Popgeschichte ist ein vergleichsweise neues geschichtswissenschaftliches Forschungsfeld. Zu denjenigen, die sich auf diesem Feld bereits einen Namen gemacht haben, zählt Bodo Mrozek, zurzeit Fellow am Berlin Center for Cold War Studies des Instituts für Zeitgeschichte München-Berlin, der Bundesstiftung Aufarbeitung und der HU Berlin. Bislang mit zahlreichen Aufsätzen in Erscheinung getreten, liegt nun seine Dissertation vor: Eine aufgrund ihres Quellenreichtums, der schier überbordenden Fülle an historischen Details und Verweisen, der präzisen Begrifflichkeit und der sprachlichen Meisterschaft wahrlich beeindruckende Arbeit. Seinen Anspruch, »die Debatten um Jugend- und Popkultur in ihren jeweiligen zeitgeschichtlichen Zusammenhängen zu analysieren«, die Popkultur damit zu historisieren (S. 13) und den »oftmals übertheoretisierten und unterforschten Popdiskurs empirisch (zu) unterfüttern und zu neuen Deutungen (zu) gelangen« (S. 17), hat er jedenfalls in glänzender Manier eingelöst.
Dem Gegenstand angemessen ist der Quellenfundus, auf den sich der Autor stützt: Neben ungedruckten Materialien u. a. aus zahlreichen deutschen staatlichen und städtischen Archiven sowie einschlägigen Beständen in Frankreich, Großbritannien, Jamaika, den Niederlanden und den USA hat er Zeitungen und Zeitschriften, Schallplatten und Filme ausgewertet. 99 Abbildungen von typischen Posen und Kleidungsstücken über Karikaturen, Plattencover und Plakate bis zu Pressefotos von »Krawallen« ergänzen die Darstellung. Und erfreulicherweise enthält das Buch auch ein Personen- und ein Ortsregister.
In drei umfangreichen Kapiteln zeichnet Mrozek die Entwicklung von 1953 bis 1966 nach: Im ersten stehen »soziale Dissonanzen im öffentlichen Raum« zwischen 1953 und 1958 im Mittelpunkt, also die zunächst unter den Oberbegriffen von »Devianz« und »Delinquenz« verhandelten Anfänge jugendlicher »Verhaltensauffälligkeiten« (S. 44). Im nächsten Kapitel untersucht der Autor unter den Stichworten »Rhythm, Rock und Riots« die heftigen Kulturkämpfe, die sich an Konzerten angesagter Musikbands und Künstler, dem Kino und Rundfunksendungen entzündeten. Im abschließenden Kapitel geht es um die schrittweise Anerkennung der neuen popkulturellen Ausdrucksformen zwischen 1961 und 1965, die nun »nicht mehr als Verfallserscheinungen denunziert, sondern allmählich als legitimer Teil von Kultur akzeptiert« wurden (S. 35).
Gemäß seinem explizit transnationalen Ansatz wechselt Mrozek ständig zwischen Europa – mit den Schwerpunkten Großbritannien, Bundesrepublik und DDR – und den USA. So entsteht eine ungemein farbige und abwechslungsreiche Erzählung. Insbesondere die Kontrastierung der Entwicklungen in der Bundesrepublik und der DDR zeigt, dass die Reaktionen der »Obrigkeit« und der Presse in »West« und »Ost« mitunter sehr ähnlich ausfielen: »Nicht nur in der DDR schob man die Probleme mit der eigenen Jugend auf den Klassenfeind hinter der Grenze; auch in der Bundesrepublik suchte man beim politischen Gegner die Verantwortung« (S. 96). Ein Geistlicher aus Nottingham bezeichnete den Rock’n’Roll als »ein Revival des Teufelstanzes« (S. 195), und Erich Honecker war noch 1965 überzeugt, dass die »Beatmusik« vom »Klassenfeind« verwendet werde, um »Jugendliche zu Exzessen aufzuputschen« (S. 595). Alles in allem muten die Zitate aus den 1950er und frühen 1960er Jahren, die Mrozek präsentiert, entsetzlich muffig und spießig an – und zwar auch die, die aus dem Munde angesehener Experten, zum Beispiel Soziologieprofessoren, stammten, die sich mehr und mehr als »Politik- und Polizeiberater« betätigten (S. 317).
Viele der Klischeebilder spiegelten keineswegs die Realität, sondern vielmehr »kollektive Unsicherheiten und Ängste der Erwachsenen« wider (S. 169). Auch das sonst eher fortschrittliche Nachrichtenmagazin »Der Spiegel« kommentierte die »neue Körperlichkeit« bestimmter Tanzstile ziemlich fassungslos: »Männer und Frauen winden sich: Sie schlottern, schlingern, kollern, taumeln, als sei ihr zentrales Nervensystem gestört« (S. 431). Nur wenige zeitgenössische Kommentare zeigten sich beruhigt darüber, dass »eine Jugend, die den Rauch von zwei Weltkriegen hinter sich hat, nur Stühle zerschlägt«, wie es in einem Leserbrief an die Tageszeitung »Die Welt« vom November 1958 hieß (S. 270).
Was Popgeschichte in Verbindung mit kultur-, konsum-, wirtschafts- oder protestgeschichtlichen Ansätzen zu leisten vermag, dass sie als ein wesentliches »Feld einer Historiographie der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« zu begreifen ist (S. 745) – das demonstriert Mrozek auf überzeugende Weise. Und nebenbei zeigt er, dass Popgeschichte auch ohne schnöselige Attitüde erzählt werden kann. Vom Umfang sollte sich niemand abschrecken lassen: Die »Strapazen« lohnen sich nicht nur für Rock- und Popnostalgikerinnen und -nostalgiker unbedingt.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Werner Bührer, Rezension von/compte rendu de: Bodo Mrozek, Jugend – Pop – Kultur. Eine transnationale Geschichte, Berlin (Suhrkamp) 2019, 866 S. (suhrkamp taschenbuch wissenschaft, 2237), ISBN 978-3-518-29837-4, EUR 34,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68653