Philippe de Mézières (1327–1405) zog sich nach einem aktiven Leben um 1380 in den Coelestinerkonvent zu Paris zurück. Der »Solitaire des Célestins«, wie er sich selbst nannte, widmete sich hier weiterhin und sehr intensiv seiner schriftstellerischen Tätigkeit, um auf diese Weise noch für seine Pläne zu wirken und seine Ideen und Ideale festzuhalten.

Zu den in dieser Zeit, nämlich 1389/1390, entstandenen Werken gehört die »Oratio tragedica seu declamatoria Passionis Domini nostri Jhesu Christi«. Die »Oratio« ist nur in einer Handschrift, Paris, Bibliothèque Mazarine, ms. 1651 überliefert. Sie ist also kaum bekannt und rezipiert (vgl. »Introduction«, S. IX und besonders Anm. 4). Nun wird sie erstmals ediert und mit paralleler französischer Übersetzung und einem ausführlichen Quellenapparat vorgelegt.

Das umfangreiche Werk besteht aus einem Prolog und fünf Teilen, die ihrerseits in Kapitel gegliedert sind. Allerdings ist es unvollendet geblieben: Ein sechster Teil scheint nicht mehr ausgeführt worden zu sein, was der ausführlichen Inhaltsangabe der Kapitel zu entnehmen ist. – Die beiden französisch abgefassten Werke »Le Livre de la Vertu du Sacrement de Mariage« und »Le Songe du Viel Pelerin« sehen die Editoren mit der lateinischen »Oratio« als Trilogie.

Die Einleitung der Editoren gibt in 14 Abschnitten eine Handreichung zur Lektüre. Im ersten Abschnitt, »Présentation et objet de l’Oratio tragedica« (S. IX–XII), wird das Anliegen der »Oratio« im Umfeld der anderen Schriften entwickelt. Hinter allem steht der neue Ritterorden vom Leiden Christi, die Herzensangelegenheit des Philippe bis zu seinem Tod. In der »Oratio« geht es um die Betrachtung des Leidens Christi, um persönliche Schuld, Sühne und Erneuerung. Im vierten Teil geht Philippe explizit auf den Mord an Pierre de Lusignan und die Konsequenzen für den Kreuzzug ein, sodass diese Kapitel eine konkrete historisch-biographische Quelle darstellen.

Zu den wichtigsten Quellen (»Sources de l’Oratio tragedica«, S. XII–XIV) zählen außer der Bibel die Kirchenväter mit Augustinus und Gregor dem Großen, ferner Bernhard von Clairvaux und Wilhelm von Auvergne (1180–1249) mit seiner »Rhetorica divina«. Am Beispiel der Typologie der Königin Esther für Maria als Fürbitterin der Christenheit (S. XIII, Anm. 13) wird erklärt, wie Philippe vorgeht.

Diese Folien (»Des références en trompe l’œil?«; S. XIV–XVI) helfen nun, die persönlichen Mitteilungen und das Anliegen des Autors im rechten Zusammenhang zu sehen, des Autors, der sein Werk »Oratio« betitelt und sich selbst als »orator« apostrophiert (»Une rhétorique puissante«, S. XVI). Im beginnenden Humanismus (»par l’avènement du premier humanisme«) kann man natürlich an die öffentliche Rede denken, zugleich schwingt aber stark der christliche Sinn von »Gebet« und »Beter« mit. Nicht von ungefähr beschäftigt sich eine der Hauptquellen, die »Rhetorica divina« des Wilhelm von Auvergne (»Guillaume d’Auvergne«, S. XVI–XVII) mit dem Gebet: »Ce texte essentiel consacré à l’oraison se caractérise par sa répartition entre rhétorique antique et allégorie chrétienne.«

Wie Wilhelm sich auf Ciceros »De inventione« stützt (»Retour à Cicéron«, S. XVIII), so bedient sich auch Philippe bei Cicero. Im Vergleich mit Jean Gerson und dem Coelestiner Pierre Poquet – der auch Philippes Beichtvater war – mit seinem »Orationarium in vita Ihesu Christi« zeigt sich einmal mehr, in welchem Maß es sich bei der »Oratio tragedica« um einen »texte unique« handelt.

