Betrachtungen zur Weimarer Verfassung haben im Moment Konjunktur. Das liegt nicht nur an geschichtsträchtigen Jubiläen, sondern auch am Umstand, dass die Frage nach Chancen eines Erfolgs der Weimarer Republik in jüngster Zeit intensiver gestellt wird. Die These, die junge Demokratie sei auch wegen der Fehler der Verfassung das, was man heute einen »failed state« nennen würde, wird heute stärker als früher in Frage gestellt. Die in diesem Band versammelten Beiträge wollen das schlechte Image, das der Weimarer Reichsverfassung bis heute nachhängt, verbessern.
Die Autoren sind ausgewiesene Experten und Expertinnen aus Rechts-, Geschichts- und Politikwissenschaft sowie Theologie, die zentrale Problemfelder der Verfassung behandeln und die Nachwirkungen sowie die historiographischen Debatten angemessen nachzeichnen. Der Mitherausgeber Christian Waldhoff, der die Weimarer Verfassung als einen eigenständigen Beitrag zur deutschen Demokratiegeschichte würdigt, gibt einen konzisen Überblick über die Geschichtsschreibung zur Weimarer Verfassung in den letzten Jahrzehnten und zitiert ausführlich eine Stellungnahme von Theodor Heuss, die dieser im September 1948 in den Beratungen des Parlamentarischen Rats über das Grundgesetz gab. Sie beschreibt die Grundtendenz der Debattenbeiträge der Autoren des Bandes: »Die Rechtsordnung von Weimar war nicht schlecht. Heute ist modern geworden, […] von der Weimarer Verfassung schlecht zu reden. Das ist ein bisschen noch die Suggestion der Hitlerpropaganda, in der auch viele von uns noch befangen sind. Die deutschnationale Opposition vom Jahre 1919 ab und dann die Nazipropaganda haben von vornherein jene Atmosphäre geschaffen, in der die junge Verfassung moralisch fast nichts leisten konnte.«
Die Korrektur dieser einseitigen Sichtweise ist das Anliegen des Bandes. Der Auftakt bietet eine Betrachtung aus der Feder von Oliver Haardt und Christopher Clark. Sie sehen die republikanischen Anfänge als »Sturzgeburt« und die Weimarer Verfassung als eine „Notlösung“ zur Lösung der Krise der Revolutionszeit – und als ein Experiment, das sich durchaus bewährte. Die Radikalisierung der späten 1920er-Jahre und die Degeneration des demokratischen Systems rechnen sie kapitalen politischen Fehleinschätzungen zu, nicht aber der Weimarer Verfassung, die keineswegs eine »Fehlkonstruktion« gewesen sei. Die hier betonte Offenheit der Situation zieht sich wie ein roter Faden durch die Beiträge.
Marcus Llanque betrachtet die Staatssymbole der Weimarer Republik, die im bekannten »Flaggenstreit« um Schwarz-Weiß-Rot oder Schwarz-Rot-Gold eine besondere Bedeutung bekamen. Er konstatiert, dass sich die Verfechter der Republik erst spät über die Dimension und Bedeutung der Symbolpolitik im Klaren waren und ihre Überzeugungen nicht konsequent genug in die Alltagspraxis jenseits der staatlichen Behörden umsetzten. Auch Horst Dreier argumentiert mit Blick auf die Grundrechtsbestimmungen der Weimarer Verfassung in eine ähnliche Richtung. Die »staatserzieherischen« Gesichtspunkte dieser Rechte seien zu wenig in den Vordergrund gestellt worden. Zustimmend zitiert er den Rechtshistoriker und Zentrumspolitiker Konrad Beyerle, der schon zeitgenössisch gefordert hatte zu bekennen, »daß der Staat nicht nur ein Werkzeug der Macht ist, das in kalter Unpersönlichkeit waltet und Unterwerfung fordert«. Das »Erleben der staatlichen Gemeinschaft« habe gefehlt und darum sei die Weimarer Republik untergegangen.
