« (S. 320–325), in dem allerdings nur Namen versammelt sind.
Trotz der Monita: Lena Wahlgren-Smith hat eine verlässliche Ausgabe mit einer gut lesbaren Übersetzung erarbeitet und die Briefe historisch und philologisch angemessen erschlossen. Damit ist ein wichtiger Baustein für die weitere Erforschung der hochmittelalterlichen Briefsammlungen gelegt worden.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Peter Orth, Rezension von/compte rendu de: Lena Wahlgren-Smith (ed.), The Letter Collections of Nicholas of Clairvaux, Oxford (Oxford University Press) 2018, XCVIII–325 p. (Oxford Medieval Texts), ISBN 978-0-1996-7151-9, GBP 95,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68329