Seit der ersten Publikation von »La production de l’espace« 1974 erlebte das Werk des französischen Philosophen Henri Lefebvre verschiedene Comebacks. Kaum ein Gesellschaftstheoretiker des 20. Jahrhunderts hat eine solch wechselhafte Rezeptionsgeschichte erlebt. Mehrmals schon wurde der unkonventionelle Denker für tot erklärt und später wiederentdeckt. Der vorliegende Sammelband reiht sich in eine Mehrzahl neuerer Publikationen rund um seine Theorien zu Raum und Stadt ein, die in den letzten fünf Jahren im deutschsprachigen Raum erschienen sind1. Der Band vereint zum einen Beiträge, die darauf abzielen, anhand eines komparativen Ansatzes die Theorien Lefebvres in ihrem spezifischen ideengeschichtlichen Kontext einzuordnen. Zum anderen wird der Versuch unternommen, die Anwendbarkeit der Theorien Lefebvres in Bezug auf Untersuchungsfelder zu prüfen, die bisher wenig mit seinen Ansätzen in Berührung gekommen sind.

Es gehört zu den auf den ersten Blick erstaunlichen Eigenheiten Lefebvres, dass er bereits zeitlebens im Ausland größere Anerkennung gefunden hat als in seinem Heimatland und dort auch heute noch vergleichsweise wenig Beachtung erfährt. Dazu beigetragen hat zweifelsfrei der Umstand, dass die intellektuelle Landschaft in Frankreich ab den 1960er Jahren von den Strukturalisten um Louis Althusser dominiert wurde, zu dessen wichtigsten Gegenspielern Lefebvre mit seiner humanistischen Marx-Auslegung von Anfang an gehörte. Hinzu kommt, dass Lefebvre im Gegensatz zu den meisten strukturalistischen Marxisten nicht an der berühmten École normale supérieure studiert hat und Zeit seines Lebens ein Außenseiter im akademischen Betrieb war.

Vor allem in Deutschland und Jugoslawien stießen insbesondere seine Arbeiten zur Entfremdungstheorie des jungen Marx hingegen durchaus auf Interesse. Bereits in den 1960er Jahren haben Iring Fetscher und Alfred Schmidt auf die Originalität seiner Denkansätze in Bezug auf das Alltagsleben hingewiesen2. Der jugoslawische Philosoph Predrag Vranicki würdigte Lefebvre in der Zeitschrift »Praxis international« gar als den scharfsinnigsten französischen Marxisten seiner Zeit3.

In der angelsächsischen Welt erfuhren insbesondere Lefebvres Thesen zum Raum und zur Stadt durch den Spatial Turn und die Arbeiten von Edward W. Soja einen größeren Bekanntheitsgrad4, deren postmoderne Umdeutung Lefebvres progressiven Denkansätzen jedoch nicht immer gerecht wird. In Deutschland fand, wie Stephan Günzel in seinem Beitrag zutreffend anmerkt, Lefebvres Raumtheorie aufgrund der »völkischen Aufladung« (S. 19) des Raumbegriffes durch die Nationalsozialisten hingegen erst sehr spät Beachtung. Erst kürzlich wurde »Le droit à la ville« (1968) übersetzt, eine deutsche Ausgabe von »La production de l’espace« (1974) soll demnächst herauskommen.

Dementsprechend erscheint der Sammelband zur richtigen Zeit. Die neun Beiträge sind in drei gleichwertige Blöcke gegliedert. Im ersten Teil werden Transferbeziehungen zwischen Lefebvre und zeitgenössischen Denkern in den Blick genommen. Die Autorinnen und Autoren analysieren Querbezüge und Parallelen zu Bachelard, Benjamin und Adorno. Im zweiten Teil machen sie Lefebvres Theorien für die Analyse von Urbanisierungsprozessen in Lateinamerika und insbesondere Brasilien fruchtbar. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Sebastian Dorsch, der ausgehend vom Konzept der Wiederaneignung untersucht, wie Lefebvre das Wechselverhältnis von Raum und Zeit analysiert und dessen Methode am Beispiel des Straßenlebens São Paulos exemplifiziert. Im dritten Teil werden mögliche Schnittmengen zwischen Geographie, Cultural Studies und Literaturwissenschaften erörtert. Zum einen wird Lefebvres Raumtheorie für die Interpretation fiktionaler Texte herangezogen. Zum anderen wird die Frage nach dem Stellenwert der Literatur als »espace vécu« in Lefebvres Raumtriade aufgeworfen.