Gertrude Lübbe-Wolf fragt nach den Ursachen der gewissen Zaghaftigkeit der Verfassungsväter und -mütter. Hätten nicht mehr Elemente der direkten Demokratie für einen besseren Schutz vor antiparlamentarischen Angriffen gesorgt? Man mag anmerken, dass diese überaus kritische Sichtweise sehr stark von heutigen Demokratievorstellungen ausgeht und nicht genügend die Verfassungswirklichkeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts berücksichtigt. Ein Blick über die Grenzen Deutschlands hinaus würde wahrscheinlich etwas von der Schärfe nehmen, die den Beitrag kennzeichnet.
Dass in den wenigen Jahren, in denen die Republik existierte, ganz einfach zu wenig ruhige Zeit zum »Erlernen« der Verfassung und ihrer positiven Wirkungen blieb, betont Pascale Cancik, die vor allem die Gleichberechtigungsdiskurse der Zwischenkriegszeit betrachtet. Mit dem Blick auf die Entwicklung in den westlichen Nachbarländern kann sie mit guten Gründen keine Schuld für die Degeneration in der Verfassung erkennen. Michael Stolleis analysiert die sozialpolitischen Ergebnisse der Verfassungsberatungen und sieht in erster Linie positive Tendenzen. Die wegweisenden Entscheidungen gingen trotz aller Turbulenzen, die Weimar durchlebte, »keineswegs ganz verloren«. Er legt Wert auf die langfristige Perspektive: An das Betriebsrätegesetz, die Versicherung gegen die Arbeitslosigkeit, die reichseinheitliche Regelung der öffentlichen Fürsorge und andere sozialstaatliche Komponenten der Weimarer Verfassung und Gesetzgebung konnte in der Bundesrepublik erfolgreich angeknüpft werden.
Für Peter Graf Kielmansegg ist die Weimarer Republik zwar ein »Zwischenakt zwischen zwei Katastrophen«, aber auch er vergleicht die Strukturen des neuen Staates mit den Staatsformen anderer Demokratien. An den aus ganz anderen Traditionen entstandenen republikanischen Modellen, auf die man sich hätte beziehen können, nämlich die Schweiz, die USA und Frankreich, wollte und konnte man sich 1918/1919 nicht orientieren. Im schöpferischen deutschen Verfassungsmodell wurde der Reichspräsident bewusst mit starken Befugnissen ausgestattet, ohne dass dies grundsätzlich die demokratischen Zukunftschancen geschmälert hätte. Die Entwicklung hing vielmehr von den vom Wähler als Souverän bestimmten Strukturen des Parteiensystems ab sowie vom Selbstverständnis der Parteien. Die Verfassung selbst, so lautet die Quintessenz, leistete jedenfalls »keinen Beitrag zum Scheitern der Republik«.
Dieter Grimm schaut auf die Jahre der Agonie der Republik. Reichskanzler Heinrich Brüning erfährt eine Art Ehrenrettung, was den Tendenzen der Forschung entspricht. Er regierte immerhin noch mit parlamentarischer Duldung. Es war schließlich Reichspräsident Paul von Hindenburg, der »dieser bereits denaturierten Form des Parlamentarismus ein Ende bereitete«. Auch für Grimm kann die Verfassung nur bedingt für das Scheitern der Demokratie verantwortlich gemacht werden, denn der Geltungsanspruch von Verfassungen müsse »von den Akteuren, an die er sich wendet, eingelöst werden«.
Wie lassen sich die Beiträge des Sammelbandes zusammenfassen? Interessanterweise bleibt die Analyse, die alle wesentlichen verfassungspolitischen Themen abdeckt, grundsätzlich nüchtern und wohlwollend unpathetisch. Es fehlt das hinreichend bekannte Lamento, was wohl damit zusammenhängt, dass in der heutigen gefestigten Demokratie der Bundesrepublik geradezu dankbar auf die Leistungen der Weimarer Reichsverfassung geblickt wird. Sie wurde zwar 1933 durch totalitären Zwang aus den Angeln gehoben. Aber nach 1945 bildete sie das geistige Fundament für eine erfolgreiche Rekonstruktion, auf die sich die Demokratie der Bundesrepublik selbstbewusst berufen kann.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Joachim Scholtyseck, Rezension von/compte rendu de: Horst Dreier, Christian Waldhoff (Hg.), Das Wagnis der Demokratie. Eine Anatomie der Weimarer Reichsverfassung, München (C. H. Beck) 2018, 424 S., 33 Abb., ISBN 978-3-406-72676-7, EUR 29,95., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68529