Heutzutage gibt es vielerlei Gründe für eine vegetarische Ernährungsweise: aus Ekel vor dem rohen Fleisch, aus Mitleid mit den getöteten Tieren, aus gesundheitlichen oder religiösen Gründen oder letztendlich auch als persönlicher Ausdruck des Protestes gegen die Massentierhaltung. Trotz der veganen Welle, die die westlichen Industrieländer in den vergangenen zehn Jahren erfasst hat, gehört in vielen Ländern bis heute der Fleischkonsum zur täglichen Ernährung. Die ideengeschichtliche Arbeit »Le Végétarisme des Lumières« von Renan Larue zeigt deutlich, dass Franzosen bereits auch in der Vergangenheit Fleisch auf ihren Tafeln liebten, jedoch viele Menschen aufgrund der hohen Kosten sich dieses nur selten leisten konnten. Auch lenkt der Autor das Augenmerk der Leserinnen und Leser auf die Tatsache, dass gesundheitliche oder ethische Gründe für den Verzicht auf Fleisch bereits im Zeitalter der Aufklärung eine Rolle spielten und zeigt somit, dass die Beweggründe für den Fleischverzicht von damals sich gar nicht so sehr von den heutigen unterscheiden.
Im Voraus möchte ich darauf hinweisen: Es handelt sich bei der Studie um eine Ideengeschichte des Vegetarismus im 18. Jahrhundert, die erstaunlicherweise, gegenwärtige wissensgeschichtliche Studien völlig außer Acht lässt, allen voran die von Emma C. Spary zur französischen Essenskultur im Zeitalter der Aufklärung1.
Larues leicht zu lesende Studie widmet sich der Frage, aus welchen Gründen Menschen im Frankreich der Aufklärung auf Fleisch (bewusst) verzichteten. Dabei unterscheidet er vier Hauptmotive: Diätetik, Askese, Religion und Ethik (S. 14–15). Das erste Kapitel des Buches beleuchtet Fleischabstinenz aus Sicht der frühneuzeitlichen Medizin. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts gab es beträchtliche Debatten unter Ärzten, die sich mit Ernährung als Element der Krankheit und Gesundheit beschäftigten. Philippe Hecquet war der erste französische Arzt, der 1709 eine fleischfreie Ernährung für die Gesundheit empfahl, was jedoch zehn Jahre später wiederum als ungesund erklärt wurde (S. 27).
In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts entwickelte sich ein Bewusstsein für das Leiden der Tiere bei der Schlachtung, die nun als moralisch verwerflich und als »barbarie« galt. Larue widmet sein zweites Kapitel diesen moralischen Debatten der Aufklärung. Ein sehr zu begrüßendes drittes Kapitel beschäftigt sich mit dem Vegetarismus in Indien zu dieser Zeit oder besser gesagt mit den Darstellungen hinduistischer Fleischabstinenz in den Berichten europäischer Reisender in Südasien. Bedauerlicherweise versäumt der Autor es an dieser Stelle, (wissenschafts)historische Quellenkritik in Bezug auf die Wahrnehmungen europäischer Reisender in der Welt anzuwenden. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass sich die Abstinenz von Fleisch auch u. a. in utopischen Literaturbeschreibungen finden lässt, wie beispielsweise »Le Nouveau Gulliver« (1730) von Pierre-François Guyot Desfontaines, der 1727 Jonathan Swifts »Gullivers Reisen« ins Französische übersetze. Der Vegetarismus, wie Jean-Michel Racault einst hervorhob, ist ein gängiges Element der Utopien (S. 124).
Kapitel vier und fünf widmen sich den Schriften zweier prominenter Figuren der Aufklärung: Voltaire und Jean-Jacques Rousseau. Obwohl Voltaire keine vegetarische Ernährung bevorzugte (S. 150) und er seinen Gästen in Ferney Fleisch servierte (S. 152), sind seine Werke wie »La Princesse de Babylone« oder die »Frangments historiques de l’Inde« von moralischen Elementen durchzogen, vor allem in Bezug auf das Leiden der Tiere. Laut Larue ist für Voltaire der Vegetarismus als Haltung polemisch (S. 28), jedoch für den Menschen natürlich durch den Schöpfer gegeben (S. 165).
Das letzte Kapitel widmet sich den »vegetarischen« Elementen in Rousseaus Schriften zur Ungleichheit (»Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité«; »Émile« und »La Nouvelle Héloïse«). Larues Anspruch ist es, hier nicht noch einmal zu wiederholen, was in der gegenwärtigen Literaturforschung bereits erörtert wurde (S. 28), sondern darzulegen, dass die vegetarische Lebensweise für Rousseau die natürlichste aufgrund unserer Physiologie und unseres Mitleids für Tiere gewesen sei. So empfahl Rousseau beispielsweise eine vegetarische Ernährungsweise für Frauen und Kinder (S. 210–214) und in seinen Autobiografien beschrieb er sich selbst sogar als Vegetarier (S. 219). Larue legt im Kapitel zum Genfer Philosophen die Ambiguität Rousseaus zwischen theoretischer, gefühlsbetonter Fleischabstinenz und praktischer Schlemmerei dar und gelangt abschließend zu der Einsicht, dass Rousseau den Vegetarismus popularisiert habe (S. 224).
Dieses Buch ist für eine nichtakademische Leserinnen- und Leserschaft, die sich für ideengeschichtliche Zugänge zur Ernährungsgeschichte interessiert, genauso zugänglich wie für Forschende. Es verschafft einen Überblick über die Beweggründe der Fleischabstinenz im Frankreich des 18. Jahrhunderts, die von medizinischen über moralische bis hin zu ökonomischen Motive reichen. Bedauerlich ist nur, dass die gegenwärtige wissenschaftsgeschichtliche Forschung – unter die die Ernährungsgeschichte ebenfalls fällt –, völlig ignoriert wird.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Dorit Brixius, Rezension von/compte rendu de: Renan Larue, Le Végétarisme des Lumières. L’abstinence de viande dans la France du XVIIIe siècle, Paris (Classiques Garnier) 2019, 257 p. (L’Europe des Lumières, 62), ISBN 978-2-406-08710-6, EUR 59,00., in: Francia-Recensio 2019/4, Frühe Neuzeit – Revolution – Empire (1500–1815), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68607