Wie verändert die Reduzierung staatlicher Daseinsfürsorge die Ausübung demokratischer Mitbestimmungsrechte? Wie wandelt sich das Konzept der Staatsbürgerschaft im atlantischen Raum angesichts des wachsenden Wohlstandsgefälles? Diesen großen Gesellschaftsfragen widmet sich der von Alice Kessler-Harris und Maurizio Vaudagna herausgegebene interdisziplinäre Sammelband und liefert dabei durchaus neue Einsichten in eine komplexe Problematik. Die 2018 erschienene Aufsatzsammlung ist das Ergebnis einer mehrjährigen transatlantischen Kooperation, insbesondere einer Abschlusstagung im Jahre 2014.
Der Zusammenhang zwischen Wohlfahrtsstaat und demokratischer Teilhabe war bereits Thema zweier 1988 und 2009 erschienener Bände mit identischem Titel, »Democracy and the Welfare State«1, die ebenso wie das vorliegende Buch die USA und die nordischen Staaten in den Fokus nahmen. Der Ansatz zielt augenscheinlich auf die scheinbare Gegensätzlichkeit zwischen den marktliberal geprägten USA und den historisch gewachsenen Sozialsystemen der nordischen Staaten.
Doch von dieser Vorannahme einer Gegensätzlichkeit zwischen den USA und Europa im Allgemeinen und den nordischen Staaten im Besonderen distanzieren sich Kessler-Harris und Vaudagna, beide ausgewiesene Spezialisten der amerikanischen Geschichte und Gegenwart. Sie gehen stattdessen davon aus, dass die Einführung sozialer Rechte seit dem späten 19. Jahrhundert auf beiden Seiten des Atlantiks zum Ziel hattte, nationale Loyalität sowie demokratische Teilhabe zu fördern. Diese Gemeinsamkeit bringt das Herausgeberduo mit der Metapher der "Two Wests" zum Ausdruck.
Vaudagna erinnert daran, dass zwischen den 1930er und frühen 1950er Jahren Schweden und die USA des New Deal die einzigen liberal-demokratischen Staaten mit sozialpolitischer Agenda waren. Kessler-Harris verortet diese empirische Beobachtung in einer ideengeschichtlichen longue durée, indem sie anmerkt, dass die USA und Europa stets ein gemeinsames, von der Aufklärung formuliertes Ziel verfolgt hätten, das in der Verknüpfung von individueller Freiheit und sozialer Verantwortung bestanden habe. Also müsse auch die Abwicklung des Wohlfahrtsstaats als eine transatlantische Geschichte erzählt werden.
Der zeitliche Markierungs- und analytische Bezugspunkt aller Beiträge ist das Ende der Trente Glorieuses und die unmittelbar darauf einsetzende Neoliberalisierung von Politik und Gesellschaft. Etwa zur selben Zeit, nämlich in den 1980er Jahren, so stellt Vaudagna heraus, begannen auch Historikerinnen und Historiker sich des Wohlfahrtsstaats als historisch relevantem Bestandteil der modernen Geschichte anzunehmen. Davon ausgehend beleuchten die elf sozialwissenschaftlichen und zeithistorischen Artikel des Bandes aus je unterschiedlicher Warte den sich verändernden Zusammenhang zwischen Demokratie und sozialen Rechten bzw. Sozialleistungen, eine Korrelation die sich mit »social citizenship« benennen, auf Deutsch jedoch kaum begrifflich fassen lässt.
Der Band umfasst drei Hauptteile, jeweils zu Demokratie und Wohlfahrtsstaat in Europa und den USA, zu sozialen Kürzungen in unterschiedlicher Ausprägung und zu Formen des Widerstands dagegen. Vorangestellt ist eine zweiteilige Einleitung. Darin erörtert Kessler-Harris zunächst, unter welchen Voraussetzungen sich seit Ende des 19. Jahrhunderts beiderseits des Atlantiks ein Ausgleich zwischen Kapital und Demokratie herausbildete, ein Kompromiss der sich im Kontext des Wirtschaftswachstums zwischen 1950 und 1970 verfestigte, und der seither zunehmend in Frage gestellt wird.
Vaudagna legt in seiner Darstellung der Historiografie des Wohlfahrtsstaats besonderes Augenmerk auf die Revolutionierung dieser Geschichtsschreibung durch feministische und genderorienterte Forschung, die in den 1990er Jahren aufzeigte, welche neuen Abhängigkeiten durch die Einführung sozialer Rechte geschaffen wurden. Nicht allein aus dieser Perspektive, also mit Hinblick auf die historischen Ein- und Ausschlussmechanismen des Sozialstaats, ist beklagenswert, dass es dem Band an einer historischen Ausleuchtung der Frage fehlt, wie sich die Anfänge des Wohlfahrtsstaats und die Demokratisierungsprozesse und -bewegungen des späten 19. Jahrhunderts, nicht zuletzt die Frauenbewegungen, zueinander verhielten.
