Die populären »Sehnsuchtsorte« der Deutschen lagen die längste Zeit südlich der Alpen in Italien. Mit der Französischen Revolution avancierte Paris zwar zu einem Ort der Faszination, aber die verblasste rasch wieder und nach dem Ende der napoleonischen Herrschaft verlor das Bild der Stadt für viele Deutsche gänzlich an Strahlkraft. An dieser Wahrnehmung änderten auch die bisweilen hymnischen Schilderungen des Pariser Lebens wenig, die Emigranten wie Heinrich Heine oder Ludwig Börne in ihren Korrespondenznachrichten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts übermittelten. In der zweiten Hälfte des Jahrhunderts weckten Berichte über die großen Weltausstellungen zwar Neugierde auf Paris, die aber nur sehr wenige durch Augenscheinnahme befriedigen konnten.
Der chauvinistisch überformte Meinungsbildungsprozess, der dem zur »Erbfeindschaft« stilisierten deutsch-französischen Machtantagonismus eigentümlich war und der seinen Niederschlag in dem vermeintlich unüberbrückbaren Widerspruch zwischen französischer Zivilisation und deutscher Kultur, also zwischen Oberflächlichkeit und Innerlichkeit, fand, tauchte Paris in der deutschen Wahrnehmung endgültig in das Dämmerlicht sybaritischer Ausschweifung.
Die jähe Niederlage Frankreichs im Mai 1940, mit der das vom Krieg nicht zerstörte Paris den deutschen Siegern in die Hände fiel, verschaffte den allermeisten Soldaten, die hierherkamen, das erste authentische Erlebnis einer Stadt, für die sie in ihrer eigenen Lebenswelt weder nach Größe, Pracht oder urbanistischem Zuschnitt einen Vergleich hatten. Das hätte, so möchte man meinen, die Chance für eine Fülle fruchtbarer kognitiver Dissonanzen sein können, die sich aber, wie die von Bernd Wegner akribisch ausgewerteten Briefe und Tagebücher von Wehrmachtsangehörigen über ihre Pariserlebnisse zeigen, kaum je einstellten. Das vereitelten zum einen, und dies völlig unabhängig vom jeweiligen Bildungsgrad, die eingelebten Vorurteile, die durch das Bewusstsein, sich als Sieger in einer ungewohnten Szenerie zu bewegen, verstärkt wurden. Dieses Bewusstsein wurde durch den Uniformzwang verstetigt, der es den deutschen Soldaten und anderen Wehrmachtsangehörigen zur Pflicht machte, sich in der Öffentlichkeit ausschließlich in Uniform zu zeigen, die sie sofort als Repräsentanten der feindlichen Besatzungsmacht auswies.
Dass in den Augen der Pariser die deutsche Uniform eine Stigmatisierung ihres Trägers darstellte, wird die allermeisten keineswegs verstört haben, weil sie ihnen in fremder, wenn nicht gar als feindlich erlebter Umwelt Respekt sicherte. Manch einem verschaffte das sogar subtile Befriedigung wie etwa dem Hauptmann Ernst Jünger, der im »Pariser Tagebuch« notiert, dass er sich im Mai 1941 an der Bastille »am Tage der Jungfrau von Orléans unter einer Masse von Tausenden allein in Uniform« sah. »Trotzdem bereitete es mir ein gewisses Vergnügen, mich dort zu ergehen und zu meditieren, ähnlich wie man mit brennender Kerze träumend durch ein Pulvermagazin spaziert.«
Ein weiterer Grund dafür, warum sich Besatzer und Besetzte in den über vier Jahren der deutschen Okkupation wechselseitig meist fremd gegenüberstanden, war die zumeist fehlende Empathie der einen für die anderen. Ursache dafür waren nicht nur das Überlegenheitsempfinden der Sieger, sondern auch mangelnde Sprachkenntnisse, Fraternisierungsverbote der Wehrmachtsführung sowie weitere Subtilitäten wie etwa der für deutsche Soldaten extrem günstige räuberische Wechselkurs zwischen Reichsmark und Franc, den der Sieger auf das Verhältnis von 1 zu 20 festgelegt hatte.
