Es ist schon merkwürdig: Für keines der großen Konzilien des Spätmittelalters schien in den letzten Jahren eine Gesamtdarstellung so nah wie im Fall des Pisanum. Dieter Girgensohn und Hélenè Millet legten eine Fülle von Einzelstudien vor, doch keiner der beiden goss sie in die Form eines opus magnum, sieht man von einem Aufsatzband der französischen Kollegin ab. Durch Mona Kirsch erfuhr die Synode 2016 eine zwar viele Facetten erfassende Würdigung im Rahmen einer ritualgeschichtlich grundierten Geschichte des allgemeinen Konzils im Spätmittelalter, zu der für sie aber die auf Pisa folgenden und damit eng verbundenen Versammlungen von Konstanz und Basel nicht gehörten1. Und nun erklärt Florian Eßer gleich mehrfach, bei seinem hier anzuzeigenden, immerhin 874-seitigen Werk handele es sich keinesfalls um eine Gesamtdarstellung. Was die Frage aufwirft, wer angesichts einer solch zerklüfteten Landschaft partieller Monumente das finale Wagnis überhaupt noch angehen mag.

Am ehesten wohl Florian Eßer selbst, der eine auf umfassender Kenntnis der ungedruckten wie gedruckten Quellen beruhende und die gesamte Forschung zum Thema rezipierende Studie vorgelegt hat, die weniger als Dissertation – die sie ist – denn fast schon als Habilitationsschrift gelten darf. Nur wünscht man sich und ihm, dass er sich künftig in der Kunst des Kürzens und Streichens übt. Denn hier wird viel in der Sache wohlgemerkt Treffendes derart breit bis in die feinsten Einzelheiten und Verästelungen ausgeführt, ja ausgewalzt, dass dem Autor am Ende dabei offensichtlich selbst nicht mehr so recht wohl war, widmet er sein Opus doch Freundin, Eltern und Freunden, »auch wenn (beziehungsweise weil) sie es vermutlich nie lesen werden« (S. 14).

Was bis auf Gutachter, Rezensenten und speziell mit den Konzilien des 15. Jahrhunderts Befasste auch für den Rest der Menschheit gilt; als exemplarischer Beleg für solchen Detailismus mag etwa das Kapitel über die Konvokationsschreiben der Kardinäle und deren Rückdatierungen dienen (S. 240–261). Dass die Gliederung in gleich fünfstelliger Unterteilung einherkommt (z. B. 2.6.1.3.1: Ein »Basistext«; S. 253), dass insgesamt 3469 – durchgezählte – Anmerkungen bewältigt sein wollen und dass das – leider mit einer Fülle kleiner Versehen und Flüchtigkeiten behaftete – Quellen- und Literaturverzeichnis nicht weniger als 80 Seiten umfasst, spricht für sich. Wer kann und soll das alles lesen? Und wird so nicht der Anspruch an künftige Dissertationen in kaum mehr verantwortbare Höhen getrieben?

Andererseits: Ist es nicht von unschätzbarem Vorteil, dass es sie trotz aller heutigen universitären Widrigkeiten nach wie vor gibt: die gelehrte, mit langem Atem geschriebene Grundlagenarbeit, die ihr Thema wohlabgewogen von allen Seiten beleuchtet? Allein die hier gebotene Quellenkunde ist ein Meisterstück der eigenen Aachener Art, hinter dem sich der Florian Eßer von seinem Lehrer Harald Müller vermittelte scharfsinnig-präzise Zugriff eines Ludwig Falkenstein abzeichnet. Das fällt umso positiver auf, als sich im Zuge der Inflationierung von Tagungsbänden im Fach geradezu eine Unkultur von mit heißer Nadel gestrickten Schnellschussopuscula ohne soliden Quellengrund breitmacht. Und wenn es hier nicht weniger als 413 Seiten bedarf, bis überhaupt das Konzil selbst thematisiert wird, bedeutet das keineswegs ein Präludium der theorieüberfrachteten Schwere oder kleinlichen Erbsenzählerei; im Gegenteil zeichnet die Darstellung, allen Überlängen zum Trotz, insgesamt gute Lesbarkeit aus. (Allerdings steht das häufige »in Betreff/Bezug« nicht gerade für stilistische Eleganz.) Natürlich begegnet zwangsläufig vieles schon Bekannte, doch gilt hierfür wie für das Ganze, dass darüber mit einem bislang unerreichten Grad an detaillierter (aber leider auch entsprechend seitenfressender) Genauigkeit gehandelt wird.