Die Artikelsammlung zeichnet sich durch ihre Perspektiven- und Methodenvielfalt aus. Einige Autorinnen und Autoren stützen ihre Analyse auf aggregierte Daten, so zum Beispiel Christian Lammert in seiner vergleichenden Studie zur Privatisierung und dem Prinzip der Selbstverantwortlichkeit in den USA und Europa seit 1990, und Chiara Saraceno in ihrem Artikel zur uneinheitlichen rechtlichen Definition von Familie in Europa. Maurizio Ferrera nimmt mit seiner neo-weberianischen Sicht auf die europäische Integration und ihre »Versöhnung« mit den nationalen Wohlfahrtsstaaten eine theoretische Perspektive ein.
Wiederum andere analysieren (vergleichend) nationale Debatten oder Entwicklungen: Gro Hagemann die Entwicklung der social citizenship in Schweden und Norwegen, Ann Shola Orloff die genderbasierte Arbeitsmarktpolitik (gendered labor policy) in den USA und Schweden, Mimi Abramovitz die Ablösung des amerikanischen Wohlfahrts- durch den Gefängnisstaat (carceral state), in dem Mittellosigkeit zum Strafdelikt erklärt wird, und Béatrix Hoffman die Einbettung des Affordable Care Act (»Obama-Care«) in das US-Gesundheitssystem.
Zudem enthält der Band detaillierte Fallstudien von Sébastien Chauvin zum arbeitenden Prekariat in Chicago und von Marisa Chappell zum Aktivismus der ACORN, einer Reformbewegung von Geringverdienern in den USA. Im Sinne einer ausgewogenen Betrachtung der »Two Wests« wäre es sicher wünschenswert gewesen, derartige Fallstudien auch für europäische Themen vorzulegen. Stattdessen entsteht bei der Leserin doch wieder der eigentlich zu vermeidende Eindruck, dass die Einschränkung demokratischer Teilhabe sozial Benachteiligter ein US-amerikanischer Extrem- und Sonderfall sei.
Insgesamt bleibt unklar, welches Europa hier als Teil der »Two Wests« angesehen wird. Allein Schweden und Norwegen werden als einzelne Länder behandelt; Südeuropa, wo die Fragestellungen des Buches mit der Finanzkrise 2008 besondere Relevanz erhielten, bleibt gänzlich unerwähnt. Gleiches gilt für Osteuropa, dessen Position innerhalb der »Two Wests« nicht erörtert wird. Der Europäischen Union, bzw. dem Verhältnis zwischen der EU und dem Prinzip der social citizenship widmen sich dagegen zwei Aufsätze: Ferraras neo-weberianische Überlegungen sowie Birte Siims Blick auf die EU als transnationaler politischer Akteur, deren Mitgliedsstaaten sich zwar auf Gender-Gleichberechtigung nicht jedoch auf allgemeine Prinzipien der Nichtdiskriminierung mit Hinblick auf soziale Rechte einigen können.
Die einzelnen Aufsätze sind allesamt von hoher Qualität. Inhaltlich sowie methodisch kohärent und sorgfältig gearbeitet leisten sie jeder für sich einen relevanten, wissenschaftlich fundierten Beitrag zur medial hitzig geführten Debatte über die sich vergrößernde soziale Kluft und die zahlreichen Bedrohungen der liberalen Demokratie. Demgegenüber ist der wissenschaftliche Erkenntniswert der zwei langen Interviews in Kapitel II und IV eher fraglich. Darin entfalten der Historiker und Politologe Ira Katznelson und die Soziologin und Politologin Frances Fox Piven ihre Ansichten zur Geschichte und aktuellen Entwicklung des Wohlfahrtsstaats und damit verbundener sozialer Problematiken. Dies tut der Relevanz des Buches aber keinen Abbruch, liefert es doch eine Vielzahl methodisch und inhaltlich innovativer Zugänge zur zeithistorischen Forschung zum Wohlfahrtstaat als zentralem Element der liberalen Demokratie.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Christina Reimann, Rezension von/compte rendu de: Alice Kessler-Harris, Maurizio Vaudagna (ed.), Democracy and the Welfare State. The Two Wests in the Age of Austerity, New York (Columbia University Press) 2018, XIV–403 p., ISBN 978-0-231-18035-1, USD 35,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68623