Am 18. August 1789, wenige Wochen nach dem ikonischen Sturm auf die Bastille in Paris, brachen in Lüttich revolutionäre Aufstände aus, die in kurzer Zeit den Fürstbischof von Lüttich, Reichsstand im Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreis, zu weitgehenden Reformen nötigten und letztlich zu seiner Flucht aus dem eigenen Hochstift führten. Anhand dieser »Revolution im Reich« (S. 2) und der Reaktionen auf diese in Deutschland in den zwei folgenden Jahren untersucht Simon Reuter reichsständische Beziehungen, das Funktionieren des Alten Reiches im späten 18. Jahrhundert während einer sicherheitspolitischen Herausforderung und die Verbindlichkeit der Reichsverfassung für das Handeln der Akteure im Reichssystem.

Nachdem das Reichskammergericht die Kreisdirektoren des zuständigen Niederrheinisch-Westfälischen Reichskreises im Rahmen der Reichsexekutionsordnung mit der militärischen Befriedung Lüttichs beauftragt hatte, stimmten sich Brandenburg-Preußen (als Herzog von Kleve), Kurpfalz (als Herzog von Jülich) und Kurköln (als Fürstbischof von Münster) über das Vorgehen ab. Brandenburg-Preußen aber preschte militärisch vor in der Absicht, sich als Friedenswahrer im Reich zu inszenieren und in Lüttich einen strategischen »Sperrriegel« zwischen den österreichischen Niederlanden und dem dynastisch mit Habsburg verbundenen Kurköln zu errichten. Da aber der König von Preußen sein Vorgehen wegen der geschickt platzierten Beschwerden Kurkölns nicht nachträglich legitimieren lassen konnte, zog sich die preußische Armee 1790 wieder zurück. Erfolglos versuchten die rheinischen Kurfürsten die Ordnungslücke in Lüttich militärisch zu füllen, bis schließlich bei der Kaiserwahl Leopolds II. vereinbart wurde, dass dieser als »co-état« von seinen niederländischen Landen aus Lüttich befrieden sollte.

Vor dieser ereignisgeschichtlichen Ausgangslage her untersucht der Autor die Strategien und Handlungen der Akteure im Spannungsfeld von Formalität und Informalität im Rahmen der Reichsverfassung. Als formales Verhalten wertet er dabei z. B. Kurkölns Reaktion auf das Mandat des Reichskammergerichts. Der Kölner Kurfürst pochte auf eine strenge Einhaltung der rechtlich vorgegebenen Exekution, um dadurch als Reichsstand hervortreten zu können, wohingegen Brandenburg-Preußen vielmehr außerhalb des Gefüges der Kreis-/Mandatspolitik informell versuchte, sich in Lüttich einzubringen. Die Exekution von Lüttich sei, so der Autor, zur Darstellung des eigenen Ranges und flexibel einsetzbarer Rollen genutzt worden: Sowie Brandenburg-Preußen versuchte, sich als Ordnungsmacht hervorzutun, wollte Kurköln, das anders als der Berliner Hof keine auswärtige Krone in der Hinterhand hatte, mit strikter Einhaltung des formalen Verfahrens seine in Zeiten drohender Mediatisierung angegriffene Reichsstandschaft inszenieren.

Diese Oszillation der Akteure zwischen formalen und nichtformalen Handlungsoptionen und deren jeweilige Kommunikation vor dem »Reichspublikum« (Reichstagsöffentlichkeit, höfische Öffentlichkeiten, Reichskammergericht) ist erzählungsleitend. Zum Ausgangspunkt der Analyse wird die Rollenpluralität der Reichsstände auf Kreis- und Reichstagsebene, in geistlichem und weltlichem Amt und im dynastischen Kontext oder in Personalunionen wie bei Brandenburg-Preußen. Rollenpluralität diversifizierte die legitimen Strategien zur Durchsetzung eigener Interessen. Der (in)formale Rahmen der Reichsverfassung war dabei auszuhandeln.