In der Sache erfolgt eine Konzentration auf die Ereignisse in Livorno und Pisa; die das Konzil vorbereitenden und durchführenden Kardinäle und nicht die widerstreitenden Päpste Benedikt XIII. und Gregor XII. noch deren eigenen Synoden in Perpignan und Cividale stehen im Zentrum, und auch die europäischen Mächte gewinnen nur in diesem Rahmen Profil. Dabei geht es beileibe nicht (nur) um eine penibel aufgearbeitete Ereignisgeschichte, sondern vor allem um deren neue Bewertung: Aus einer 1407 völlig offenen Situation heraus, in der sich die via concilii keineswegs schon als Königsweg abzeichnete, entwickelten die Kardinäle beider Obödienzen zusammen in höchst pragmatischer Weise den Plan, die unitas ecclesiae über eine unanimitas concilii zu realisieren.

Niemand der guten Willens, sprich: diesen Weg mitzugehen bereit war, wurde ausgeschlossen; die nach Pisa Kommenden fanden sich in der Konzilsaula nach dem einfachen und objektiven Prinzip der Anciennität bzw. des Promotionsdatums platziert. Da den Teilnehmenden auch die Frage der Schuld an der Spaltung eindeutig schien – nach ihnen lag sie allein bei den beiden hartnäckig schismatischen contendentes de papatu –, vollzog sich die Versammlung im Wesentlichen in der Form eines von den Usancen des Konsistorialprozesses geprägten Inquisitionsverfahrens, wobei als Promotor/Richter ein Generalkonzil fungierte, das sich als Repräsentanz der universalen Kirche und damit auch als zuständige Entscheidungsinstanz verstand.

Die für die Einheit erforderliche Einstimmigkeit war eher eine cura posterior, da jeder in die Versammlung Inkorporierte von vornherein um das Ziel der Absetzung beider Päpste bzw. Prätendenten wusste, ja eben deswegen nach Pisa gereist war, was auch – so schon Dieter Girgensohn – das Problem des Stimmrechts nicht allzu gravierend sein ließ. Dennoch trat hier kein monolithischer Block als Tribunal auf den Plan, sondern es zeigten sich, wie Eßer überzeugend herausarbeitet, bei aller Einigkeit im Grundsätzlichen durchaus Dissonanzen in Einzelfragen wie bei der Art des Vorgehens bei der Deposition, sodann beim Modus der Wahl eines neuen Papstes oder auch mit Blick auf die Regelung der Amts- und Pfründenkonkurrenz angesichts bislang zweier Obödienzen und beim großen Thema der Reform, wobei noch vielfacher Druck von außen hinzukam.

Ein wesentlicher Erfolg des Konzils liegt nun darin, dass es als meisterlicher »Influencer« die Deutungshoheit über das Große Schisma weitgehend an sich zu ziehen verstand und die Formen, in denen es seine Sichtweise und seinen Anspruch zum Ausdruck brachte, zum Vorbild für die folgenden Synoden zu Konstanz und Basel wurden, als es erneut hieß, die Absetzung von Päpsten mit unanfechtbarer konziliarer Autorität auf der Grundlage eines ausgeprägten Formbewusstseins durchzuführen. Auch wenn die Einheit erst 1417 definitiv Wirklichkeit werden sollte, hat Pisa doch entscheidenden Anteil daran, dass sich dank seiner Positionsbestimmungen und seines Vorgehens die im Lauf der jahrzehntelangen Spaltung geradezu petrifizierte Blockade zusehends aufzulösen begann, wie auch schon Odilo Engels bemerkte2.

Deutungshoheit und deren Form(en) sind das eine zentrale Anliegen des Autors, ein anderes stellt sein – mir in seiner Entschiedenheit nicht ganz nachvollziehbarer – »Kampf gegen den Konziliarismus« dar. Nach Meinung Eßers setzte Pisa keine konziliare Idee in die Praxis um, vielmehr handelten die Kardinäle bzw. Väter pragmatisch; »theoretisch« wollten sie nur ihr konkretes Agieren in bestimmten Situationen durch begleitende Schriftsätze und Traktate legitimieren lassen. Im Vordergrund standen für sie die klare und für sich sprechende Ordnung und Form einer geschäftsfähigen Versammlung, die dazu keiner neuen Ekklesiologie bedurfte. Moderne Forschung mit ihrem Primat der Theorie unterstellte mithin nach Meinung des Autors den damaligen Zeitgenossen Motive und Intentionen, die diesen selber nicht bewusst waren, wofür Quentin Skinners »Mythology of Doctrines« als Kronzeuge aufgerufen wird (S. 721). Er reduziert Konziliarismus – via concilii hält er angesichts des dominierenden pragmatisch-funktionellen Moments für einen angemesseneren Terminus – also auf einen sich parallel zu den Ereignissen entfaltenden theoretischen Niederschlag.

