Wer sich mit mittelalterlichen Handschriften befasst, dem ist das Pariser Institut de recherche et d’histoire des textes, kurz IRHT genannt, ein Begriff. Mit seiner Sammlung von 76 000 Mikrofilmen und seiner umfangreichen Bibliothek bildet es die Anlaufstelle für Mediävisten aus der ganzen Welt. Die an ihm tätigen Forscherinnen und Forscher, allesamt international anerkannte Spezialisten, sind gesuchte und stets hilfsbereite Gesprächspartner. Kurzum: Das IRHT ist eine Einrichtung, um die wir die französische Mediävistik nur beneiden können. Bislang in der Avenue d’Iéna, nicht weit vom Trocadéro entfernt, beheimatet, zog es im vergangenen Herbst in die nördliche Banlieue, auf den neuen Campus Condorcet in Aubervilliers. Im Frühjahr 1937 gegründet, feierte es 2017 seinen 80. Geburtstag. Aus diesem Anlass veranstaltete es ein Jahr später gemeinsam mit der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres ein Kolloquium, dessen Akten bereits jetzt gedruckt vorliegen.

François Bougard, Michel Zink, »Avant-propos« (S. 7f.), gehen kurz auf die Gründung des IRHT durch Félix Grat ein. Das von ihm formulierte Ziel, »la transmission écrite de la pensée humaine« zu verfolgen, bildet auch heute noch die Kernaufgabe des Instituts. – François-Joseph Ruggiu, »Introduction« (S. 8–12), sieht das Erfolgsgeheimnis des IRHT darin, dass es sich aktuellen Fragestellungen nie verschloss, ohne seine drei Hauptaufgaben aus dem Auge zu verlieren: die handschriftliche Überlieferung antiker und mittelalterlicher Texte zu erfassen, ihren Inhalt zu erschließen und das gesammelte Material wie auch die Ergebnisse der eigenen Forschungen der gelehrten Welt zur Verfügung zu stellen. In diesem Zusammenhang spielen die Digital Humanities eine wichtige Rolle. Standen anfangs die lateinischen Handschriften im Zentrum des Interesses, so kamen bald auch die griechischen und arabischen hinzu, sodass das IRHT heute über 13 Sektionen verfügt: Arabe, Codicologie, Histoire des bibliothèques et héraldique, Diplomatique, Grecque et Orient chrétien, Hébraïque, Humanisme, Latine, Lexicographie latine, Manuscrits enluminés, Paléographie latine, Papyrologie, Romane, Sciences du Quadrivium.

Dominique Poirel, »L’histoire manuscrite des textes« (S. 13–23), stellt die für eine kritische Edition maßgeblichen Schritte vor: neben die Erfassung der handschriftlichen Überlieferung und das Erstellen eines Stemmas tritt die inhaltliche Erschließung des Textes. Der Editor einer historischen Quelle muss immer auch Historiker sein. Denn edieren kann nur, wer den Text versteht. Die digitale Edition ersetzt nicht die gedruckte, im Idealfall treten beide nebeneinander. Die eine gibt ihrem Benutzer die Möglichkeit, die gesamte Überlieferung selbst in Augenschein zu nehmen und zu vergleichen; die andere bietet das wohlüberlegte Ergebnis einer geduldigen Editionsarbeit, »l’intime et ultime conviction, synthétique et argumentée, de celui qui a pris le temps d’examiner toutes les pièces, avant de les agencer dans une même histoire« (S. 21).

Jérémy Delmulle, »L’IRHT et l’histoire des bibliothèques des Mauristes au numérique« (S. 25–49), stellt eine Reihe von Projekten der Section de codicologie, histoire des bibliothèques et héraldique vor, die sich zum Ziel gesetzt haben, ausgehend von Inventaren des Frühmittelalters bis ins 18. Jahrhundert, mittelalterliche Bibliotheken zu rekonstruieren. Das seit 1943 gesammelte Material ist inzwischen digital auf der Seite »THECAE. Corpus d’inventaires anciens de livres manuscrits et imprimés« zugänglich. Virtuelle Bibliotheken gibt es für Clairvaux, Saint-Bertin und den Mont Saint-Michel. Diejenige für die Abtei Saint-Martin im normannischen Sées ist in Vorbereitung.