Die Studie spart nicht an Erkenntnissen und Thesen, die hier in drei Forschungskontexten (in Auswahl) vorgestellt werden:

(1) Die Studie untersucht Reichspolitik, doch die Französische Revolution steht zwischen den Zeilen. Sie ist das ›Gespenst‹, das im Hintergrund der Untersuchung schwebt. Die Ergebnisse über die reichsständische Politik im Angesicht des Bruchs mit der hierarchischen Ständeordnung sind insofern im Kontext des »Revolutionstransfers« zu sehen. Diesen haben sich die Reichsstände mit unterschiedlich effektiven politischen und militärischen Mitteln zu erwehren versucht. Reuter untersucht aus reichsständischer Sicht, wie die revolutionäre Ostwanderung durch Brabant und Lüttich am Niederrhein aufgehalten werden sollte. Auch wenn er sich selbst nicht in den Kontext deutsch-französischer Austauschbeziehungen/-blockaden um 1790 stellt, werden seine Ergebnisse hier einzuordnen sein. Dazu gehört die (versuchte) Resistenz der Landesherrschaften und der Reichskreise vor der Phase der radikalisierten revolutionären Außenpolitik ab 1792. Preußen konnte die öffentliche Ordnung in Lüttich 1789/1790 mit seiner Militärpräsenz erhalten, erst nach Abzug der preußischen Truppen und dem Scheitern der kurrheinischen Kontingente war ein Übergreifen revolutionärer Handlungen auf niederrheinische Territorien zu befürchten.

(2) Für die Geschichte der rheinischen Territorien bietet dieses Buch abseits der auch in (deutschsprachigen) Überblickswerken seltenen Darstellung der Lütticher Revolution weiterführende Befunde. Die Untersuchung der Intervention in Lüttich bespielt den Reigen rheinischer Mächtepolitik. Als Niederrheinisch-Westfälische Kreisdirektoren waren Brandenburg-Preußen (für das Herzogtum Kleve), Kurköln (für das Fürstbistum Münster) und Kurpfalz (für das Herzogtum Jülich) die entscheidenden Akteure. In der Auseinandersetzung auf Kreis- und Reichsebene konstatiert der Autor beispielweise für die rheinischen geistlichen Fürsten wie Kurköln eine bisher kaum geschätzte Einflussmöglichkeit. Kurfürst Maximilian Franz von Köln, den Reuter abschließend als »starke[n] Anwalt« der Reichsverfassung bezeichnet (S. 419), konnte seine regionale Macht behaupten, indem er mit einer erfolgreichen Kommunikationsstrategie am Reichstag letztlich den preußischen Rückzug erwirkte. Durch geschicktes politisches Agieren vertrieb das mindermächtige Kurköln die Großmacht Preußen aus dem strategisch wichtigen Territorium Lüttich, vermochte aber selbst nicht die Lücke militärisch zu füllen: Kurköln übernahm 1790 die militärische Intervention mit Unterstützung aus dem Kurrheinischen Kreis, scheiterte aber wiederholt auf dem Schlachtfeld gegen die Lütticher Rebellen.

Reichsrechtlich und territorialgeschichtlich interessant sind auch die Langzeitwirkungen der Vereinbarungen zwischen Brandenburg und Pfalz-Neuburg aus den 1660er Jahren zur Beilegung des jülich-klevischen Erbfolgestreits. Im Akteursgefüge um die Ausführung des Mandates gegen Lüttich spielten diese auf der Kreisebene wieder eine erhebliche Rolle.

(3) Schwerwiegend sind Reuters Ergebnisse für das Verständnis der Reichsverfassung und das Funktionieren der Reichsinstitutionen um 1790. Die wohl wichtigste Neuerung ist dabei Reuters vollständige Untersuchung der Reichspolitik der Kreisgesandten im Niederrheinisch-Westfälischen Kreis von Dohm (für Kleve/Kurbrandenburg), Grein (Jülich/Kurpfalz) und Kempis (Münster/Kurköln) sowie auch Graccher (kurrheinischer Kreisgesandter/Kurmainz). Ihre Kreisdiplomatie, die von Direktorialkonferenzen, Eingaben am Reichskammergericht, Korrespondenz mit den Höfen und Promemoria am Reichstag reichten, bildet den roten Faden der Analyse. Damit wagt sich Reuter auf die reichsgeschichtlich sonst selten einbezogene Kreisebene: Die großen Player des Reiches spielten auch auf der untersten Ebene der föderalen Struktur.