Keine Allegorie, sondern der biblische »Rufer in der Wüste« (»Figure de projection: saint Jean-Baptiste«, S. XIX–XX) ist es, der im zweiten und dritten Kapitel als Mahner auftritt. Bei aller Demut geht es Philippe freilich immer um die Schreibkunst: »S’il y a effectivement matière à prier, il apparaît que l’›Oratio‹, dont la proximité avec ›L’Horloge de la Sagesse‹ de Henri Suso (1333–1337) saute aux yeux, est peut-être l’un des premiers livres de la ›Devotio moderna‹« (S. XX). Unter solchen Prämissen (»Poétique de Mézières«, S. XXI) ergibt sich ein neues Urteil über seinen schriftstellerischen Rang.

Die Betrachtung eines Bildes der Leidenswerkzeuge (»Arma Christi et autres symboles«, S. XXI–XXIV) nimmt Philippe zum Ausgangpunkt für seinen »commentaire figuratif«, »moralisando«, wie er es nennt (S. XXII). Eine Darstellung der arma Christi aus einem zeitgenössischen Stundenbuch ziert übrigens den Einband. Die Editoren kommen auf das Vorbild und den direkten Einfluss des Dominikaners Heinrich Seuse zurück, des großen deutschen Mystikers. Das »Horologium« ist sein einziges lateinisches Werk, weit verbreitet und früh in Volkssprachen übersetzt.

Philippe hat aber auch seinen ganz eigenen Fundus, etwa das Bild des Diamanten, die Vierzahl, die Hierarchie. Dazu gehören auch kleine Gebilde in Vogelform aus einer nach Moschus duftenden Masse (»Les oiselets de Chypre«, S. XXIV–XXV), die in einem Exkurs über »Christus als Apotheker« vieles versinnbildlichen können.

Im folgenden Abschnitt (»Mézières, alchimiste du verbe«, S. XXV–XXVIII) schlagen die Editoren einen so kühnen wie plausiblen Bogen von den Erfahrungen und Kenntnissen des Philippe auf dem Gebiet von Medizin und Alchemie und den Bildern, die er daraus, einzigartig in der Gebetsliteratur (S. XXVI), benützt, zu seiner schriftstellerischen Praxis (»Avec Mézières, l’alchimie et l’art de la distillation, la médecine sont utilisés comme pratiques littéraires«, S. XXVII) und zu seiner kompilatorischen Technik.

Nicht nur oratio im Titel ist zu erklären, sondern auch tragedica (»Le retour du tragique«, S. XXVIII–XXX). Philippe verwendet das Wort häufig (S. XXIX), für ihn ist »Tragödie« soviel wie Klage (complainte, lamentation). Für Ludolph von Sachsen, dessen Texte Philippe heranzieht, ist die Passion ein »récit tragique«. Gregor von Nazianz wird eine Tragödie über das Leiden Christi zugeschrieben, in der die Schmerzen Mariens im Mittelpunkt stehen: »Or c’est bien là qu’il faut revenir, à l’inspiration profonde de l’Oratio« (S. XXX).

Im fünften Teil der »Oratio« wird das Bild des psalterion erneut aufgegriffen (»Les modulations du désir«, S. XXX–XXXIII): die oratio tragedica ist wie eine postulacio declamatoria, deren Wohlklang wie jener der cythara humilitatis in den Ohren des Herrn erklingen möge (S. XXXI). Nochmals legen die Editoren ihren Nachdruck, vor dem Hintergrund der mittelalterlichen artes orandi, darauf, in welchem Grad persönlich, selbstbewusst und zugleich geistlich tief die »Oratio« und wie wesentlich dabei der Aspekt der Buße ist (S. XXXII).

Mit einigen Versen Antonio Machados beschließen die Editoren ihre so konzentrierte wie feinsinnige Einführung und öffnen damit eine große Perspektive.

Einige konkrete Beobachtungen finden Platz im letzten Abschnitt (»Le manuscrit et critères d’édition et de traduction«, S. XXXIII–XXXV). Philippes Sprache wird als dem patristischen Latein nahe beschrieben, wobei ihm hier die wenigen Sätze nicht wirklich gerecht werden, und als »prose rythmée« charakterisiert.

