Die Rezeptionsgeschichte des Aristoteles durch die Jahrhunderte hinweg wird inzwischen von einer Fülle von Forschern getragen, quer durch die Disziplinen und Epochen. Hier ist die Spätrenaissance vom 16. Jahrhundert bis zur Cartesianischen Wende erfasst. Nach einem Blick auf Rezeptionsspuren des gesamten corpus aristotelicum bei Erasmus und in sprachlich-lexikografischen Werken des 17. Jahrhunderts sind drei Sektionen der Rezeption spezifischen Werken (der Politik, der Poetik, den Problemata) gewidmet. Im zweiten Teil folgen drei weitere Sektionen zu »Aristoteles dem Heiden« mit Blick vor allem auf die Rezeption in der Naturphilosophie, zu Aristoteles im Rahmen des Bildungskanons und zum Übergang zum Cartesianischen Zeitalter.

Fouligny’s Auszählung der Aristoteles-Referenzen bei Erasmus zeigt, wie erstaunlicher Weise die an sich heute meist im Windschatten der anderen Werke stehende »Rhetorik« deutlich vor allen anderen Werken (77 gegenüber 65 Referenzen auf die Nikomachische Ethik, alle anderen Werke unter 20 Bezüge, S. 37) führt: Dies mag die alte Beobachtung Cesare Vasolis zur »Rhetorisierungstendenz« des Humanismus seit dem 15. Jahrhundert (bei Agricola, im Florentiner, später auch Padovaner Humanismus und Aristotelismus) für den christlichen Humanisten bestätigen, wobei freilich in den »Adagia« nicht die Methodenreflexionen an sich, sondern oft das Beispielsmaterial aus der »Rhetorik« Verwendung findet (S. 39f., 43).

Richard Crescenzo erinnert an Übersetzung und Kommentar der »Politik« durch Louis le Roy mit Blick auf eine »praktische« Politik – die Frage, inwieweit Le Roy Aristoteles durch die Brille Machiavellis und umgekehrt Machiavelli durch die aristotelische Brille gelesen hat (seit Giuliano Procacci diskutiert), bleibt hier außen vor. Bei Lipsius (und auch bei Eugenio da Narbona) herrschen die Verwendung von topoi des zentralen V. Buchs der »Politik« vor und gegenüber Erasmus ist nun das Verhältnis »Politik«/»Rhetorik« hinsichtlich der Quantität der Bezüge ganz umgekehrt (S. 97–101). Sylvène Édouard zeigt, wie die Nikomachische Ethik in der Bruni-, dann aber auch Argyropoulos-Übersetzung in eine fürstenspiegelnahe Rezeptionsspur mündet: Für den Knaben-König Edward VI, auch angeregt von Johannes Sturm (S. 146f., man denke an Schindlings Studie zum Lehrideal der Straßburger Hohen Schule), wird anhand der Lernhefte für 1549–1551 auch sein Ethikstudium nachgewiesen mit der Notiz einiger Paroemien; vielleicht hätte hier ein Abgleich etwa mit den Studien Diarmaid McCullochs noch verständlich gemacht, in welchem Verhältnis der Aristotelismus zur theologisch-konfessionellen Prägung steht (in ähnlichen Kollegheften und in denselben Jahren nachweisbar).

Laurence Boulègne erinnert an die verhältnismäßig späte Wiederentdeckung der aristotelischen Poetik und des ersten akademischen Kommentars durch Francesco Robortello (1548) nach dem eher vergessenen Averroës, der etliche Begriffsprägungen und konzeptionelle Setzungen (imitatio für mimesis, dabei aber Umdeutung des älteren humanistischen imitatio-Begriffs) vornimmt. John Nassichuk führt mit Bernardo Baldino (1576) einen interessanten Fall vor insofern als dieser in der metrischen Imitation von Vergil und Horaz ein Lehrgedicht vorlegt, das inhaltlich die aristotelische Poetik behandelt, also eine Art überkreuzter Form-Inhalt- und zugleich Poesie-Poetik-Dialog. Ähnlich zeigt Pascale Mougeolle für Tasso, wie sich hier nun gelehrte Rezeption der »Poetik«, Reflexion (etwa im akademischen Umkreis des Papstnepoten und zweiten Staatssekretärs Cinzio Aldobrandini 1594) mit der Dichtungspraxis der »Gerusalemme liberata« vermengen, wenn der Dichter über Plot-Elemente (rivolgimento als Situationsumwendung, maraviglia – Überraschung) jenseits von Aristoteles nachsinnt.

