Als Ergebnis einer Tagung in Paris 2014 haben Dominique Demartini, Sumi Shimahara und Christiane Veyrard-Cosme den Sammelband »La lettre-miroir dans l’Occident latin et vernaculaire du Ve au XVe s.« herausgegeben. Der Band bietet 21 Beiträge, einer davon auf Englisch, der Rest auf Französisch. Der Titel des Bandes erschließt sich der deutschen Leserschaft nicht unmittelbar und lässt sich auch nur schwer ins Deutsche übertragen.

Das Thema erläutern der Herausgeber und die Herausgeberinnen jedoch ausführlich in der Einleitung. Es geht um alle denkbaren Zusammenhänge von Brief und Spiegel im europäischen Mittelalter, darüber hinaus werden aber auch allgemeinere Aspekte der Erforschung des Briefs im Mittelalter thematisiert, wie Fragen nach Überlieferung, Sprache, Genres, Inhalten, Typologien, Brief als literarisches Mittel etc. Dies verweist auch schon darauf, dass das Projekt interdisziplinär angelegt ist. Beteiligt sind neben der Geschichtsforschung auch die Sprach- und Literaturwissenschaft. Dies ist eine große Stärke des Bandes, der sich im Bereich des Mittellateins sowie des Altfranzösischen und weiterer romanischer Sprachen bewegt. Geografisch reichen die Beiträge vom spätantiken Nordafrika über das merowingische und karolingische Frankenreich, Kroatien, Italien, Portugal und Südspanien im Hoch- und Spätmittelalter bis zum spätmittelalterlichen Frankreich. Das Thema ist vor allem in der deutschsprachigen Geschichtsforschung nahezu unerforscht, sodass dem Band eine Rezeption in Deutschland durchaus zu wünschen ist.

Der Herausgeber und die Herausgeberinnen haben das Buch in fünf thematische Kapitel untergliedert. Die ersten drei Beiträge von Vincent Zarini, Bruno Dumézil und Marialuisa Bottazzi gehören zum Themenblock »La lettre au miroir de la Bible«. Wie bei den meisten Beiträgen des Bandes passt die Überschrift allerdings nur grob zum Inhalt der Aufsätze. In allen drei Beiträgen geht es vielmehr allgemein um die Frage, was Brief und Spiegel miteinander verbindet. Vincent Zarini untersucht »Spiegel-Spiele« in Briefen des Ferrandus von Karthago (6. Jh.). Bruno Dumézil zeigt, wie Briefe in der Merowingerzeit als Fürstenspiegel gedient haben könnten. Marialuisa Bottazzi interpretiert die Briefe des Bernhard von Clairvaux an Melisende als moralischen Spiegel.

Der zweite Themenblock ist überschrieben mit »La lettre, miroir de soi et de l’autre«, wobei im ersten Beitrag von Jordi Pià-Comella gleich der Begriff des Seelenspiegels im Zentrum steht und nach Einflüssen vor allem von Seneca auf hochmittelalterliche Briefeschreiber gefragt wird. Der Fokus des Beitrags von Luciana Furbetta liegt auf Briefen als Mittel der Selbsterkenntnis, der Konstruktion eines Selbstbildes und der Übermittlung der eigenen Subjektivität an den Empfänger am Beispiel der Briefe von Sidonius Apollinaris. Im Aufsatz von Fanny Oudin geht es um die Übertragung von sprachwissenschaftlichen Theoremen auf den mittelalterlichen Brief, vor allem hinsichtlich der Bedeutung des Oralen für den Brief. Sehr überzeugend, wenn auch bisweilen für die deutsche Nichtsprachwissenschaftlerin etwas arg theoretisch, werden Briefe nicht als Reproduktion des gesprochenen Wortes, sondern als eine Sichtbarmachung, eben wie bei einem Spiegel, interpretiert. Im Beitrag von Benoît Grévin werden am Beispiel der italienischen artes dictaminis Anthropomorphisierungen von Briefen untersucht. Dagegen fragt Christopher Lucken nach dem Briefcharakter bestimmter Dialoge im altfranzösischen Prosawerk »Bestiaire d’amour« von Richard de Fournival (13. Jh.).

Der dritte Themenblock steht unter der Überschrift »La lettre, miroir au monde«. Michael I. Allen untersucht, wie sich die Persönlichkeiten und der intellektuelle Hintergrund von Lupus von Ferrières und Einhard in der Briefsammlung von Lupus widerspiegeln. Folgendes ist typisch für den Band: Allen betrachtet zunächst ausführlich die Genese der Sammlung und deren Überlieferung und bietet am Ende seines Beitrags eine Neuedition mit englischer Übersetzung von Einhards Werk »De adoranda cruce« (weitere Editionen finden sich im Anhang der Beiträge von Vincent Zarini, Marialuisa Bottazzi und Stéphane Gioanni). Letzterer untersucht den wenig rezipierten Brief des kroatischen Königs Zvonimir an den Legaten Papst Gregors VII. Gebizo von 1075. Der Brief spiegele ein politisches Ideal wider, nämlich die gregorianische Reform, welches es im Herrschaftsgebiet des Königs noch aufzubauen gilt.