Die sprachlichen Fehler und Versehen sind darauf zurückzuführen, dass Philippe wahrscheinlich diktiert hat (»style oral«, S. XXXIV). Es gibt jedoch eine autographe Partie am Anfang des vierten Teiles und autographe Korrekturen.

Zuletzt wird kurz die Handschrift beschrieben (S. XXXV), einige Formalien bei der Gestaltung der Edition werden erklärt.

Die Bibliographie (S. XXXVI–XXXIX) – gedruckte und ungedruckte Werke des Philippe de Mézières, andere Quellen, »Textes et études critiques, biographie« – ist selektiv und ergänzt die umfassende Bibliographie in der Ausgabe des »Songe du Viel Pelerin« von 2015.

Vor der Edition stehen zwei Seiten aus der Handschrift, die auch autographe Teile enthalten. Leider sind die Reproduktionen nur von mäßiger Qualität und unscharf.

Es folgt der Hauptteil, die Edition von 272 Seiten lateinischen Textes, eingeteilt in Prolog, Rubricae, also Kapitelzusammenfassungen, und den eigentlichen Text mit vollständiger und sehr schöner französischer Übersetzung. Auf den lateinischen Textseiten sind textkritische Angaben vermerkt, auf den französischen sachliche Anmerkungen sowie Quellenangaben. Auf S. 335 (180v) ist »archinis« als archivis zu lesen.

Die Indices mit Bibelstellen und Autoren lassen zugleich den weiten literarischen Horizont des Philippe und seine Vertrautheit mit der Bibel erkennen. Der »Index général« verzeichnet Personennamen in Großbuchstaben und Ortsnamen.

Wenngleich dieser kostbare Text des Philippe zu seiner Zeit kaum Verbreitung gefunden hat, ist er an sich eine bedeutende Quelle für vielerlei Untersuchungen, eine weitere Grundlage, um seine Person mehr zu verstehen, sein Wirken in seiner Zeit in einem vollständigeren Bild zu sehen, ja die Zeit selbst aus diesem Blickwinkel wahrzunehmen, bis hin zu den Detailfragen literarischer Intertextualität, zu Vokabular und Stilistik.

Philippe de Mézières wird zu Recht als Vertreter einer neuen, persönlichen Frömmigkeit gesehen, die sich in besonderer Weise dem Leiden Christi zuwendet. Die arma Christi dienen der Betrachtung des Leidens. Um 1350 beginnen die Darstellungen Mariens mit ihrem toten Sohn auf dem Schoß, von denen gegen Ende des 14. Jahrhunderts mehrere Beispiele überliefert sind1. Auch in solchen Zusammenhängen hat das Zeugnis des Philippe Gewicht.

In dieser soliden Edition ist das Werk nun zugänglich – der gebührenden Aufmerksamkeit steht nichts mehr im Wege: »On ne saurait considérer – c’est évident – que toute la fin du Moyen Âge se concentre dans cette oraison tragique, pourtant on croit y déceler l’image saisissante d’une période en plein mouvement« (S. XX).

In dem Band »Philippe de Mézières, Rhétorique et poétique«2, der demnächst hier vorgestellt werden soll, geben die beiden Editoren bereits eine zusammenfassende Interpretation der »Oratio tragedica«: »L’›apothicairerie‹ de Philippe de Mézières, creuset d’une poétique nouvelle?« (S. 292–307).

1 Vgl. den Katalog: Vesperbild. Alle origini della Pietà di Michelangelo a cura di Antonio Mazzotta e Claudio Salsi con la collaborazione di Agostino Allegri e Giovanna Mori, Mailand 2018.
2 Joël Blanchard (éd.), avec la collaboration de Renate Blumenfeld-Kosinski et Antoine Calvet »Philippe de Mézières, Rhétorique et poétique«, Genève 2018 (Cahiers d’humanisme et Renaissance, 157).

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Mechthild Pörnbacher, Rezension von/compte rendu de: Philippe de Mézières, Oratio tragedica. Édition critique, traduction, notes et index par Joël Blanchard et Antoine Calvet, Genève (Librairie Droz) 2019, XLII–561 p., 2 ill. (Cahiers d’humanisme et Renaissance, 156), ISBN 978-2-600-05947-3, EUR 51,70., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71414