Es gibt wenige Dinge, die im Alltag eine so große Rolle spielen wie die Infrastruktur. Es ist daher kein Wunder, dass sie es zwar nicht oft, aber doch regelmäßig in die Schlagzeilen schafft. Sei es die Frage des Breitbandausbaus in Deutschland, der Zustand der Straßen in den USA oder die Schwierigkeiten bei der Müllabfuhr in Neapel im Jahr 2011. Dabei fällt auf, dass Infrastrukturen vor allem dann ins Zentrum der Aufmerksamkeit geraten, wenn ihre Funktionsfähigkeit nicht in vollem Umfang gewährleistet ist. Gleichermaßen ist die Verfügbarkeit von Infrastrukturen zweifellos ein Maßstab dafür, wie modern ein Ort ist.
Das gilt auf zweierlei Weise. So ist erstens die Abhängigkeit der modernen Menschen von elektrischem Strom, Wasser und Abwasser, Verkehrsmitteln usw. zweifellos kaum zu unterschätzen. Selbst der Ausfall der Internetverbindung über einen längeren Zeitraum kann Unternehmen in ernstzunehmende Schwierigkeiten bringen. Darüber hinaus gibt es innerhalb der Infrastrukturen Hierarchien. Ein funktionierendes Abwassersystem ist neuzeitlicher als ein Faulbehälter, und auch die Verstromung von Kohle steht stark in der Kritik, gibt es doch umweltfreundlichere Bezugsquellen wie Solar- und Windkraft oder wenigstens Erdgas.
Somit ist die Geschichte der Infrastruktur auch eine Geschichte der Moderne. Das gilt auch auf sozialer Ebene. Eugene Webers Behauptung, erst die Zuginfrastruktur habe aus Bauern Franzosen gemacht1, zeigt, wie sehr Gesellschaften durch Infrastrukturen geformt werden können. Das gilt zweifellos auch heute, wo das Pendeln über große Distanzen hinweg ebenso selbstverständlich geworden ist wie die Möglichkeit, rasch eine 500 km entfernte Unternehmenszweigstelle persönlich aufzusuchen.
Es überrascht daher kaum, dass Schriften, die sich mit Infrastruktur beschäftigen, in kaum zu überschaubarer Zahl vorliegen. Besonders die Technikhistoriker haben sich hier hervorgetan. An einen konzisen Gesamtüberblick hat sich jedoch bisher kaum jemand herangewagt. Der Leipziger Historiker Dirk van Laak hat nun eine mit 311 Textseiten (inkl. Endnoten) gut lesbare Monografie vorgelegt, die sich ausschließlich mit dem Thema Infrastruktur beschäftigt. Das Buch ist in zwei Teile gegliedert. Der erste geht klassisch-chronologisch vor. Der Autor beginnt Mitte des 19. Jahrhunderts und nimmt im zeitlichen Fortgang immer wieder eine spezifische Infrastruktur auf: Kanalisation, Zugverkehr, Telegrafie, später der elektrische Strom, Straßen – selbst die Müllabfuhr wird nicht ausgespart.
Die zweite Hälfte beschäftigt sich mit »Knotenpunkte(n) der Debatten um die Infrastruktur«. Konkret betrifft das die Frage der Organisation, ihren Symbolwert, die Frage von Pflege und Erhalt, ihre Verwundbarkeit und die Problematik von Nutzung und Betrieb. Im Schluss nimmt van Laak seinen eigenen Buchtitel nochmal auf, formuliert ihn aber – »Alles im Fluss?« – als Frage neu.
Der rote Faden des Buches besteht in erster Linie darin zu zeigen, wie die Infrastrukturen die Gesellschaften erheblich geformt haben, und umgekehrt. Diese Erkenntnis selbst gehört gewissermaßen zum Markenkern der Technikgeschichte. Häufig wird dieses Wechselverhältnis in erster Linie auf sogenannte »großtechnische Systeme« (wie z. B. nationale Stromnetze) bezogen. Dem Autor gelingt es aber, diesen Zusammenhang auch auf andere Weise zu zeigen. So lässt sich der Ausbau von Frisch- und Abwassersystemen erheblich besser verstehen, wenn man sich vor Augen führt, dass im 19. Jahrhundert »Hygiene zu einer Obsession der modernen Stadt wurde« (S. 59).
Dass Technologien wie Strom und Telefon ihre Nützlichkeit überhaupt erst beweisen mussten, wirkt daneben beinahe banal. Der Autor stellt wenige Seiten später fest, dass in »den rund 40 Jahren vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs die technischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts geschaffen wurden« (S. 70). Die zweite Hälfte des Buches trägt diesem Paradigma durchaus Rechnung, denn die dortigen »Knotenpunkte der Debatten um die Infrastruktur« werden praktisch alle in Bezug auf das 20. Jahrhundert gestellt und beantwortet.
Die Monografie bietet darüber hinaus Ausgangspunkte für weitere Forschungen. Eine davon könnte die Rolle des Staates thematisieren. Dirk van Laak schreibt es nicht explizit, aber trotzdem geht aus seinem Text hervor, dass mit jedem Ausbau der Infrastruktur auch die Anforderungen an den Staat wuchsen, ihre Funktionsfähigkeit zu gewährleisten. Dabei ist es unerheblich, ob es sich um die Verdichtung einer schon bestehenden Infrastruktur handelte (z. B. das Telefonnetz, [Wasser-]Straßen), oder um eine grundsätzlich neue (Müllabfuhr, Internet). Van Laak belegt durch seine Publikation, dass sich an dieser Tatsache in absehbarer Zeit kaum etwas ändern dürfte.
Wer am Buch Kritik üben möchte, muss schon sehr ins Detail gehen. Ob denn beispielsweise das Smartphone wirklich die »Fernbedienung der Netzwerkgesellschaft« (S. 7) ist, würde der Autor dieser Rezension eher anders sehen. Und ob man wirklich eine direkte Linie von der städtischen Gesundheitspolitik zum modernen Interventionsstaat (S. 60) ziehen kann, werden überzeugte Keynesianer sicherlich bestreiten. Doch selbst die kritischste Leserin und der kritischste Leser werden attestieren müssen, dass hier ein Buch vorliegt, das von interessierten Laien wie von Fach(technik)historikerinnen und -historikern mit Gewinn gelesen werden kann. En passant zeigt Dirk van Laak damit auch, wie man Monografien schreibt, die auch Nichtfachleute in ihren Bann ziehen.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Yaman Kouli, Rezension von/compte rendu de: Dirk van Laak, Alles im Fluss. Die Lebensadern unserer Gesellschaft – Geschichte und Zukunft der Infrastruktur, Frankfurt a. M. (S. Fischer) 2018, 366 S., ISBN 978-3-10-397352-5, EUR 26,00., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68660