Hätte sich der Nationalsozialist Theodor Habicht während seiner Zeit als Landesinspekteur der NSDAP in Österreich zufällig in die Berggasse 19 verirrt und dort auf den rostroten Polsterkissen der Freud’schen Chaiselongue ausgestreckt, dem großen Seelenleser wäre die Diagnose denkbar leichtgefallen. Denn Theodor Habicht war ein Narzisst wie aus dem Bilderbuch; ein selbstverliebter Egomane, der seine Leistungen permanent in Superlativen beschrieb und die eigenen Mitmenschen primär als farblose Kontrastmasse zu seiner markant hervorstechenden Überdurchschnittlichkeit wahrnahm. Seine pathologisch auffällige Selbstgefälligkeit kultivierte der Drahtzieher des desaströs gescheiterten NS-Putsches in Österreich ab 1940 in den Einträgen eines umfangreichen und außergewöhnlichen Kriegstagebuchs, das er bis zu seinem Tod an der Ostfront im Jahr 1944 verfasste – ein Quellenschatz, den Felix Römer nun in einer originellen biografischen Studie über den von der Geschichtswissenschaft bisher wenig beachteten NSDAP-Funktionär gehoben hat.
Felix Römer, der mit seinen Werken in der Vergangenheit bereits wegweisende Akzente auf dem Feld der Erforschung der Wehrmacht gesetzt hat1, intendiert mit seinem jüngsten Buch jedoch keine Biografie im klassischen Sinne – bei ihm liegt mit Theodor Habicht (1898–1944) vielmehr die gesamte nationalsozialistische Gesellschaft auf der geschichtswissenschaftlichen Analysecouch. Zwar bilden der NSDAP-Funktionär und sein 1500 Seiten starkes Tagebuch den methodischen Ausgangspunkt dieser Analyse. Durch die konsequente Einbettung der mikrogeschichtlichen Ergebnisse in makrogeschichtliche Zusammenhänge zielt der Autor jedoch auf strukturelle Aussagen ab. Den Wiesbadener Nationalsozialisten definiert Römer als den Prototyp einer politischen Elite, die ihren virulenten Narzissmus zum zentralen Leistungs- und »Funktionsprinzip« einer neuen Gesellschaftsordnung erhob (S. 31). Die einzelnen Stationen von Habichts Lebensweg dienen Römer dabei nicht als stringent chronologischer Referenzrahmen, sondern eher als lose gesponnener roter Faden, an welchem er seine Argumente in drei Hauptkapiteln aufreiht.
Der Autor begreift die maßlos übersteigerte Selbstbezogenheit Theodor Habichts nicht etwa als bizarre Charakterschwäche eines kuriosen Einzelfalls, sondern als kollektives Phänomen, das die Struktur und Dynamik der NS-Diktatur ebenso nachhaltig prägte wie die Mentalität ihrer politischen Trägerschichten. Als Gruppe hätten letztere durch ihre soziale Praxis eine »Kultur des Narzissmus« etabliert und diese ab 1933 in die Ligaturen des neuen Machtapparats miteingegossen (S. 26).
Verantwortlich für den Narzissmus der NS-Aktivisten waren Römer zufolge, neben deren spezifischer »generationellen« und »sozialen Lagerung«, auch eine »Personalisierung der politischen Kultur« sowie der »nationalsozialistische Persönlichkeitskult« (S. 27f.). In den Kapiteln über die »Kultur des Narzissmus« (II) und die »Volksgemeinschaft« (III) geht Römer näher auf diese vier Faktoren ein.
Wie Habicht, der sich 1915 als Freiwilliger zum Kriegsdienst meldete, hätten die vor 1900 geborenen Nationalsozialisten sich selbst, aufgrund ihrer exklusiven Gewalterfahrungen im Ersten Weltkrieg sowie in den Straßenschlachten der Freikorpszeit, als Teil einer gesellschaftlichen Elite wahrgenommen. Mit diesem Selbstbild einher ging auch der Glaube an einen natürlichen Anspruch auf die politische Führungsrolle. Da viele Parteikader zudem aufgrund ihrer bescheidenen sozialen Herkunft an Minderwertigkeitskomplexen litten, wirkte ihr kometenhafter Aufstieg nach 1933 auf derlei Überlegenheitsdünkel wie ein Brandbeschleuniger. Spätestens als der gelernte Kaufmann Habicht in herrschaftlichen Villen Cognac in bauchigen Gläsern schwenkte und auf internationalem Parkett den diplomatischen Experten mimte, schien sich sein überzeichnetes Selbstbild zu bestätigen. Laut Römer verhalfen die selbstbesessenen NS-Aktivisten ihrer Egomanie durch eine Personalisierung der politischen Kultur zusätzlich zu praktischer Geltung. In der Sozialkultur der Nationalsozialisten »bildeten individuelle Parteiführer die Machtzentren«, hing das politische Geschehen »mehr von den maßgeblichen NS-Fürsten und ihren Seilschaften ab als von Ämtern oder Dienstwegen« (S. 66).
Römer zufolge fußte die polykratische Herrschaftstektonik des NS-Staats ab 1933 in erheblichem Maße auf dem persönlichen Geltungsbedürfnis und der Selbstherrlichkeit der NSDAP-Funktionäre. Diesen diente ihr eigener Narzissmus auch bei der Implementierung neuer Machttechniken als eine zentrale Bezugsgröße: Weil sich innerhalb der politischen Führungselite jeder für den größten Hecht im Teich gehalten habe, sei das neue Regime demzufolge auf allen Ebenen gekennzeichnet gewesen von rigorosem Ämterdarwinismus und aggressiven Konkurrenzkämpfen, von persönlichen Rivalitäten und den ständigen Kompetenzstreitigkeiten zwischen Ministerien, Amtsträgern sowie einer Vielzahl an Sonderbeauftragten ohne klar abgrenzbaren Aufgabenbereich.
