Bereits in seinem Titel nimmt Felix Teuchert, der Autor der Studie »Die verlorene Gemeinschaft. Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972)«, ein für ihn zentrales Begriffspaar auf: Gemeinschaft und Gesellschaft. Mit dem endgültigen Scheitern der Volksgemeinschaft wandte sich das protestantische intellektuelle Denken nach 1945 zunehmend dem Begriff der Gesellschaft zu (S. 58), einem »Sehnsuchtsort und Zukunftsbegriff« (S. 464). Die Gesellschaftsentwürfe zu rekonstruieren, die hinter den Integrationsdebatten um die Millionen Flüchtlinge und Vertriebene steckten, formuliert Teuchert als erstes Ziel seiner Arbeit.

Nicht allein als kirchengeschichtliche Studie gedacht, stellt sie zweitens den Protestantismus in den Mittelpunkt des Interesses, unter dem eben mehr als die Institution Kirche verstanden wird. Dennoch werden als Gremien vor allem der Ostkirchenausschuss (OKA) und der Ostkirchenkonvent (OKK) betrachtet, die teils gemeinsam, wegen unterschiedlicher Vorstellungen von Integration, teils antagonistisch agierten. Ein weiteres Anliegen der Arbeit ist es, die Umsetzung des gesellschaftspolitischen Gestaltungswillens des Protestantismus zu analysieren und für ihn typische Argumentations- und Deutungsmuster sowie das sich daraus ergebende Verständnis von Protestantismus herauszuarbeiten. Dieses wird schließlich der theologischen Selbstbeschreibung gegenübergestellt (S. 27f.).

Teuchert hat unter anderem einen wissenschaftshistorischen Ansatz für seine 2018 erschienene Dissertation gewählt. Im ersten Teil beschäftigt er sich stark mit den Versuchen protestantisch geprägter Soziologen und Soziologinnen, die neue Situation der Deutschen zu fassen, und den sprachlichen Mitteln, diese zu beschreiben. Dabei stellt Teuchert einen Wandel der Sprache fest und betont deren »Diskontinuität« (S. 226) bei aller nationalsozialistischen Vorbelastung, die diesen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern gemeinsam war (S. 225f.). Gleichzeitig billigt Teuchert ihren Aussagen nur wenig Einfluss auf innerkirchliche Entscheidungen zu (S. 230).

Ein weiteres wesentliches Begriffspaar war »Atomisierung und Vermassung« (S. 230), das Desintegrationserscheinungen in der deutschen Nachkriegsgesellschaft beschrieb. Es drückte die Ablehnung einer radikalen Individualisierung einerseits und die einer Kollektivierung andererseits aus. Blieb die Volksgemeinschaft für viele als Idealvorstellung präsent, spielte dieser Begriff – ebenso wie »Volk« – kaum eine Rolle in Diskursen, die sich nicht speziell mit Vertriebenen beschäftigten (S. 233). Diese Entwicklung stand auch für die Tendenz, dass sich die enge Verbindung von protestantischer Kirche und deutschem Volk löste (S. 478).

Den protestantischen Gestaltungswillen im Untersuchungszeitraum zeigt Teuchert vor allem am Beispiel des Lastenausgleichs auf. An der Diskussion über diesen und an seiner Umsetzung war der Protestantismus »substantiell beteiligt« (S. 335), wenngleich der Verfasser einräumt, dass der praktische Einfluss der religiösen Akteure nur schwer zu quantifizieren sei (S. 336). Akteure sind in diesem Fall kirchliche Gremien, aber auch Persönlichkeiten, wie der protestantische Sozialpolitiker Johannes Kunze, dessen Scharnierfunktion zwischen Kirche und Staat ausführlich beschrieben wird (v. a. S. 303–315).

Im dritten großen Kapitel des Buches steht die Auseinandersetzung des Protestantismus mit der Integration der Vertriebenen und ihrer Situation in Deutschland im Zentrum. Ergebnis dieser Diskussion war die Denkschrift »Zur Lage der Vertriebenen und das Verhältnis des deutschen Volkes zu seinen östlichen Nachbarn«. Als ihr großes Verdienst würdigt Teuchert, dass die Denkschrift dazu beitrug, »dass sich das Spektrum des Sagbaren verschob« und das Sprechen von der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze möglich wurde. Weiterhin stellte erst sie den Zusammenhang von Problemen bei der Integration und der Frage nach dem Recht auf Heimat her. Theologisch gesehen stand die Denkschrift diesem skeptisch gegenüber (S. 458f.), was anders als die Aussagen zur Integration »im Fokus der medialen Aufmerksamkeit« stand (S. 448).

Von Bedeutung waren weniger die vielfältigen und heterogenen Beiträge des Protestantismus zur gesellschaftspolitischen Debatte um die Integration der Flüchtlinge und Vertriebenen, sondern mehr seine Fähigkeit, »Foren und Institutionen« (S. 488) zu bieten, um einen Diskurs zu ermöglichen. Gerade den Kammern und Akademien misst Teuchert in seinem Fazit große Bedeutung bei.

Im letzten Abschnitt der Arbeit irritiert diese allerdings mit ihrem Blick auf die katholische Konfession, in der es, so der Autor, »nicht zur Bildung landsmannschaftlicher Organisationen« gekommen sei (S. 493). Die dort erwähnte Ackermann-Gemeinde war jedoch tatsächlich »ein Zentrum der katholischen Vertriebenenarbeit« (S. 423f.) – und eben gerade eine Organisation von sudetendeutschen Vertriebenen, ebenso wie die Eichendorff-Gilde die Schlesier vertrat. Gerade das Dach der katholischen Kirche bot die Möglichkeit der landsmannschaftlichen Organisation, als diese im säkularen Bereich wegen der Regelungen der Besatzungsmächte noch nicht möglich war.

Zweifellos löst die im Rahmen der interdisziplinären DFG-Forschergruppe »Der Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik« entstandene Dissertation ihre beiden Hauptziele ein. Der ausführliche Fußnotenapparat unterstreicht die Detailkenntnis des Autors und zeigt die akribische Literatur- und Quellenauswertung, auf der die Studie beruht. Mit ihrem multiperspektivischen und nicht rein kirchengeschichtlichen Ansatz findet sie vor allem einen innovativen und gewinnbringenden Zugang zum Untersuchungsgebiet. Felix Teucherts Buch zeigt meist jenseits der Kirchen als Organisation den Beitrag des Protestantismus mit seinen vielfältigen Ideen, Gremien und Persönlichkeiten für die wichtige Debatte über die Integration von Millionen von Flüchtlingen und Vertriebenen in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg auf und verdeutlicht, dass der Protestantismus neue Räume öffnete, um diese zu führen.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Markus Stadtrecher, Rezension von/compte rendu de: Felix Teuchert, Die verlorene Gemeinschaft. Der Protestantismus und die Integration der Vertriebenen in die westdeutsche Gesellschaft (1945–1972), Göttingen (Vandenhoeck & Ruprecht) 2018, 556 S. (Arbeiten zur Kirchlichen Zeitgeschichte. Reihe B: Darstellungen, 72), ISBN 978-3-525-57056-2, EUR 74,99., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68659