Seit 1942 gehörte in den westeuropäischen Ländern Frankreich, Belgien und den Niederlanden die Deportation zu jenen Strategien der Nationalsozialisten, die »Endlösung der Judenfrage« zu realisieren. In den letzten Jahren rückten Fragen nach den Überlebensstrategien der Verfolgten sowie ihren Hilfsnetzwerken in das Zentrum der Forschung1. Jacques Semelin, der sich seit vielen Jahren mit der Erforschung des Genozids und des zivilen Widerstandes beschäftigt, beabsichtigt mit diesem Buch keine neue Studie zur »Endlösung« (S. 15) vorzulegen. Er strebt an, ein klares Bild von verfolgten Jüdinnen und Juden zu skizzieren, die mit Hilfe von Einzelpersonen oder Familien dem Grauen der nationalsozialistischen Verfolgungs- und Vernichtungspolitik zu entgehen versuchten. Damit will er auch auf die lange Zeit in der Forschung vernachlässigte Frage, wie drei Viertel der jüdischen Bevölkerung Frankreichs dem Tod entkommen konnten, eine Antwort geben.

Die vorliegende Monografie ist eine gekürzte und aktualisierte Übersetzung seines im Jahr 2013 erschienenen Buches »Persécutions et entraides dans la France occupée«2. Neuere Literatur fand ebenso Berücksichtigung wie die 2013 durch die französische Fassung ausgelöste Debatte. Dies schlägt sich in einer völlig neu geschriebenen Einleitung sowie im Fazit nieder. Für den deutschen Leser wäre eine kurze Darstellung der 2013 ausgelösten geschichtswissenschaftlichen Debatte hilfreich gewesen.

Wie konnten in einem Land, das im Zeitraum vom Juni 1940 bis zur Befreiung von Paris im August 1944 von den Deutschen besetzt war und dessen neue Regierung um Marschall Pétain an der Verfolgung und Deportation der Juden beteiligt war, insgesamt 75 % der sich in Frankreich aufhaltenden Juden, was ungefähr 220 000 Personen entsprach, entkommen und überleben? Um dieser Frage nachzugehen, konzentriert Semelin sich nicht nur auf Frankreich, sondern stellt internationale Vergleiche an, vornehmlich mit den beiden westeuropäischen Ländern Belgien und den Niederlanden, da dort die Strategie der Nationalsozialisten in Hinblick auf die »Judenfrage« mit jener in Frankreich vergleichbar war.

So will Semelin verstehen, wie die Nationalsozialisten ihre lokalen Strategien »die jüdische Rasse« (S. 17) zu vernichten umsetzten und lokalen Gegebenheiten anpassten. Eine Vielzahl von Faktoren wie zum Beispiel die Beziehungen zwischen Besatzern und Besetzten, die Ausprägungen des lokalen Antisemitismus und die Größe der jüdischen Gemeinde spielten dafür eine Rolle. Da sich die Politik der Nationalsozialisten in Ost- und Westeuropa deutlich voneinander unterschied, ist es notwendig, das Schicksal der in Frankreich lebenden Juden in den Gesamtzusammenhang der nationalsozialistischen Politik einzuordnen.

In seiner Studie stützt sich Semelin auf unterschiedliche Arten von Quellen aus Deutschland und Vichy-Frankreich, wie z. B. Tagebücher, Erinnerungen und Zeitzeugenberichte. Dabei skizziert er die Lebenswege sowohl französischer wie auch ausländischer, in Frankreich lebender oder dorthin emigrierter Jüdinnen und Juden von der Vorkriegszeit bis zum Ende der deutschen Besatzung.

Seine Untersuchung ist in vier Abschnitte gegliedert und behandelt folgende Themen: 1. »Die räumliche Verteilung der jüdischen Bevölkerung«, 2. »Angesichts der Verfolgung: Sich durchschlagen um zu überleben«, 3. »Angesichts der Verhaftungen: Sich unter die Bevölkerung mischen« und 4. »Spontane Hilfen für die Verfolgten«.

Den ersten Teil seiner Studie widmet Semelin den geopolitischen Besonderheiten dieser Zeit. Zunächst, nach der militärischen Niederlage im Sommer 1940, besetzten die Deutschen den Norden des Landes und richteten eine »freie Zone« im Süden Frankreichs ein, auf die die Herrschaft der neu gebildeten Vichy-Regierung unter Marschall Pétain faktisch beschränkt war. Dabei stellt der Autor zunächst die geografische Verteilung der damals in Frankreich lebenden französischen sowie ausländischen Juden dar und beschreibt anschließend deren mit Kriegsbeginn einsetzende Fluchtbewegungen innerhalb des Landes.

Die jüdischen Bürgerinnen und ihre Organisationen flüchteten in den Süden des Landes, weil die Maßnahmen der Vichy-Regierung dort weniger radikal waren und sie hofften, sich dem deutschen Zugriff entziehen zu können. So lehnte Vichy die Verpflichtung zum Tragen eines gelben Sterns anfangs noch ab und ließ zunächst nur ausländische Juden festnehmen, während zur gleichen Zeit, im Herbst 1941, im Norden Frankreichs bereits tausende französische Jüdinnen und Juden in Lagern interniert wurden.

