Es braucht nicht immer ein rundes Jubiläum, um historischer Forschung neue Impulse zu verleihen. Insofern hätte es der mehrseitigen einleitenden Begründung für die Publikation dieses Sammelbandes, der von Charakter, Struktur und Inhalt her eher einem kollektiven Handbuch nahekommt, durch die drei Pariser Herausgeber gar nicht bedurft. Allerdings verfängt das Argument, dass die Internationale Arbeiterassoziation (IAA 1864–1872) als nicht eurozentrischer, aber in Europa aktiver und von dort aus global ausgreifender formaler Zusammenschluss heterogener Bestandteile nationaler Arbeiterbewegungen und sozialistischer Intellektueller, darunter viele Emigranten, in dem gegenwärtigen Boom einer neuen »global labour history« droht, komplett abgehängt zu werden.
Was kann man denn auch von einer präziseren und differenzierteren Geschichte der kurzlebigen Ersten Internationale (wie sie sich mangels skeptischen Zukunftswissens damals natürlich nicht selbst zu bezeichnen vermochte) in dieser heutigen historiografischen Situation noch lernen?
Nun, das ist gar nicht so wenig. Vielleicht sind die Einsichten nicht bahnbrechend neu, aber erstmals werden sie hier in einen synthesefähigen Zustand überführt, wenn auch der Band durch den Verzicht auf ein zusammenführendes Schlusskapitel dafür keine anknüpfungsfähigen Vorarbeiten liefert. Jedenfalls wird der Eindruck einer typischen überlokalen und grenzüberschreitenden Assoziation des 19. Jahrhunderts gestärkt, den schon die etablierte Forschung herausgearbeitet hatte: ein verzweigtes Netzwerk von personellen »Adressen« mehr als die zentrale Organisation, die in London tatsächlich bestand und die Karl Marx vergeblich zu einem parteiähnlich zentralisierten Verband und politischen Organisierungsinstrument in expansiver Absicht fortzuentwickeln trachtete.
Der gut lesbare und in jedem Fall nicht nur für das spezialisierte Fachpublikum instruktive Band versammelt (neben einer guten Einleitung der Herausgeber) 23 Beiträge aus der Feder zum großen Teil prominenter Kenner der Geschichte der Arbeiterbewegungen beziehungsweise der Pariser Kommune. Sie sind in drei Teilen organisiert, wobei sich die sechs Beiträge der ersten Sektion der Frage der »Organisation and Debates« widmen, die elf Beiträge der zweiten Sektion den »Global Causes and Local Branches« und die abschließenden sechs Beiträge den »Actors and Ideologies«. Der Band ist jedoch keinesfalls als Beleg für den Anspruch historiografischer Honoratiorenherrschaft zu werten. Jüngere Spezialisten und Spezialistinnen zeichnen sogar für die Mehrzahl der Beiträge verantwortlich, und so bewegt er sich durchaus am cutting edge der Forschung. Und dieser hat sich in den seit der letzten Jubiläumsausgabe vergangenen Jahrzehnten subkutan aber substanziell positiv weiterentwickelt. Es scheint sogar nicht zu weit gegriffen zu vermuten, dass der Zuwachs an Detailwissen aus Fallstudien, Lokalstudien und biografischen Zugängen zur Ersten Internationale in den letzten zehn Jahren den Eindruck ihrer Heterogenität und organisatorischen Hybridität noch einmal gesteigert und aus theoretischer und methodischer Sicht die Herausforderung ihrer Komplexität auf ein neues Niveau gehoben hat. Das jedenfalls drängt sich bei der Lektüre der zahlreichen Beiträge, die hier gar nicht im Einzelnen gewürdigt werden können, fast zwingend auf.
Das wiederum bedeutet, dass es nötig ist, eine synthetisierende Perspektive einzunehmen, um Schlüsse aus der Zusammensetzung, sozialen Formierung und politischen Ausrichtung der Ersten Internationale, wie sie in den Beiträgen in unterschiedlicher Breite und Tiefe aufscheinen, zu ziehen: in der Absicht einer notwendigen künftigen Gesamtdarstellung. Der vorliegende Band macht ein solches Unternehmen aber auch erst möglich – und reizvoll.
In der Gesamtschau ergibt sich das Bild von der Ersten Internationale als einem europaweit ausgreifenden sozialen Netzwerk mit weitaus zahlreicheren Einzelpersonen als lokalen oder regionalen Verbänden als »Knoten«. Das war ein lockerer, durch eine ungeheure Menge und Frequenz an Korrespondenz, Publikationen und Reisen der Protagonisten, aber auch einfacher Mitglieder aufrechterhaltener oder sogar expandierender Zusammenhalt, der in seiner Grundstruktur jederzeit fragil erschien und an sezessionistischen und zentrifugalen Tendenzen von Beginn an litt.