Debora Barattin erinnert daran, dass die so spät rezipierte »Poetik« dann im 16. und 17. Jahrhundert kanonisch wurde und die Dramatik einer ganzen Epoche prägte. Die Beiträge zur Problemata-Rezeption (Jacobo Sanz Hermida, Thierry Grandjean, Magali Jeannin) veranschaulichen die Persistenz eines besonderen »Episteme-Typs« (S. 239) der Problemstellung und Antwortsuche, wobei die Gemengelage von mittelalterlich-arabischer, lateinisch-scholastischer und neoplatonischer Ficino-Tradition (S. 249) neben der Padovaner Schule bis in zurückgezogene Orte wie das süditalienische San Pietro di Galatina bei Otranto wirksam ist, sich aber auch in der neoplatonischen Reflexion über Melancholie (hinsichtlich des Problema XXX) zeigt.

Die letztere Studie leitet dann auch zum naturphilosophischen Part über, in dem die Rezeption der »Parva Naturalia« in Spanien ebenfalls zentral auf den Melancholie-Diskurs fokussiert (Christine Orobitg). Dass auch noch die geognostischen Diskussionen und die Interpretation von Erdbeben im 18. Jahrhundert – so in der spanischen Diskussion nach Lissabon 1755 – auf die aristotelische Konzeption der Höhlenstruktur der Erde und die Schwefelausdünstungen zurückgreift (Martí Gelabertó Vilagram), ist im Grundsatz bekannt, die hier vorgeführten akademischen Manuskriptdiskurse sind aber durchaus bereichernd – ein Dialog mit der einschlägigen Forschung etwa zu Frankreich (Grégory Quenet) oder zur Diskussion der frühen Kant-Schriften, die sich in Ablösung von Aristoteles gerade diesem Problem widmen, hätte wieder etwas größere Tiefenschärfe und europäische Verstrebung mit anderen Forschungen erbracht.

Wie umstritten Aristoteles – nach erneuernder Rezeption bei Vivès (Alicia Oïffer-Bomsel) – dann auch war, führt Hélène Michon mit Verweis auf die skeptische Tradition in Frankreich von Montaigne bis La Mothe le Vayer vor, aber auch auf die andere Querstellung bei François de Sales sowie die ganz anderen Konfigurationen innerhalb der Port-Royal-Debatten Ende des 17. Jahrhunderts verweisend. Dass Aristoteles im jesuitischen Lehrprogramm der ratio studiorum an sich nicht vor der Rhetorik-Schulung auftaucht, knüpft einerseits an die frühe humanistische Tradition (siehe eingangs zu Erasmus) an, andererseits zeigt es, wie sehr die Jesuiten für die Basislehre auf andere Autoren zurückgriffen (Patricia Ehl, S. 367).

Heinrich Merkl zeigt bei Rabelais weniger eine Ridikülisierung und Ablehnung als eine produktive Aneignung von aristotelischen Lehren sowohl für den Inhalt von Dialogen zwischen Figuren wie Pantagruel und Thaumaste als auch als Formprägung für Romanpassagen sowie als Steinbruch für weitere Rezeptionselemente. Die Ablösung vom klassischen Aristotelismus wird für Galileo Galilei – obwohl und gerade weil auch in Padova noch von den späten Vertretern der dortigen neu-aristotelischen Schule wie Cesare Cremonini geprägt –, für Boileau und für den frühen Cartesianismus durch Danielle Morali, Francine Wild, Alice Ragni und Simone Mazauric vorgeführt.

Gerade im späten 17. Jahrhundert zeigt sich hier eine Tendenz, sich zu bemühen, die Vereinbarkeit von Descartes und Aristoteles, oft mittels einer cartesianischen Uminterpretation aristotelischer Positionen, zu zeigen, so dass die hermeneutische Spirale im Rahmen einer neuen epistemischen Ordnung die Autoren in eine Zirkularität von Argumenten hineinzuzwingen scheint: Auch jetzt vermag niemand Aristoteles gänzlich abzulösen und schlicht zu »überwinden«, sondern es tritt ein Nebeneinander von Ansätzen, Philosophemen und eine neue Epoche von Deutungen und Anverwandlungen ein. Vielleicht ist der Ramismus als (pseudo-)antiaristotelische Bewegung etwas wenig präsent im Band wie auch mittel-, nord- und osteuropäische Variationen von Aristotelismus, aber für die romanische Aristotelismustradition und -umwandlung der Renaissance au sens large bietet der Sammelband eine guten, breiten und aktuellen Einblick in Quellenvielfalt und Forschungsstand.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Cornel Zwierlein, Rezension von/compte rendu de: Mary-Nelly Fouligny, Marie Roig Miranda (dir.), Aristote dans l’Europe des XVIe et XVIIe siècles. Transmissions et ruptures, Nancy (Université de Lorraine – Groupe Europe aux XVIe et XVIIe siècles) 2017, 458 p. (Europe XVI–XVII, 24), ISBN 978-2-917030-13-4, EUR 30,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68445