Die besondere Aufmerksamkeit, die Lefebvre im Zuge des Spatial Turn erfahren hat, hat bisweilen dazu geführt, dass seine Raumtheorie entpolitisiert wurde. Die Stärke des Sammelbandes besteht darin, dass Lefebvres Thesen zum Raum und zur Stadt nicht isoliert aufgegriffen, sondern zu seinem Gesamtwerk in Bezug gesetzt werden. In den verschiedenen Beiträgen wird deutlich, dass Lefebvres Werk erheblich mehr umfasst als seine Theorie der Raumtriade. Seine regressive-progressive Methode, der Alltag, seine Kritik der Technokratie und Kybernetik sowie seine Forschungen zur rythmanalyse sind Themen, die immer wieder auftauchen.

Dabei handelt es sich keineswegs um disparate Einzelthemen. Vielmehr bildet Lefebvres Gesamtwerk durchaus eine Einheit. Die Dialektik und seine Auseinandersetzung mit den marxistischen Konzepten der Praxis, Entfremdung und Totalität bilden den Leitfaden, der sich durch sein gesamtes Werk zieht. Fernand Guelf weist in seinem Beitrag zu Recht darauf hin, dass der Alltag, den Lefebvre anhand der marxistischen Theorie der Entfremdung analysiert, den Ausgangspunkt seiner soziologischen Studien bildet. Immer wieder hat sich Lefebvre aus verschiedenen Perspektiven heraus mit den Mechanismen der Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhältnisse und ihren Auswirkungen auf die »Positionierung auf das Individuum in Raum und Zeit« beschäftigt (S. 40).

In den verschiedenen Beiträgen wird deutlich, dass Lefebvres romantische Technokratie- und Kapitalismuskritik keineswegs reaktionär und rückwärtsgewandt ist. Er war der Überzeugung, dass gewisse vorkapitalistische Restelemente, Residuen, dem Warenfetischismus und der Homogenisierung durch den Kapitalismus widerstehen würden, die den Keim einer anderen, neuen Gesellschaft in sich tragen. Die Liebe als »Moment des nicht zu zügelnden Lebenstriebes«, das »jeder Ordnung widerspenstig« ist, wäre ein Beispiel (S. 47). Mehrere Aufsätze stellen sich der Frage, wie wir die heutige neoliberale Gesellschaft überwinden können.

So wenden sich Jacob Geuder und Lívia Alcântara neuen Formen des Widerstandes gegen den »abstrakten« kapitalistischen Raum in den sozialen Netzwerken zu. In den verschiedenen Beiträgen wird deutlich, dass Lefebvres Studien zum Alltag, zur Stadt, aber auch zu Lebensrhythmen, nicht nur als Analysewerkzeug für historisch gewachsene gesellschaftliche Räume dienen können, sondern auch das Potenzial haben, uns Wege in eine ökologischere und sozialere Postwachstumsgesellschaft aufzuzeigen. Indem der Sammelband auf bisher wenig beachtete Aspekte Lefebvres konkreter Utopie (wie etwa den Stellenwert der Kunst) aufmerksam macht, werden zahlreiche neue Forschungsperspektiven eröffnet.

Besonders hervorzuheben ist die Schwerpunktsetzung auf Südamerika, anhand deren die Autorinnen und Autoren des Bandes den Eurozentrismus Lefebvres (sowie der Kritischen Theorie insgesamt) durchbrechen wollen. In einer Zeit, die von Utopien weitgehend befreit worden ist, kann man nur hoffen, dass der Sammelband zu einer Rennaissance nicht nur Lefebvres, sondern des utopischen Denkens insgesamt beiträgt.

1 Siehe etwa Christoph Laimer, Elke Rauth (Hg.), dérive. Zeitschrift für Stadtforschung 60/2015. Sonderausgabe: Henri Lefebvre und das Recht auf Stadt. 15 Jahre dérive.
2 Siehe Iring Fetscher, Der Marxismus im Spiegel der französischen Philosophie, in: Marxismusstudien, 1 (1954), S. 173–213; Henri Lefebvre, Probleme des Marxismus, heute, mit einem Nachwort von Alfred Schmidt, Frankfurt a. M. 1965, S. 135.
3 Vgl. Predrag Vranicki, Henri Lefebvre: Critique de la vie quotidienne, II, in: Praxis. Édition internationale 1 (1965), 2/3, S. 388–392, hier S. 388.
4 Siehe Edward W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Space in Critical Social Theory, London, New York 1989.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Sebastian Jutisz, Rezension von/compte rendu de: Jenny Bauer, Robert Fischer (ed.), Perspectives on Henri Lefebvre. Theory, Practices and (Re)readings, Berlin (De Gruyter Oldenbourg) 2018, XVI–232 S. (SpatioTemporality/RaumZeitlichkeit, 4), ISBN 978-3-11-049469-3, EUR 69,95., in: Francia-Recensio 2019/4, 19./20. Jahrhundert – Histoire contemporaine, DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2019.4.68694