Die Initiatoren dieser zunächst auf die Verflechtung Westeuropas konzentrierten internationalen Vergesellschaftung von Arbeitern und Arbeiterorganisationen waren 1864 die stolzen und finanzstarken britischen Gewerkschaften und Vertreter der eher politisch-sozialistisch ausgerichteten französischen Arbeiterbewegung – im Gründungsprozess zumeist Exilanten. Karl Marx wurde zwar ausdrücklich zu den Gründungssitzungen eingeladen, war aber alles andere als der »Mastermind«, der »starke Mann«, der den anderen Organisation, Programm und Strategie der Internationalen Arbeiterorganisation zu diktieren vermochte. Er bekleidete letztlich das (Ehren-)Amt eines korrespondierenden Sekretärs für die deutschsprachige Sektion der IAA, was in der Gesamtausrichtung der Organisation einer Art Aufklärungsmission gleichkam.
Aus dieser Gründungskonstellation ergaben sich sowohl Funktionsschwerpunkt als auch Grundspannung dieser Organisation, die 1872 zur Spaltung und 1876 zum Ende der Institution führen sollte. Der Schwerpunkt der Funktion dieses internationalen (eigentlich eher supranationalen) Zusammenschlusses lag klar im Sinne der englischen Gewerkschaften auf der einer europäischen Clearingstelle, über die vorrangig die Koordination und Kontrolle der europäischen Arbeitsmärkte aufgebaut und gewährleistet werden sollten. So waren in erster Linie Warnungen vor Zuzug in Zeiten von Streiks ein zentraler Kommunikationsschwerpunkt der IAA-Korrespondenzen, vor allem nach England, und Karl Marx musste eine Vielzahl entsprechender Korrespondenzen für den deutschsprachigen Raum verfassen, was er auch eifrig tat. Vor allem für Zigarrenarbeiter war es zentral, Zuwanderungen in Streikgebiete wie zum Beispiel Großbritannien zu unterbinden.
Darüber hinaus erwies sich die Erste Internationale von Beginn an als zerstrittenes, brüchiges Ensemble aus Personen, Netzwerken und lokalen Vergemeinschaftungen. In der Diskussion prallten die extrem unterschiedlichen Auffassungen von Sozialismus und Sozialdemokratie oder Anarchismus aufeinander. Die hitzigen internen Debatten vor allem in der Londoner Zentrale blieben freilich abgehoben und folgenlos, zumal es nicht gelang, die englischen Gewerkschaften zur risikobehafteten politischen Führungsrolle zu überreden.
Stattdessen wurde bald klar, wie polarisiert die Erwartungen der jeweiligen geografisch versprengten lokalen und regionalen Vereinigungen, die sich um eine Verbindung zur Ersten Internationale bemühten, und der Zentrale oder dem Mainstream der Londoner Basis waren. So waren die Annäherungen der deutschen Sozialdemokraten in der Strömung unter August Bebel und Wilhelm Liebknecht darauf ausgerichtet, materielle Unterstützung durch die Internationale einzuwerben. Allein deshalb nannten sie ihre gewerkschaftlichen Neugründungen seit dem Jahr 1868 Internationale Gewerksgenossenschaften und richteten ein Musterstatut für die neuen Organisationen nach dem Vorbild der englischen New Model Unions aus. In London dagegen wütete Karl Marx, der von der zentralen Leitung der Internationale für das Geschehen in den deutschsprachigen Gebieten zur Verantwortung gezogen wurde, gegen die mangelnde Beitragsmoral der Organisationen im deutschen Raum.
Viele Beiträge zeigen den schwachen, auf Einzelpersonen verdichteten oder reduzierten Charakter der Vernetzung lokaler Vereinigungen mit der Internationale plastisch auf, so vor allem für Lateinamerika.
Die Internationale zu einer schlagkräftigen politischen Einflussorganisation zu transformieren, scheiterte trotz mehrfacher Initiativen nicht aus situativen, sondern aus prinzipiellen Gründen. Es hätte dem gut geschriebenen und nicht allzu heterogenen Band gut getan, einen synthetisierenden Abschluss beizufügen, um einen produktiven Ansatzpunkt für künftige Gesamtinterpretationen zur Verfügung zu stellen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Thomas Welskopp, Rezension von/compte rendu de: Fabrice Bensimon, Deluermoz Quentin, Jeanne Moisand (ed.), »Arise Ye Wretched of the Earth«. The First International in a Global Perspective, Leiden (Brill Academic Publishers) 2018, XIV–404 p., 15 ill. (Studies in Global Social History, 29), ISBN 978-90-04-33545-5, EUR 140,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68521