Wenn heutzutage die Europäische Union mit Europa gleichgesetzt wird, ist dies zwar faktisch nicht richtig, entbehrt aber nicht einer gewissen Plausibilität. Immerhin sind inzwischen die meisten Staaten des Kontinents, sieht man einmal von dem Großteil der Nachfolgestaaten der Sowjetunion ab, Mitglieder der EU, streben einen Beitritt an oder sind über den Europäischen Wirtschaftsraum sowie das Schengener Abkommen eng mit ihr verbunden. Gleichzeitig sind die Zuständigkeiten der EU inzwischen weitreichend und gehen über die ursprünglichen Befugnisse etwa in der Wirtschafts- und Handelspolitik weit hinaus.

In seiner am European University Institute in Florenz verfassten Dissertation weist Jacob Krumrey jedoch nach, dass bereits in den 1950ern und 1960ern erst die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) und dann auch die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) sowie die Europäische Atomgemeinschaft (EURATOM) zunehmend mit Europa gleichgesetzt wurden – eine erstaunliche Feststellung, umfassten die Europäischen Gemeinschaften (EG) doch in den ersten Jahrzehnten ihrer Existenz nur einen recht kleinen Teil des Kontinents und waren ihre Zuständigkeiten zunächst auch noch recht beschränkt und berührten das Leben der meisten Bürger nicht unmittelbar. »How has the EC come to monopolize ›Europe‹« (S. 5), ist deshalb die Frage, der Krumrey nachgeht, und seine These ist, dass dies das Resultat bewusster Bemühungen seitens der Hohen Behörde, der Kommission und des Europäischen Parlaments war. Durch eine erfolgreiche Symbolpolitik inszenierten sie die im Rahmen der EG erfolgende Integration wirkungsvoll und ließen sie trotz ihrer zunächst begrenzten Zuständigkeiten als mächtige, den Nationalstaaten ebenbürtige Institutionen erscheinen.

Zum einen bemühte sich gerade Jean Monnet um einen herausgehobenen und einem Staat vergleichbaren diplomatischen Status für die EGKS, um durch internationale Anerkennung eine Legitimation für die weitere Vertiefung zu erhalten. Besonders kamen dem Präsidenten der Hohen Behörde dabei die USA entgegen. Dort traf sich sogar der amerikanische Präsident mit ihm zu einem Arbeitsessen und wurde seine Entourage im Blair House, dem offiziellen Gästehaus des US-Staatsoberhauptes, untergebracht – eine Ehre, die sonst nur hohen Repräsentanten souveräner Staaten zuteil wurde (S. 28). Monnet sorgte auch dafür, dass David K. Bruce, obwohl nur diplomatischer Repräsentant der USA bei der Hohen Kommission, öffentlich als richtiger Botschafter wahrgenommen wurde, und installierte in London die erste diplomatische Vertretung der EGKS. Der erste Vorsitzende der Kommission, Walter Hallstein, versuchte wiederum, in den USA eine Botschaft der EWG zu installieren – ein Vorhaben, das die französischen Gaullisten allerdings zunächst zu verhindern wussten. All dies ist das Thema des ersten Abschnitts von Krumreys Buch.

Des Weiteren kämpfte die Gemeinsame Versammlung der EGKS, der EURATOM und der EWG erfolgreich darum, Europäisches Parlament genannt und als solches behandelt zu werden, indem sie etwa parlamentarische Zeremonien übernahm, um so als gleichrangiges Äquivalent zu den nationalen Legislaturen statt nur als beratendes Gremium wahrgenommen zu werden, wie im zweiten Abschnitt von »The Symbolic Politics of European Integration« ausgeführt wird.

Der dritte Teil analysiert die Diskussionen, die um den Sitz der Organisationen der EG geführt wurden, ebenfalls aus dem Blickwinkel der Symbolpolitik und betont, dass die Inszenierung dieser Orte als Hauptstädte Europas dabei half, die EG mit der Einheit Europas gedanklich zu verknüpfen und ihr im öffentlichen Bewusstsein die Qualität einer quasi- oder proto-staatlichen politischen Ordnung zu geben.

