Zu den auffälligsten Objekten des an Kunstwerken reichen Lütticher Domschatzes zählt das Schlüsselreliquiar des hl. Hubertus. Hubertus, der zu Beginn des 8. Jahrhunderts den Sitz seines Bistums von Maastricht nach Lüttich verlegte und zum Patron der Stadt wurde, soll diesen aus Messingguss gefertigten Schlüssel, in dessen Griff Späne, angeblich von den Ketten des hl. Petrus, eingeschlossen sind, bei einer Wallfahrt nach Rom vom Papst empfangen haben. Man kann die Späne nicht sehen, aber wenn man den Schlüssel bewegt, dann hört man sie. Es handelt sich also um eine »akustische Reliquie«. Ihr ist diese Untersuchung gewidmet, deren Autor, Philippe George, fast drei Jahrzehnte lang, von 1990 bis 2019, die Domschatzkammer leitete.
Der Schlüssel wurde ursprünglich in der Stiftskirche Saint-Pierre aufbewahrt, die in unmittelbarer Nachbarschaft zur Kathedrale Saint-Lambert gelegen war. In der Krypta von Saint-Pierre hatte man Hubertus nach seinem Tod 727 beigesetzt, bevor man ihn 825 in das Ardennenkloster Andage, das im 11. Jahrhundert das Hubertuspatrozinium (Saint-Hubert) annahm, überführte. Nach der Zerstörung von Saint-Pierre 1811 gelangte der Schlüssel in den Besitz der Lütticher Stiftskirche Sainte-Croix und 2018 schließlich in den Domschatz. Neben dem (viel bekannteren) Hubertuskreuz wurde der Schlüssel zum ikonografischen Attribut des Heiligen und lässt sich etwa auf einem Gemälde von Jacob Cornelisz van Oostsanen (1471‒1533), den »Legendenszenen aus dem Leben des hl. Hubertus von Lüttich«, in der Berliner Gemäldegalerie entdecken.
Die Gewohnheit der Päpste, Fragmente der Petrusketten, die sich im Besitz der römischen Basilika San Pietro in Vincoli befinden, zu verschenken, lässt sich bis ins 5. Jahrhundert zurückverfolgen. Der letzte Beleg stammt aus dem Jahr 1079, als Gregor VII. König Alfons VI. von León einen goldenen Schlüssel, claviculam auream, in qua de catenis beati Petri benedictio continetur, zusandte (MGH Epp. sel. 2, Buch VII, 6, S. 467; JL 5142). Mit der Überreichung dieser Reliquie wollten die Päpste die Bindung des Beschenkten an den hl. Petrus unterstreichen. Die erste Erwähnung des Schlüssels des hl. Hubertus stammt allerdings erst aus der Mitte des 13. Jahrhunderts. In seinen »Gesta« der Lütticher Bischöfe berichtet Aegidius von Orval von einer Pilgerreise des hl. Hubertus nach Rom, von der er secum ferens clavem a beato Petro sibi traditam zurückgekehrt sei (MGH SS 25, Buch II, 21, S. 43). Von nun an ist der Schlüssel in der Lütticher Geschichtsschreibung stets präsent, und auch die beiden Maurinermönche Edmond Martène und Ursin Durand, die sich auf ihrer Bibliotheksreise im frühen 18. Jahrhundert in Lüttich aufhielten, wussten zu berichten, in der Krypta von Saint-Pierre den Schlüssel gesehen zu haben.
Im Unterschied zum Schlüssel ist der Besuch des Heiligen beim Papst bereits vor dem 13. Jahrhundert belegt. In der »Vita Landiberti«, die um 1145 von dem Lütticher Kanoniker Nikolaus verfasst wurde, findet sich die Szene vom Traum des Papstes Sergius, in dem ein Engel ihm das Martyrium Lamberts offenbart und ihm dessen Bischofsstab überreicht, damit er mit ihm Hubertus als Nachfolger investiere (MGH SS rer. Merov. 6, Kap. 16, S. 425). Diese Geschichte betont die enge Rombindung der Kirche von Lüttich, die sich nach den Erschütterungen, die der Investiturstreit ausgelöst hatte, neu zu orientieren suchte. Auch sonst lässt sich Mitte des 12. Jahrhunderts in der Diözese Lüttich eine gesteigerte Verehrung des hl. Petrus feststellen. In diesen historischen Rahmen ist die Entstehung der Legende des Hubertusschlüssels einzuordnen.
Datierte man seinen Griff lange ins 8. Jahrhundert, so vermag Philippe George mit kunsthistorischen Argumenten, die durch die Analyse des Materials gestützt werden, darzulegen, dass der Griff aus der Mitte des 12. Jahrhunderts stammt, während Bart und Halm erst gut 100 Jahre später angefertigt wurden. Es wird kein Zufall sein, wenn sich für die Mitte des 13. Jahrhunderts auch Bauarbeiten an der Kirche Saint-Pierre nachweisen lassen. Der Schlüssel wurde wahrscheinlich zu der Zeit angefertigt, da die Kirche von Lüttich ihre Beziehungen zu Rom stärken wollte. Als man ein Jahrhundert später Bart und Halm erneuerte oder ergänzte, fand die Legende des Hubertusschlüssels Eingang in die Geschichtsschreibung und blieb bis weit in die Neuzeit hinein lebendig.
Das mit zahlreichen Abbildungen von höchster Qualität ausgestattete Buch vermag in jeder Hinsicht zu überzeugen. Es klärt die offenen Fragen zur Geschichte des Hubertusschlüssels und unterstreicht seine Bedeutung für das Selbstverständnis der Lütticher Kirche.
Zitationsempfehlung/Pour citer cet article:
Rolf Große, Rezension von/compte rendu de: Philippe George, La clé-reliquaire de saint Hubert, Namur (La Traversée d’une œuvre) 2019, 80 p., nombr. ill. en coul. (Trésors, 1), ISBN 978-2-9602370-0-9, EUR 18,00., in: Francia-Recensio 2020/1, Mittelalter – Moyen Âge (500–1500), DOI: https://doi.org/10.11588/frrec.2020.1.71473