Weil Brandenburg-Preußen durch die erste militärische Intervention in Lüttich formal mit der Reichsverfassung brach und nicht den Regeln folgte, denen es als Herzog von Kleve unterstellt war, führte die Lütticher Auseinandersetzung von der Kreisebene in konzentrischen Kreisen aufwärts zum Reichserzkanzler, zum Reichstag und schließlich zum Kaiserwahlkonvent. Auch Reuter geht den langen Weg durch die Reichsinstitutionen analytisch mit. Der Reichstag kommt als Adressat und Kommunikationsforum in den Blick, an dem Strategien legitimiert wurden. Auf dem Kaiserwahltag stand die Lütticher Exekution, an der vor allem die Kurfürsten beteiligt waren, erneut zur Aushandlung.

Diese breite Institutionenschau anhand der Lütticher Exekution legitimiert das allgemeine Zeugnis des Autors für die Reichsverfassung um 1790: Die Rollenvielfalt der reichsständischen Akteure und die Oszillation (und teilweise Überlagerung) zwischen formalen und informaler Handlungsspielräume zeigten die Dynamik des Reichssystems. Die formalen Regeln der Reichsverfassung waren von flexibler Verbindlichkeit, weil sich im reichspolitischen Verfahren um die Lütticher Exekution nicht zuletzt mehrere »Leerstellen« in der Reichsverfassung auftaten. So sei die Reichsverfassung um 1790 zwar »strukturell überfordert« (S. 418) gewesen, aber es lese sich aus der Reaktion auf die Lütticher Revolution auch der »Ehrgeiz und [die] Handlungsstärke […] Politik im Sinne der Reichsordnung zu gestalten« (S. 419).

Die Studie erzählt die Geschichte der Intervention im Hochstift Lüttich in chronologischer Folge und in ständiger Verpflichtung gegenüber ihrer analytischen Fragestellung. Eine sehr kleinschrittige Argumentation, nach deren Lektüre man kaum den Eindruck hat, ein Detail aus den Quellen missen zu müssen, zeichnet das Buch aus. Trotzdem gelingt es dem Autor, den Überblick zu bewahren, auch wenn sich das Namens- und Begriffskarussell für Leserinnen und Leser bisweilen schnell dreht. Präzise Zwischenergebnisse helfen dabei, den häufigen Wechsel von Kreis- zu Reichs- oder Hofebene mitzugehen.

Angesichts der vielfältigen Anschlussmöglichkeiten verschiedenster Forschungssparten und der Ergebnis- und Detailfülle des Buches ist es aber zu bedauern, dass – anders als in anderen Bänden der Reihe – auf ein Register verzichtet wurde. Auch das Inhaltsverzeichnis übergeht die dritte und vierte Gliederungsebene; dabei hat der Autor für seine Titel wohl bewusst beschreibende Phrasen ausgesucht (z. B. »3.1.2. Die zweite Revolution setzt das Kreisdirektorium unter Handlungsdruck«), deren Zusammenstellung im Inhaltsverzeichnis der Nachvollziehbarkeit der Analyse dienen würde.

So bleibt man auf die Lektüre angewiesen – und diese lohnt sich: Es handelt sich nicht nur um ein ausgezeichnetes Buch über die Intervention im Hochstift Lüttich und deren Kontextualisierung. Es ist eine Studie über das multipolare Reichssystem, die zeigt, wie mit Reichsstandschaft und den multiplen Rollen in- und außerhalb des Reichsgefüges taktiert werden konnte. Sowohl in der Auseinandersetzung mit der Französischen Revolution und dem Reich als auch mit der politischen Geschichte der vermeintlichen »Abenddämmerung des Reiches«1 wird sich diese Studie in Zukunft weit über den Lütticher Geschichtsraum hinaus als wichtig erweisen.

1 Hagen Schulze, Kleine deutsche Geschichte, München 2007, S. 61

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jonas Bechtold, Rezension von/compte rendu de: Simon Reuter, Revolution und Reaktion im Reich. Die Intervention im Hochstift Lüttich 1789–1791, Münster (Aschendorff) 2018, VIII–444 S. (Verhandeln, Verfahren, Entscheiden. Historische Perspektiven, 5), ISBN 978-3-402-14663-7, EUR 62,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68460