Der vorliegende Band widmet sich für den Zeitraum von 1815 bis heute dem deutsch-französischen Verhältnis in 15 Einzelstudien, die entweder kulturwissenschaftlich ausgerichtet sind oder die dem Thema vor Ort in regionalen Fallbespielen nachgehen. Gemeinsame Klammer ist dabei der Rhein und dessen Anliegerregionen, womit die Herausgeber sich an neuere historische Forschungstrends anschließen. Anders als bisher wird der Rhein allerdings weder als deutschnationaler Fluss noch als natürliche französische Grenze wie vor 1945, aber auch nicht wie heute vielfach als europäisches Symbol verstanden, sondern als hybrider Raum, in dem verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Interessen unter gegebenen Rahmenbedingungen aufeinandertrafen, was zu speziellen Prozessen und hybriden Strukturen in den jeweiligen Regionen führte. Das Ziel, die bisher dominierenden politisch motivierten Interpretationen in Frage zu stellen und die regionalen Besonderheiten und Widersprüche genauer wahrzunehmen, um die vorherrschenden nationalen und europäischen Interpretationen besser einzuordnen, erreicht der Band dabei vor allem durch die auf breiter Archivalienbasis erstellten Beiträge.
So überzeugen z. B. Nils Bennemanns Ausführungen über die national unterschiedlichen kartographischen Ordnungsvorstellungen bei der Vermessung und Kartenherstellung der gemeinsamen Grenze am Oberrhein von 1820 bis 1840, die jedoch die badisch-französische Zusammenarbeit keineswegs behinderte. Karin Trieloff analysiert einen Militärgerichtsprozess mit tödlichem Ausgang im französischen besetzten Germersheim im Herbst 1926 und setzt diesen in Beziehung zur gleichzeitigen deutsch-französischen Verständigungspolitik, von der keinerlei mäßigende Wirkung auf die sich hochschaukelnden Vorwürfe und Anschuldigungen der Beteiligten in der Garnisonsstadt ausging.
Zu einem völlig anders gearteten Ergebnis kommt dagegen Stefan Goch in seiner Studie über die gegenseitige Wahrnehmung von Franzosen und Deutschen im Gelsenkirchen der Ruhrbesetzung, da er eine pragmatische Kooperation beider Seiten im kommunalen Bereich feststellt, die von der nationalen Erinnerung an den Ruhrkampf abweicht, unter anderem weil die Gelsenkirchener vor allem mit der Lösung ihrer Alltagsprobleme vor Ort beschäftigt waren.
Jean-François Eck kommt in seiner Studie über die politische Förderung des Straßburger Hafens ebenfalls zu dem Ergebnis, dass dessen Ausbau und Status als Seehafen trotz eines stark wachsenden Umschlags neben geringen wirtschaftlichen Kopplungseffekten weniger zu einer Konkurrenz denn einer größeren Zusammenarbeit mit anderen Rheinhäfen führte. Luc Jeanvoine wiederum widmet sich in seinem Beitrag der Geschichte der stark diversifizierten Maschinenfabrik Graffenstaden, die im Zweiten Weltkrieg von der zum Hermann-Göring-Konzern (AG Reichswerke „Hermann Göring“) gehörenden Magdeburger Werkzeugmaschinenfabrik übernommen und auf Dampfloks spezialisiert wurde, was sich aber für die Weiterentwicklung nach 1945 positiv auswirkte.
Martial Libera dagegen blickt auf das Verhältnis zwischen der Zentralen Rheinkommission und den neu entstehenden europäischen Institutionen (Montanunion, EWG etc.) nach dem Zweiten Weltkrieg und arbeitet heraus, wie sich die zunächst existierende Konkurrenz schrittweise zu einem Modus Vivendi und einem einvernehmlichen Zusammenleben entwickelte. Anne Marie Corbin vergleicht die Protestgruppen gegen die Atomkraft der 1970er Jahre diesseits und jenseits des Oberrheins und konstatiert dabei sowohl eine Zusammenarbeit und gegenseitige Beeinflussung der Bewegungen als auch eine sehr unterschiedliche Wirkung auf die jeweilige nationale Öffentlichkeit, zeitigten doch die Proteste in Frankreich anders als in der Bundesrepublik keinerlei größere Wirkung.
Auch Claudia Hiepel analysiert die grenzüberschreitende Zusammenarbeit, allerdings am Beispiel der Euregio-Regionen am Oberrhein, die durch zahlreiche Initiativen auf kommunaler und privater Ebene diese Rheinregion zu einem Raum dichter Verflechtung entwickelten. Währenddessen macht Fabrice Gireaud in seiner Analyse der Entwicklung des 2005 neu errichteten Eurodistrikt Straßburg-Ortenau deutlich, dass diese Form als Konstrukt von oben nicht funktioniert. Grund war, dass der Umsetzung der politischen Vorstellung vor Ort zu viele Hindernisse in der grenzüberschreitenden Praxis entgegenstanden und den Eurodistrikten keinerlei Kompetenzen zugestanden wurden.
Neben den weiteren Mikrostudien von Peter Friedemann über die Rahmenbedingungen und Handlungsspielräumen der Grubengesellschaft Vieille Montagne in der Industrialisierung sowie Rainer Hudemann über einen multiperspektivischen Ansatz zur Erforschung transnationaler Konflikte und Verflechtungen in der Stadtentwicklung der Rheinregion seit 1800 widmen sich schließlich die kulturwissenschaftlichen Beiträge keiner speziellen Rheinregion, sondern analysieren den Rhein als nationales Symbol.
Stéphanie Krapoth richtet dabei ihren Blick auf deutsche und französische Kompositionen, die während der politischen Auseinandersetzungen um 1840 entstanden und stellt dabei fest, dass diese in beiden Ländern romantisch aufgeladen waren, der Rhein aber nur in Deutschland als nationales Symbol dargestellt wurde. Diesen Unterschied bestätigt François Walter faktisch in seinem Beitrag, in dem er die Personifizierung des Rheins als landschaftliches Wahrzeichen der deutschen Nation erkennt, die erst nach 1950 durch die Patrimonialisierung des Flusses verschwand. Auch Brigitte Braun arbeitet in ihrer Untersuchung über den UFA-Stummfilm »Der Rhein in Vergangenheit und Gegenwart« (1922) die Politisierung des Stromes heraus. Die Dokumentation – unterstützt durch die ausgewählte Musik – zeigt den Rhein als deutschen Fluss, weshalb die Franzosen den Film im besetzten Rheinland auch verboten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Ralf Banken, Rezension von/compte rendu de: Hélène Miard-Delacroix, Guido Thiemeyer (Hg.), Der Rhein/Le Rhin. Eine politische Landschaft zwischen Deutschland und Frankreich 1815 bis heute/Un espace partagé entre la France et l’Allemagne de 1815 à nos jours, Stuttgart (Franz Steiner Verlag) 2018, 260 S. (Schriftenreihe des Deutsch-Französischen Historikerkomitees, 14), ISBN 978-3-515-12113-2, EUR 49,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68652