Als ich 1961 an meiner Dissertation über die Reform in der Diözese Carpentras arbeitete, begann der französische Gymnasialprofessor Marc Venard seine thèse d’État über die Kirchenprovinz Avignon im 16. Jahrhundert, in der Carpentras eine zentrale Rolle spielte. Er hätte dem deutschen Anfänger mit seinen bescheidenen Französischkenntnissen mit Leichtigkeit alles verderben oder zumindest die größten Schwierigkeiten bereiten können, auch wenn uns beiden klar war, dass er viel mehr leisten müsse als ich und ich lange vor ihm fertig sein würde – 17 Jahre wurden es bei ihm zum Schluss. Erst später, nach einschlägigen Erfahrungen mit deutschen Kollegen, lernte ich Marc Venards großherziges Entgegenkommen und seine freundschaftliche Kollegialität richtig schätzen und versuchte sie meinerseits zu würdigen. Freundschaftliche Kollegialität kommt jetzt aber vor allem in dem Band zum Ausdruck, mit dem Kolleginnen und Kollegen seiner gedenken, nachdem bereits 2000 seine gesammelten Abhandlungen erschienen waren1. Marc Venard starb am 11. November 2014.

Die Einführung von Anne Bonzon und Alain Tallon entwirft zusammen mit dem Schlusswort von Philippe Boutry das Profil eines kreativen Historikers und noblen Menschen. Venard war nicht nur erfolgreicher normalien, sondern als scout de France auch entschiedener Katholik. Sein Glaube hat aber sein wissenschaftliches Werk nicht beeinträchtigt, sondern im Gegenteil sogar beflügelt, ohne damit der Schärfe seines Urteils im Wege zu stehen. Er folgte dem Weg der »Annales« von der Wirtschafts- und Sozialgeschichte zur Geschichte der Mentalitäten und fand dabei sein Lebensthema, die religiöse Geschichte Frankreichs. Das bedeutete Überwindung der konservativen Kirchengeschichte durch eine multikonfessionelle Perspektive.

In diesem Sinne wurde er neben der Arbeit an seiner thèse Herausgeber der »Revue d’histoire de l’Église de France«, Mitherausgeber des »Repertorium[s] der französischen Kirchenvisitationen 1977–1999« und begann als weiteres Großprojekt die Bearbeitung der geistlichen Bruderschaften, wozu er noch 2010 eine Band über Rouen beisteuerte. Schließlich wirkte er als Herausgeber und Mitverfasser der Bände 7–9 der monumentalen, konfessions- und weltübergreifenden »Histoire du christianisme«. Nachdem er schon 1967 ein populäres Werk »Les débuts du monde moderne« geschrieben hatte, konnte er 1978–1989 in Rouen, bis 1983 als maître de conférences, und 1989–1995 in Nanterre als Professor lehren, gleich geschätzt für sein kompetentes und offenes Urteil wie als Betreuer zahlreicher Studenten und Promovenden.

Von den 19 Beiträgen sind 8 dem engagierten Historiker, 11 seinem fruchtbaren Werk gewidmet, die ersten drei dem Problem »Kirchengeschichte und religiöse Geschichte«. Nicole Lemaitre behandelt die Anfänge von Venard als Katholik und als Historiker, die Assistentenzeit an der Sorbonne und die Bedeutung von Gabriel Le Bras, Alphonse Dupront, Roland Mousnier und Hubert Jedin für ihn. Bernard Barbiche trägt Details zu Venards führender Rolle in der Société d’histoire ecclésiastique und ihrer »Revue d’histoire de l’Église de France« seit 1963 bei.1985 wurde die Gesellschaft in Société d’histoire religieuse de la France umbenannt!

Tierry Amalou legt den Schwerpunkt auf Konzepte und Methoden, angefangen mit der thèse über Avignon, dann zu den Beiträgen in der großen Geschichte des Christentums und zur Konfessionalisierung. Unter Venards Herausgeberschaften verfolgt André Vauchez den Weg von der katholischen Historikergruppe La Bussière zur »Histoire du christianisme«, während Dominique Julia die Geschichte des Repertoriums der Visitationen seit 1943 behandelt. Beide waren wie Venard selbst Mitarbeiter an diesen Monumentalwerken.