In einem sehr lesenswerten, knapp gefassten Epilog kommt Krumey dann mit Blick auf die heutige Lage der EU zu dem Schluss, dass von einem »symbolischen Defizit« der EU, wie es einige monieren, nicht die Rede sein könne. Vielmehr sei das Problem, dass es eine Diskrepanz zwischen einem »excess of symbolism« und einer fehlenden emotionalen Identifikation mit der EU gebe (S. 216). »The iconoclasts do not rant against the EU because it lacks symbolic appeal, but because they feel they have to demolish an icon that has been wrongly sanctified« (S. 217). Mit anderen Worten: Die Gleichsetzung mit Europa, durch die die EG einen Großteil ihrer Legitimität und ihres historischen Momentums erhielt, hatte ihren Preis: Der Hang, Kritik an konkreten Entscheidungen der Kommission, Widerstand gegen Souveränitätsübertragungen in bestimmten Bereichen oder zögerliche Haltungen bei Erweiterungsrunden grundsätzlich als »europaskeptisch« oder sogar »europafeindlich« zu deuten und abzuwehren, mag nicht nur zuweilen einer kritischen Selbstreflexion entgegengewirkt, sondern ironischerweise langfristig auch zu einem Verlust an Legitimation geführt haben. Denn eben dadurch wurde ein rational abwägender öffentlicher Diskurs über Vor- und Nachteile spezifischer Entscheidungen, Beschlüsse und Programme erschwert.

»The Symbolic Politics of European Integration« verfolgt eine originelle Herangehensweise an die Geschichte der europäischen Integration und ist inhaltlich anregend, plausibel argumentierend, auf dem neuesten Stand der Forschung und akribisch recherchiert. Das Buch beruht auf einer breiten Quellenbasis, die nicht nur publizierte Quellen aus dem Medienbereich umfasst, mit denen die öffentliche Wirkung der EG rekonstruiert wird, sondern auch Archivalien aus der Fondation Jean-Monnet pour l’Europe in Lausanne, den Historischen Archiven der Europäischen Union in Florenz, dem Bundesarchiv in Koblenz, dem Politischen Archiv des Auswärtigen Amts in Berlin, dem Archiv des Ministère des Affaires étrangères in Paris, den National Archives in London sowie den amerikanischen National Archives in College Park.

Insofern sind die folgenden Bemerkungen auch nicht als Kritik, sondern als Anregungen zu verstehen, weiter über die Ergebnisse von Krumreys Arbeit und ihre aktuelle Relevanz nachzudenken. Die Überhöhung der EG funktionierte nur, weil die sie tragenden nationalen Regierungen ihre Gleichsetzung mit Europa mitmachten und ihr auf diese Weise Wirkmächtigkeit verliehen. Insofern kann ein zu starker Fokus auf Akteure innerhalb der EG-Institutionen trügerisch sein. Sie waren lange Zeit – und sind es zum Teil bis heute – abhängig von der aktiven Unterstützung der Mitgliedsstaaten. Letztlich waren es auch die Regierungen der Gründungsstaaten, die der EGKS und der EWG im Vergleich zu anderen internationalen Organisationen dann doch weitgehende Kompetenzen übertrugen und dazu bereit waren, dafür Souveränitätsrechte aufzugeben. Die EG wurde eben nicht nur wegen der besseren Vermarktung zum Synonym für Europa, sondern auch deshalb, weil die tatsächliche Integration innerhalb der EG viel tiefer war als im Europarat, dessen großer Mitgliederkreis ihn ansonsten zum naheliegenden Repräsentanten Europas prädestiniert hätte.

Schließlich mag man noch anfügen, dass es nicht nur die Inszenierung der EG als staatenähnlicher Akteur war, die ihr zu öffentlicher Legitimität verhalf, sondern auch die Formulierung emotional wirksamer Narrative, wie dem, dass nur ein durch die EG vereinigtes Europa dauerhaft Frieden auf dem Kontinent sichern könnte, oder dem, dass nur sie in der Lage sei, »Europa« bei den Supermächten Gehör zu verschaffen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Jasper M. Trautsch, Rezension von/compte rendu de: Jacob Krumey, The Symbolic Politics of European Integration. Staging Europe, Cham (Springer International Publishing – Palgrave Macmillan) 2018, X–250 p., ISBN 978-3-319-68132-0, EUR 123,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68625