Christian Müller, »La fabrique de la charia en Islam: actes notariés et épistémologie juridique à l’épreuve de l’histoire« (S. 51–62), verfolgt den Bedeutungswandel des Begriffs »Scharia« vom 7. Jahrhundert bis in die Gegenwart und stützt sich dabei u. a. auf die in der Datenbank »CALD (Corpus of Arabic Legal Documents)« erfassten Texte. Er führt aus, dass die Scharia erst an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert angesichts der politischen und wirtschaftlichen Dominanz des Westens zu einem identitätsstiftenden Element der vom Islam geprägten Länder wurde. Die Vorstellung, sie lasse sich in ihrer juristischen Bedeutung auf den Koran zurückführen, vermag er zu widerlegen. Wenn im Koran von der Scharia die Rede ist, dann bezeichnet sie den Weg, den Gott dem Propheten vorgegeben hat. Erst seit dem 10. Jahrhundert versteht man unter ihr das göttliche Gesetz, bis sie schließlich im 13. Jahrhundert ein Regelwerk muslimischer Juristen bildet. Die im vergangenen Jahrhundert formulierte Idee, die Scharia beruhe auf dem Koran, ist falsch. Gleichwohl bedienen sich Fundamentalisten des Begriffs als Synonym für das im Koran verankerte ewige Gesetz.

Marie-Laure Savoye, »Retour au Vatican« (S. 63–73), behandelt das seit 2011 vom IRHT gemeinsam mit der École française de Rome und der Vatikanischen Bibliothek betriebene Projekt, die französischen und okzitanischen Handschriften der Vaticana zu verzeichnen. Es folgt auf die Erschließung der lateinischen Manuskripte, die 2010 abgeschlossen wurde1. Erste Ergebnisse sind bereits in der Datenbank »Jonas. Répertoire des textes et des manuscrits d’oc et d’oïl« abzurufen. Der wichtigste Bestand der einschlägigen Handschriften stammt aus der Palatina, die 1623 nach Rom gelangte. Sie gehörten wahrscheinlich Margarethe von Savoyen († 1479), die sie in ihre Ehe mit Kurfürst Ludwig IV. von der Pfalz einbrachte. Auf die Digitalisierung der Palatina durch die Universitätsbibliothek Heidelberg weist der Aufsatz leider nicht hin2.

Bruno Bon, »Histoire et perspectives du ›Novum Glossarium Mediae Latinitatis‹« (S. 75–91), stellt zunächst den 1678 in erster Auflage erschienenen »Du Cange« vor, der trotz seiner überwältigenden Materialfülle erstaunliche Lücken aufweist, und geht anschließend auf das »Novum Glossarium Mediae Latinitatis« ein. Es wurde nach dem Ersten Weltkrieg als Projekt der Union académique internationale (UAI) begründet und in Paris bei der Académie des Inscriptions et Belles-Lettres angesiedelt. Gedacht als Pendant zum »Thesaurus linguae Latinae«, sollten die Mitgliedsakademien der UAI zu seiner Bearbeitung das in ihren Ländern erschlossene Material liefern. Da das »Novum Glossarium« sich auf die Zeit von 780 bis 1220 und edierte Texte beschränkte, wurden parallel zahlreiche nationale Unternehmen ins Leben gerufen. Zu ihnen zählt auch das »Mittellateinische Wörterbuch«. Inzwischen bieten die Neuen Medien die Möglichkeit, die Ergebnisse der nationalen Projekte zusammenzuführen. Dies ist das Ziel von VELUM (Visualisation, exploration et liaison de ressources innovantes pour le latin médiéval), das von der Section de lexicographie latine des IRHT getragen wird. Auf der Basis von 100 Millionen lateinischen Wörtern vom ausgehenden 8. bis zum frühen 13. Jahrhundert soll es der Analyse mittellateinischer Texte neue Wege eröffnen.

Michel Zink, »Allocution dʼaccueil« (S. 93–97), unterstreicht die Bedeutung der im IRHT gepflegten Historischen Grundwissenschaften. Den Erfolg des Instituts sieht er auch in seiner Aufgeschlossenheit auswärtigen Forschern gegenüber begründet und konstatiert: »Il doit rester ce havre des chercheurs français et étrangers qui s’y sentent accueillis et guidés, qui y apprennent tout simplement en étant là« (S. 95).