Anschließend beschäftigt Semelin sich mit der Frage nach den Fluchtmöglichkeiten und den alltäglichen Strategien, um Hetze und Inhaftierung zu entgehen. Die Lebensumstände jüdischer Bürgerinnen und Bürger wurden immer schwieriger u. a. durch Berufsverbote. Anhand einzelner Beispiele verdeutlicht der Autor, welche Möglichkeiten diese hatten, ihren Peinigern zu entkommen, und vor welchen Herausforderungen sie standen. So mussten Entscheidungen über einen Ortswechsel getroffen oder eine neue Unterkunft gefunden werden. Anhand von Statistiken macht Semelin deutlich, wie stark die Überlebenschancen von der Herkunft und sozialen Netzen abhingen: Der Anteil der Ermordeten unter jenen Juden, die als Flüchtlinge nach Frankreich gekommen waren, war fast doppelt so hoch, wie derjenige unter französischen Juden und Jüdinnen.

Im dritten Kapitel beschreibt Semelin die Ereignisse ab dem Sommer 1942. Die französische Regierung um Marschall Pétain akzeptierte die deutsche Forderung, staatenlose Juden im gesamten Land verhaften zu lassen. Die einzigen Möglichkeiten waren nun die Flucht ins Ausland oder das Untertauchen in Frankreich. Familien versuchten vor allem ihre Kinder zu retten und flohen in den südlichen Teil des Landes, um nach Aufnahmemöglichkeiten zu suchen, häufig bei Freunden oder Bekannten der Familie. Nachdem die Deutschen am 11. November 1942 auch den südlichen Teil Frankreichs besetzt hatten, verschärfte dies die Situation. Die »große Vielfalt von ›kleinen Gesten‹ der Hilfe und des Schutzes« (S. 241) stellt die Grundlage dar, die den jüdischen Verfolgten erst die Möglichkeit bot unterzutauchen und letztendlich ihr Überleben zu sichern. Für Semelin spielt die Hilfsbereitschaft der französischen Bevölkerung eine zentrale Rolle bei der Rettung der Juden in Frankreich.

Das letzte Kapitel nimmt die Hilfsaktionen durch die französische Zivilbevölkerung in den Blick. Trotz der antisemitischen Propaganda der Vichy-Regierung gab es individuelle sowie organisierte Hilfsaktionen für die Verfolgten. Die Ereignisse im Sommer 1942 führten zum einen dazu, dass die Hilfsbereitschaft der einheimischen Bevölkerung – aufgrund der immer deutlicher sichtbaren öffentlichen Gewalt, die sich auch gegen Kinder richtete – größer und zum anderen die Kritik an Marschall Pétain und seinen Mitstreitern lauter wurde. Demgegenüber beleuchtet Semelin auch die andere Seite der Gesellschaft, jene Seite, die von antisemitischen Ressentiments, Gleichgültigkeit, Bereicherung und Denunziation geprägt war. Trotz verbreiteter deutscher antisemitischer Propaganda sowie der Mithilfe der Vichy-Regierung gelang es allerdings nicht, bei der Mehrheit der französischen Bevölkerung Zustimmung für die Verfolgungs- und Vernichtungspolitik an den Juden zu erzeugen.

Semelin gelingt es Wissenschaftlichkeit und Emotionalisierung zu verbinden und auszutarieren. Dies verdeutlicht seine Absicht zum einen eine wissenschaftliche Zielgruppe anzusprechen, was sein kritischer Umgang mit vorhandener Literatur und Quellen unterstreicht, und zum anderen führen zahlreiche Fallbeispiele und Zitate von Zeitzeugen zu einer Emotionalisierung, die vornehmlich eine breite Leserschaft erreichen soll. Die entscheidenden Faktoren für die eingangs formulierte Frage, wie 75 % der Juden in Frankreich den Holocaust überleben konnten, sieht Semelin in dem Umschwung der öffentlichen Meinung zugunsten der verfolgten Jüdinnen und Juden, in der Mobilisierung der Zivilgesellschaft und in Protesten der katholischen Kirche ab dem Sommer 1942. Diese Umstände führten dazu, dass das Vichy-Regime seine Beteiligung an der »Endlösung« einschränkte. Der »multifaktorielle Lösungsansatz« von Jacques Semelin ist überzeugend, wobei sein Buch auch viele neue Erkenntnisse bietet, die Leserinnen und Lesern einen neuen Blick auf die Geschichte des französischen Antisemitismus ermöglichen.

1 Vgl. die siebenbändige Reihe »Solidarität und Hilfe für Juden während der NS-Zeit« (Berlin 1996 bis 2004); Hans Erler, Arnold Paucker, Ernst Ludwig Ehrlich (Hg.), »Gegen alle Vergeblichkeit«. Jüdischer Widerstand gegen den Nationalsozialismus, Frankfurt a. M. u. a. 2003; und den Überblicksartikel von Andrea Löw: Widerstand und Selbstbehauptung von Juden im Nationalsozialismus, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 64 (2014), Heft 27, S. 25–31. Speziell für die Situation in Westeuropa bieten folgende Werke einen Überblick: Bob Moore, Survivors. Jewish Self-Help and Rescue in Nazi-Occupied Western Europe, Oxford 2010; Insa Meinen, Ahlrich Meyer, unter Mitarbeit von Jörg Paulsen, Verfolgt von Land zu Land. Jüdische Flüchtlinge in Westeuropa 1938–1944, Paderborn 2013; Tanja von Fransecky, Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Berlin 2014; Laurent Joly, Dénoncer les juifs sous l’Occupation. Paris 1940–1944, Paris 2017.
2 Jacques Semelin, Persécutions et entraides dans la France occupée. Comment 75% des juifs en France ont échappé à la mort, Paris 2013.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Benjamin Pfannes, Rezension von/compte rendu de: Jacques Semelin, Das Überleben von Juden in Frankreich. 1940–1944. Mit einem Vorwort von Serge Klarsfeld. Aus dem Französischen übersetzt von Susanne Wittek, Göttingen (Wallstein) 2018, 364 S., 5 Abb., ISBN 978-3-8353-3298-0, EUR 34,90., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68657