Paolo Cammarosano betrachtet Briefe zwischen Eltern und Kindern in den hochmittelalterlichen artes dictandi und darüber hinaus. Eine breitere Überlieferung auch volkssprachlicher Briefe dieser Art kann er erst ab dem 15. Jahrhundert feststellen. Diese Briefe spiegeln dann aber sehr plastisch die Familie und ihre Bestrebungen wider, wie er beispielhaft an einer Florentiner Familie aus der Mitte des 15. Jahrhunderts zeigen kann. Jacques Paviot verweist in seinem Beitrag darauf, inwiefern zwei Briefe, welche zwischen den Brüdern Eduard und Peter, beides Königssöhne aus Portugal am Anfang des 15. Jahrhunderts, ein Fenster öffnen mit Blick auf den damaligen Zustand des Staates, aber auch auf die Einsichten der Brüder und ihre gegenseitigen Ratschläge.

Ludmilla Evdokimova zeigt in ihrem Beitrag, dass der Begriff »Spiegel« in der französischen Literatur, vor allem in der Lyrik, des 14. Jahrhunderts höchst bedeutsam war. Spiegelliteratur diente als moralische Erkenntnishilfe, eingebettet in literarische Werke. In seinem Beitrag argumentiert Mikaël Ribreau, dass man, was in der bisherigen Forschung noch nicht gemacht wurde, viele Elemente in den Briefen des Hieronymus als Spiegel interpretieren kann, da sehr viele Ratschläge enthalten sind, Vorbilder beschrieben werden, Briefe sich zudem ineinander spiegeln. Hier scheint der Spiegelbegriff allerdings etwas zu allgemein aufgefasst worden zu sein, sodass ein zusätzlicher Erkenntniswert kaum ersichtlich wird.

Auch in den beiden folgenden Beiträgen wird der Spiegelbegriff entweder nur sehr generalisierend in die Interpretation einbezogen oder wie beim Beitrag von Andrea Valentini gar nicht angeführt. Zwar analysiert Mikaël Cousin richtig, dass die im 9. Jahrhundert zu beobachtende Krise des Christentums im Andalus nicht aufgrund der Konfrontation mit dem Islam, sondern aufgrund von innerchristlichen theologischen Streitigkeiten hervorgerufen wurde. Dass sich das in den Briefen des Álvaro von Córdoba widerspiegelte, scheint jedoch eine recht banale Feststellung zu sein. Lucia Tabard sucht nach dem Spiegel in einer fiktiven Briefdebatte zwischen den Damen aus Paris, Lyon und Rouen um 1500; dieser sei den Damen vorgehalten worden, damit sie ihr Fehlverhalten erkannten.

Im letzten Themenblock zu »La lettre – miroir poétique« mit den Beiträgen von Elsa Marguin-Hamon, Silvie Lefèvre, Agathe Sultan und Mireille Séguy geht es um die Einbettung von Briefen und die Bedeutung des Spiegels in der Literatur, vor allem der französischen des Hochmittelalters. Besonders die sogenannten »saluts d’amour«, Liebesbriefe in Gedichtform, welche auch auf die artes dictaminis verweisen, werden hier behandelt. Der letzte Beitrag des Bandes von Séguy interpretiert zwar ausführlich die Bedeutung von Briefen im »Roman de Silence«, aber vom Spiegel ist wiederum keine Rede. Eine Aufnahme in den Band bleibt also wie schon beim Aufsatz von Valentini fragwürdig. Abgeschlossen wird der Band durch Indizes zu Bibelzitaten, Personen, Orten und mittelalterlichen Werken sowie eine umfangreiche Bibliografie.

Die größte Stärke des Bandes ist, dass häufig untersuchte Quellen, die allerdings vor allem in der Geschichtswissenschaft oft gleichsam als Steinbruch angesehen werden, vor allem um historische Ereignisse zu rekonstruieren, unter dem Oberthema »Spiegel« nochmal ganz neu gelesen wurden und die Beiträger so neue Perspektiven in der Briefforschung aufzeigen konnten. Allerdings hat sich das Thema als so allgemein erwiesen, dass sowohl die Auswahl als auch die Zusammenstellung der Beiträge bisweilen etwas beliebig wirken und in manchen Beiträgen auch der Mehrwert des Spiegelbegriffs nicht deutlich werden konnte.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Veronika Unger, Rezension von/compte rendu de: Dominique Demartini, Sumi Shimahara, Christiane Veyrard-Cosme (dir.), La lettre-miroir dans l’Occident latin et vernaculaire du Ve au XVe s., Turnhout (Brepols) 2018, 420 p. (Collection des Études augustiniennes. Série Moyen Âge et Temps modernes, 55), ISBN 978-2-85121-296-2, EUR 59,00 ., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71458