François Bougard, »L’Institut de recherche et d’histoire des textes: quatre-vingts ans de documentation et de recherche« (S. 99–137), zeichnet die Entwicklung des IRHT und seiner Arbeitsmethoden bis zur Gegenwart nach. Félix Grat war nicht nur Forscher, sondern auch Abgeordneter der Nationalversammlung, wo er der Fraktion der Fédération républicaine, der gemäßigten Rechten, angehörte. Gleichwohl wusste er den Reformeifer der Volksfrontregierung aus Sozialisten und Kommunisten (Front populaire) zu nutzen und die Gründung des IRHT zu erreichen. Dass dessen Forschungsthemen durchaus im Trend der Zeit lagen, erhellt der Hinweis auf die im selben Jahr, 1937, in Paris organisierte Weltausstellung. Eine ihrer Sektionen war dem Thema »Le manuscrit« gewidmet und lag in den Händen von Jean Babelon, der gerade zum Leiter des Cabinet des médailles der Bibliothèque nationale ernannt worden war. Schon in seinen Anfängen machte sich das Institut die Errungenschaften der Technik zunutze. War es über Jahrzehnte die Fotografie, so sind es heute die Neuen Medien. Von den zahlreichen Online-Portalen, die es pflegt, sei nur auf die Bibliothèque virtuelle des manuscrits médiévaux verwiesen, die Zugriff auf digitalisierte Handschriften und Inkunabeln bietet, die in Frankreich (mit Ausnahme der BnF) aufbewahrt werden. Das IRHT erfasst nicht nur Texte, es erschließt und ediert sie auch. Neben die Forschung tritt die Vermittlung, die in zahlreichen Seminaren und Sommerschulen ihren Ausdruck findet. Waren in den 1980er Jahren 120 Forscherinnen und Forscher am IRHT beschäftigt, so sind es heute immerhin noch knapp 60. Der Rückgang ist bedauerlich, aber wenn François Bougard die (rhetorische) Frage stellt: »Quel pays a pu maintenir une structure de ce genre, sur financement public, pendant tant d’années?« (S. 123), dann kann man nur erwidern: Felix Gallia.

Carmela Vircillo Franklin, »L’IRHT et la communauté académique d’Amérique du Nord« (S. 139–145), betont das hohe Ansehen, das das Institut in Nordamerika genießt. Er stellt Projekte vor, die in den USA betrieben werden und thematisch denen des IRHT verwandt sind (Codices Latini Antiquiores, Hill Monastic Manuscript Library, Digital Scriptorium). Sie werden aber nicht vom Staat, sondern von privater Seite finanziert.

Der Tagungsband bietet einen hervorragenden Einblick in Geschichte, Struktur und aktuelle Forschungsfelder des IRHT. Die zahlreichen, S. 127–133 aufgelisteten Internetressourcen, die wir ihm verdanken, zeigen, dass Digital Humanities mehr sind als Facebook, Twitter und Blogs. Auch an seinem neuen Standort in Aubervilliers wird das IRHT eine zentrale Stätte wissenschaftlichen Austausches sein. Die nächstgelegene Metrostation trägt den Namen »Front populaire«: Der Kreis hat sich geschlossen!

1 Élisabeth Pellegrin u. a., Manuscrits classiques latins de la Bibliothèque Vaticane, 5 vol., Paris 1975–2010.
2 Maria Effinger, Karin Zimmermann, Bibliotheca Palatina – digital. La reconstitution virtuelle d’une bibliothèque célèbre, in: Francia 42 (2015), S. 291–306.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Rolf Große, Rezension von/compte rendu de: François Bougard, Michel Zink (dir.), 80 ans de l’Institut de recherche et d’histoire des textes. Actes du colloque organisé par l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres et l’Institut de recherche et d’histoire des textes (CNRS-IRHT) à l’Académie des Inscriptions et Belles-Lettres, le 4 mai 2018, Paris (Académie des Inscriptions et Belles-Lettres) 2019, 150 p., nombr. ill. (Actes de colloque), ISBN 978-2-87754-386-6, EUR 15,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71415