Das machte Paris zumal in der ersten Zeit der Besatzung, als die den Besatzern allenfalls vom Hörensagen bekannten »articles de Paris« und sonstige Luxuswaren noch in Hülle und Fülle angeboten wurden, zu einem wahren Schnäppchenmarkt. Schließlich trug die Wehrmachtsverwaltung auch umfassend Sorge dafür, die Kontakte zwischen deutschen Soldaten und Einheimischen möglichst einzuschränken. Wehrmachtsangehörige etwa hatten freie Fahrt in der 1. Klasse der Metro. Neben dem deutschen »Soldatenheim« auf den Champs-Elysées befand sich eines der größten Kinos der Stadt, das wie weitere Lichtspiele als »Deutsches Soldatenkino« requiriert war, in dem täglich in drei Vorführungen bei freiem Eintritt deutsche Filme gezeigt wurden.
Die Wehrmacht beschlagnahmte außerdem drei der großen zentral gelegenen Pariser Theater, in denen deutsche Inszenierungen ebenfalls kostenlos zu sehen waren. In »deutschen« Restaurants, deren Besuch nur den Besatzern gestattet war, wurde zu niedrigen Preisen vertraute Hausmannskost serviert. Ebenso gab es »deutsche« Cafés wie etwa das Soldatenkaffee [sic!] »Madeleine« in der Rue du Faubourg Saint-Honoré und auch eine Reihe von Bordellen, die nach Dienstgraden gestaffelt frequentiert werden konnten.
Dank dieser Rundumversorgung blieb die Masse der Besatzer in ihrer Wahrnehmung von Paris auf fremdartig anmutende Kulissen und auf die zufällige Begegnung mit Einheimischen beschränkt, die oft mit Missfallen betrachtet wurden. »Direkt widerlich«, fände er, so zitiert Bernd Wegner aus dem Brief eines gerade 30-jährigen Soldaten, »den Anblick von uralten Frauen, die sich noch immer die Lippen schminken. Ich sah gestern so eine Mumie und noch dazu lief sie in Hosen herum!« Angesichts solcher als Zumutung empfundenen Begegnungen bot jene fürsorgliche Fülle vertrauter Einrichtungen und Unterhaltungsangebote nur zu willkommenen Halt und Orientierung.
Allein Offiziere und höhere Chargen des Naziapparats, vor allem wenn sie Französisch sprachen, konnten mit dem eigentlichen Pariser Leben in Kontakt treten, das trotz Zensur, Repression und den mit der Zeit immer spürbarer werdenden Versorgungsmängeln nicht nur weiterging, sondern auch eine erstaunliche kulturelle Vitalität und Vielfalt erlebte. »Kaum je«, konstatiert Wegner, »wurden mehr Filme [i. e. rund 220] gedreht, kaum jemals mehr Bücher gedruckt als in jenen Jahren [i. e. der deutschen Besatzung]. Nicht wenige der Bücher wurden zu Klassikern der französischen Literaturgeschichte« (S. 135). Hand in Hand damit behielt auch das gesellschaftliche Leben von Paris seine Reize, das von einigen reichen salonnières in Gang gehalten wurde, auf deren Einladungen französische Künstler und Autoren, mit Repräsentanten der Besatzer verkehrten.
Selbstverständlich, auch das macht Wegners Monografie deutlich, war diese vermeintliche »Normalität« des Pariser Lebens unter der Besatzung nur schöner Schein. Damit suchte das Besatzungsregime eine Wirklichkeit zu verbergen, die allein ihren Methoden nach nicht ganz von dem apokalyptischen Grauen geprägt war, mit dem die Nazis zur nämlichen Zeit in dem von ihnen unterworfenen Osteuropa wüteten. Das in Frankreich verfolgte Ziel war aber dasselbe: die schamlose Ausbeutung einer den Eroberern hilflos ausgelieferten Bevölkerung in einer Manier, die an die dunkelsten Seiten europäischer Kolonialherrschaft erinnert, die den Einheimischen so lange mit repressiver Toleranz begegnete, wie diese die ihnen diktierten Regeln respektierten.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Johannes Willms, Rezension von/compte rendu de: Bernd Wegner, Das deutsche Paris. Der Blick der Besatzer 1940–1944, Paderborn, München, Wien, Zürich (Ferdinand Schöningh) 2019, XII–259 S., s/w Abb., ISBN 978-3-506-78055-3, EUR 39,90., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68661