Spricht aber nicht der über Jahrzehnte hin geradezu überbordende und bis dahin beispiellose »Traktatkrieg« gegen eine Einstufung als bloße Begleitmusik oder sekundären Nebenakt? Und wäre überdies nicht auch eine Begriffsbildung ex eventu völlig legitim, wenn sie die Sache treffend eben auf den Begriff bringt, den im Übrigen Generationen von Forschern wohl kaum gedankenlos übernommen haben dürften, zumal dabei ein allgemeiner Konsens besteht, wieviel Differenzierung und Relativierung dessen Gebrauch erfordert? Zu fragen bleibt auch, warum die zwar als »bahnbrechend« charakterisierten »Foundations of the Conciliar Theory« von Brian Tierney sich hier in eine einzige Anmerkung abgedrängt finden (S. 731f. Anm. 3446)3. Es bliebe doch die Relevanz des von ihm in Gestalt der Kanonistik freigelegten innerkirchlichen Theoriefundus für die konziliare Bewegung zu diskutieren und damit auch die Rolle der Universitätsgelehrsamkeit in Pisa stärker zu reflektieren, die Eßer ja selbst wiederholt aufscheinen lässt (z. B. S. 128f.).

Auch wenn man sich nicht solchen Versuch einer Dekonstruktion des etablierten Konziliarismusbegriffs zu eigen macht und in der Idee des Generalkonzils mehr als eine praktikable strategische und variable Option zur Lösung des Großen Schismas sieht (Eßer spricht übrigens mehrfach auch von den Schismen der Zeit), kann doch kein Zweifel am grundsätzlichen Gewicht seiner Arbeit bestehen, die selbstredend auch zahlreiche Anregungen und Hinweise zu Einzelfragen bietet, so – um nur zwei Beispiele herauszugreifen – zur Möglichkeit der Eruierung weiterer Teilnehmerlisten (S. 510f.) oder zur partiell wohl zu modifizierenden Bewertung der Position des römisch-deutschen Königs Ruprecht von der Pfalz zum Pisanum (S. 338ff. u. ö.).

Sehr vieles, doch bei Weitem nicht alles spricht der Autor an, der deshalb – wie gesagt – seine Darstellung nicht als Kompendium oder Handbuch missverstanden wissen möchte. Er selbst zählt Fehlendes von der Finanzierung des Konzils bis hin zu dessen Bedrohung durch Ladislaus von Neapel-Durazzo auf (S. 481 Anm. 2185); auch finden, bis auf die Hauptakteure, manche europäische Mächte von Skandinavien bis Portugal keine oder kaum Erwähnung. Florian Eßer zielt eben auf anderes; mit seiner Konzentration auf Deutungshoheit und Form(en) hat er allerdings schon ein wichtiges Fundament für die ausstehende Gesamtdarstellung gelegt, die im Übrigen bei einem Autor seiner Generation auch formal ein verändertes Gesicht zeigen dürfte. Schon hier spiegelt sich in den Anmerkungen, was es heißt, in einer neuen, digitalen Welt aufgewachsen zu sein. Nur möge der Verfasser (wie auch der Rezensent selber) fortan berücksichtigen, was in früheren analogen Zeiten an vielen öffentlichen Telefonzellen zu lesen stand: »Fasse dich kurz«.

1 Alle Titel sind im Literaturverzeichnis des vorliegenden Bands aufgeführt.
2 Odilo Engels, Die Obödienzen des Abendländischen Schismas. Kommentar zu Karte 66, in: Hubert Jedin (Hg.), Jochen Martin (Bearb.), Atlas zur Kirchengeschichte. Die christlichen Kirchen in Geschichte und Gegenwart. Aktualisierte Neuausgabe, Freiburg im Breisgau u. a. 1987, S. 51*.
3 Brian Tierney, Foundations of the Conciliar Theory. The Contribution of Medieval Canonists from Gratian to the Great Schism, Leiden u. a. 1998 (zuerst 1955); vgl. auch ders., Reflections on a Half Century of Conciliar Studies, in: Gerald Christianson, Thomas M. Izbicki (Hg.), The Church, the Councils, and Reform. The Legacy of the Fifteenth Century, Washington D. C. 2008, S. 313–327.

Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:

Heribert Müller, Rezension von/compte rendu de: Florian Eßer, Schisma als Deutungskonflikt. Das Konzil von Pisa und die Lösung des Großen Abendländischen Schismas (1378–1409), Wien, Köln, Weimar (Böhlau) 2019, 874 S. (Papsttum im mittelalterlichen Europa, 8), ISBN 978-3-412-51332-0, EUR 120,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71468