Für eine ideologische Legitimation der NS-Personenverbandspolitik sorgte die kultische Verehrung der Persönlichkeit im Nationalsozialismus. Laut Römer konnte der »Imperativ der Gemeinschaft« (S. 20) aus diesem Grund der Selbstherrlichkeit vieler Parteiführer auch keine Grenzen setzen. Denn in der Vorstellungswelt von Männern wie Habicht »konnte die ›Volksgemeinschaft‹ nur dadurch bestehen, dass die ›Massenmenschen‹ von der Elite der ›Besten‹ unter Zwang zu einem Volk geformt wurden« (S. 105).
Römers Thesen wirken auf den ersten Blick entwaffnend plausibel. Bei genauerem Hinsehen jedoch bieten sie durchaus Angriffsflächen. Zum einen verfällt der Autor stellenweise einem Phänomen, das sich in Abgrenzung zu Bourdieus Behauptung von der »illusion biographique«2 als »Illusion der Repräsentativität« beschreiben ließe – anders ausgedrückt: Nicht jeder Aspekt aus Habichts Vorstellungswelt muss zwangsläufig auf generelle Denk- und Handelsmuster der nationalsozialistischen Führungselite verweisen. Genau diesen Eindruck vermittelt Römer aber bisweilen. So schlussfolgert er etwa aus Habichts mangelnder Bereitschaft zur »kooperativen Konkurrenz« etwas vorschnell, dass »man« im Nationalsozialismus auch ohne diese Machttechnik »sehr weit kommen und sehr viel bewegen konnte« (S. 101).
Auch an anderer Stelle hat der Autor vereinzelt Schwierigkeiten, seine mikrohistorischen Analyseergebnisse glaubhaft in makrogeschichtliche Zusammenhänge einzubetten. Für Aussagen, die über den Einzelfall hinausweisen, braucht es eine geeignete Vergleichsbasis. Gerade diese aber fällt bei Römer an entscheidenden Stellen etwas dünn aus. So vergleicht der Autor den Narzissmus Theodor Habichts in erster Linie mit dem der berühmt-berüchtigten Egomanen Joseph Goebbels und Alfred Rosenberg. Auf den ersten Blick scheint sich diese Dreierkonstellation durchaus anzubieten, nutzten doch auch Goebbels und Rosenberg ihr Tagebuch zur pathetischen Selbststilisierung. Eine Differenzierung dieser überschaubaren Vergleichsbasis sucht man bei Römer allerdings vergeblich. Dabei entziehen sich sowohl Goebbels als auch Rosenberg zumindest partiell den von Römer erstellten Kategorien der »generationellen« und »sozialen Lagerung«.
Keiner der beiden war aktiver Kriegsteilnehmer. Zudem wiesen beide mit ihren abgeschlossenen Hochschulstudien ein anderes Bildungsprofil auf als der Kaufhausangestellte aus Wiesbaden. Hinzu kommt, dass Theodor Habicht es im NS-Staat eben immer nur »fast bis ganz nach oben« schaffte. Habicht gehörte Zeit seines Lebens zur dritten, bestenfalls zweiten Garnitur der NSDAP-Funktionäre. Goebbels und Rosenberg spielten in einer anderen Liga. Allerdings schleift Römer sein methodisches Instrumentarium mit fortschreitender Seitenzahl zunehmend, um sich am Ende seines Buches schließlich in unnachahmlicher Präzision auf seinen Forschungsgegenstand zu stürzen.
In seinem Kapitel (IV) über den »Krieg« behandelt Römer die letzte Lebensphase Theodor Habichts als Offizier in einem Infanteriebataillon der Wehrmacht. Hier unternimmt Römer eine militärgeschichtliche Mikrostudie von beispielloser Brillanz. Der ständige Wechsel zwischen mikro- und makrogeschichtlicher Analyse gelingt dem Autor hier ebenso mühelos wie der Vergleich zwischen der paternalistischen Selbstwahrnehmung Habichts und der Angst- und Gewalterfahrung der zivilen Bevölkerung vor Ort. Auf diese Weise legt Römer eindrucksvoll die Strukturen und Mechanismen des Gewaltraums »Ostfront« offen.
Hier bestimmten Männer wie Theodor Habicht als »Manager der Gewalt« das Geschehen (S. 245). Durch den permanenten Wechsel aus langen Zitaten und seiner eigenen evokativen Sprachkraft überbrückt Römer zudem geschickt die Distanz zu seinem Forschungsgegenstand und bettet seine mikrogeschichtlichen Ausführungen so in einen geeigneten sprachlichen Rahmen ein. Der Leser wird zum stillen Beobachter des Geschehens und folgt, als ein wissenschaftlicher Voyeur, dem grotesken Geltungstrieb Habichts an der Ostfront bis zu dessen Tod.
Der Eindruck des letzten Kapitels deckt sich dabei mit der Gesamtschau des Buches: Überall dort, wo sich Felix Römer vollkommen auf seinen mikrohistorischen Ansatz einlässt, gelingen ihm Analysen von beispielloser analytischer Schärfe, gelingt ihm die perfekte Kombination aus akribischer Recherche, multiperspektivischer Aufbereitung, kenntnisreicher Darstellung und einem eleganten wissenschaftlichen Sprachstil – genau so muss Geschichtswissenschaft sein.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Philipp Horn, Rezension von/compte rendu de: Felix Römer, Die narzisstische Volksgemeinschaft. Theodor Habichts Kampf 1914 bis 1944, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2017, 398 S., 13 s/w Abb. u. Kt. (Die Zeit des Nationalsozialismus), ISBN 978-3-10-397284-9, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68656