»Unter Historikern« beginnt mit einem Beitrag von Joseph Bergin über Venards Lektüre ausländischer Kollegen: John Bossy zu Trient, Ernst-Walter Zeeden, Wolfgang Reinhard und Heinz Schilling zur Konfessionalisierung, John Headley zu Carlo Borromeo, Michael Hayden und Malcolm Greenshields zu dem »Atlas de la réforme pastorale en France de 1550 à 1790« von Michel und Marie-Hélène Froeschlé (1986). Isabelle Poutrin schlägt den umgekehrten Weg ein: sie listet sämtliche Rezensionen Venards in den vier wichtigsten Zeitschriften auf und unterwirft sie einer gründlichen Analyse. Françoise Thelamon schließlich widmet sich dem Engagement Venards in Rouen, obwohl ihm diese Stadt von Haus aus fremd war. Das betraf nicht nur die örtliche Forschungsgruppe, etwa in Sachen sociabilité, sondern auch die Mitwirkung an lokalen Museen und die Beteiligung am Leben der Pfarrgemeinde. Rouen wurde ihm zur Heimat – was für ein Gegensatz zum üblichen jet prof! In diesem Sinne hinterließ er der Diözesanbibliothek auch seine Bücher und Manuskripte.

Das fruchtbare Werk betrifft zunächst die beiden lokalen Forschungsfelder, auf die ihn der Zufall geführt hatte, Avignon mit dem Comtat Venaissin und die Normandie. Régis Bertrand und Luc Daireaux vertiefen diese Themen seiner Forschung, die zwar bis zuletzt präsent blieben, aber eher am Rande seiner großen Projekte standen. Die nächsten vier Studien sind Konfessionen und Kontroversen gewidmet, zunächst dem theologisch schwankenden Sprachgebrauch der Reformierten zwischen Kirche und congrégation/Gemeinde (Christian Grosse). Marc Mudrak vergleicht anschließend religiös motivierte Ortsveränderung im evangelischen Ulm und im katholischen Rouen, dort »Auslaufen« der Katholiken in altgläubige Pfarreien, hier kämpferische Prozessionen gegen die Protestanten.

Virginia Reinburg stellt, von Venards Studien über Avignon inspiriert, zwei Wallfahrtsorte der katholischen Restauration in Frankreich vor. Julien Ferrant behandelt den Theologen Noël Beda, der sich gegenüber humanistischer Exegese schon 1519 in der »Magdalenenfrage« als Verfechter intransingenter Kirchlichkeit profilierte, denn in der Tradition waren Maria Magdalena, Maria, die Schwester Marthas, und die anonyme Sünderin nach Lukas 7, 36 nicht drei verschiedene Personen. Die letzten vier Beiträge gelten Bruderschaften und Pfarreien. Von Venard angeregt, behandelt Catherine Vincent den religiösen Wandel von der berufsbezogenen Interzessionsbruderschaft zur kultorientierten Devotionsbruderschaft und Stefano Simiz das Verhältnis von Klerikern und Laien in modernen Bruderschaften, wobei sich beide ausdrücklich zum gemeinsamen Lehrer bekennen. Mehr noch als die Bruderschaft ist die Pfarrei eine Schlüsselkategorie der neuen Christentumsgeschichte, wie Nicolas Guyardan Lyon und Rouen im 17. Jahrhundert für Struktur, Praxis und Identität demonstriert. Philippe Martin schließt mit Hinweisen auf 50 Jahre Historiografie der französischen Pfarrei.

Zwar stehen einige Beiträge Venards Lebenswerk allenfalls indirekt oder »nur« menschlich nahe. Ganz überwiegend gelingt es aber, statt der üblichen huldigenden Festschrift hier einen lebendigen Zusammenhang zwischen den Autoren und Marc Venard herzustellen. Denn dank seiner Impulse geht es weiterhin um das religiöse Leben des Volkes, anthropologisch gesehen um das religiöse Verhalten der Menschen.

1 Marc Venard, Le catholicisme à l’épreuve dans la France du XVIe siècle, Paris 2000 (Cerf Histoire).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Wolfgang Reinhard, Rezension von/compte rendu de: Anne Bonzon, Isabelle Poutrin, Alain Tallon, Catherine Vincent (dir.), Marc Venard, historien. Actes du colloque tenu à l’Académie de Rouen les 14 et 15 octobre 2016, Rennes (Société d’histoire religieuse de la France/Presses universitaires de Rennes) 2019, 289 p. (Histoire religieuse de la France, 48/Histoire. Série Religion et société/Histoire), ISBN 978-2-7535-7750-3, EUR 25,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68442